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Theologie des Menschseins im Zeitalter der Menschenoptimierung

Im Dokument des Transhumanismus (Seite 29-51)

Ein Blick durchs digitale Taschenperspektiv

1.2 Theologie des Menschseins im Zeitalter der Menschenoptimierung

Neben der faktischen, offenkundigen und rasanten Transformation der Welt im Rahmen der digitalen Transformation haben vor allem zwei Gründe zu der vorliegenden Studie und damit zur Überzeugung, dass eine spezifisch systema-tisch-theologische Beschäftigung mit dem Transhumanismus dringend, wichtig und geboten ist, geführt.

Einerseits ist es die zentrale Bedeutung der Auferstehungstheologie für den christlichen Glauben: Dieser Glaube an die leibliche Auferstehung Jesu Christi nötigt die Theologie über die konkrete, soziale, kulturelle, wissenschaftliche, technische und politische Zukunft derjenigen Welt nachzudenken, auf der nicht nur das Kreuz, sondern auch das leere Grab Jesu Christi steht.19 Der christliche Glaube findet sich in seinem Fragen nach der Zukunft der Schöp-fung im Spannungsfeld zwischen der Anwesenheit und Abwesenheit Gottes berufen, die Wirklichkeit zu gestalten und sich also auch mit den technologi-schen Neuerungen der digitalen Transformation zu beschäftigen. Andererseits ist der Transhumanismus selbst ein Zeichen unserer Zeit (vgl. Mt 16,3) und da-mit ein bedeutsames Symptom der imaginativen Tiefenstrukturen und Dyna-19 Vgl. dazu Dürr, Auferstehung des Fleisches, passim, bes. 62–126.

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miken unserer spätmodernen Gegenwartskultur.20 Für die vorliegende Unter-suchung ist die Einsicht leitend, wie zentral dabei die Imaginationen sind, die sich auf der Ebene intuitiver Plausibilitäten eines präreflexiven Lebensgefühls der Menschen von heute vollziehen. Wie sich das alltagsweltliche Leben anfühlt und zugleich welchen Bezug zur Wirklichkeit jemand durch den praktischen und technischen Umgang mit ihr in der Gestalt von Erfahrungswissen gesam-melt hat, ist entscheidend für die Plausibilität von theoretischen Annahmen und Glaubensaussagen über die Wirklichkeit. Die zum Teil sogar inkohärenten und logisch inkompatiblen impliziten Annahmen und Stimmungen menschli-cher Imagination bestimmen dabei mit, was explizit ausformulierte Überzeu-gungen, Glaubensaussagen und Theorien überhaupt bedeuten können und ob ihnen intellektuelle Plausibilität und existenzielles Gewicht zukommen. Die Faszination für den Transhumanismus ist für viele Menschen dermaßen groß, weil er den elementaren Tiefenimaginationen, die heutzutage viele Menschen über die Wirklichkeit haben, grundsätzlich entspricht. Im Transhumanismus wird explizit und teils provokativ auf die Spitze getrieben, was als Tendenz und logische Konsequenz des gegenwärtig dominierenden (technologischen) Zeitgeistes unausgesprochen, implizit und zumeist unreflektiert angelegt ist.21 Es geht hier um den „imaginativen Hintergrund“ der technisierten Gegenwart, das Gefüge intellektueller Plausibilitäten, affektiver Intuitionen und unhinter-fragter Selbstverständlichkeiten einer Generation, in deren Erlebnishorizont aufkommende und als bedeutsam deklarierte Probleme kontinuierlich im Ver-lauf der Zeit durch Wissenschaft, Medizin und Technik gelöst werden konnten.

Dabei halten sich im Blick auf den Transhumanismus reale technologische Neuerungen und die transhumanistischen Mythenbildungen und Legenden zur Deutung dieser Entwicklungen und ihrer Extrapolation in die Zukunft in etwa die Waage.22

20 Zu diesem Abschnitt vgl. Dürr, Umstrittene Imagination, 55–57; 73–79.

21 Vgl. Dürr, Friede, 557–583. Zu denken wäre hier an Megatrends, die unter den Schlag-worten „Individualismus“, „Authentizität“, „Selbstentfaltung“, „absolute Freiheit“ des einzelnen Menschen, aber auch „Gesundheit“, „naturwissenschaftliche Rationalität und Gewissheit“, „Fortschritt“, „Technisierung“ und „Digitalisierung“ und jüngst „Singula-risierung“ thematisiert werden (zu Letzterem vgl. Reckwitz, Gesellschaft der Singulari-täten, passim [vgl. Abschnitt 8.2.1]).

22 Vgl. Huberman, Transhumanism, 10 f. James Herrick schreibt dazu: „Crafting and pro-pagating a compelling future-vision is an undertaking that, when accomplished with rhetorical skill, affords proponents (of transhumanism) a degree of cultural influence out of proportion to their actual numbers“ (Herrick, Technological Transcendence, 4).

Damit ist bereits angedeutet, dass die folgende Kritik sich in weiten Teilen eher auf die

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Dadurch entsteht für den Menschen in der Gegenwart ein technophiles Lebensgefühl, ein instrumenteller Weltbezug und darüber hinaus auch eine veritable ökonomisch-politische Ideologie, die Evgeny Morozov treffend als

„technologischen Solutionismus“ (technological solutionism) bezeichnet.23 Damit ist die Vorstellung bezeichnet, dass letztlich alle komplexen sozialen Herausforderungen auf klar definierbare Probleme rückführbar und deshalb prinzipiell technologisch lösbar (oder zumindest optimierbar) seien. Für diese

„Lösung“ der Probleme müssen aber – so die Logik des technologischen So-lutionismus – die entsprechenden Technologien auch verfügbar sein. So wird in unserer solutionistischen „Optimierungsgesellschaft“24 sowohl der gegen-wärtige Imperativ zum wissenschaftlich-technisch-medizinischen Fortschritt als auch dessen imaginative quasi-normative Legitimität nachvollziehbar, die sämtliche Einwände unterminieren. Umgekehrt erschließt sich daraus auch die emotionale Empörung gegenüber Gegnerinnen bzw. Kritikern dieses wahr-genommenen Fortschritts. Insgesamt will die Imagination des spätmodernen Menschen, mit Walter Benjamin gesprochen, dabei „nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben.“25 Denn was oft in einem allgemeinen Sinn als Fortschritt gehandelt wird, ist bei näherem Hinsehen, wie Günter Ropohl bemerkt, zunächst einmal „bloße

transhumanistische Deutung technologischer Entwicklungen und Möglichkeiten und auf seine Pläne zum Einsatz dieser Technologien bezieht als auf sie selbst. Freilich wird zum Teil auch und gerade die innere Dynamik und Ambivalenz von Technologien kritisch beleuchtet (vgl. Kapitel 6).

23 Zu Begriff und Kritik des „technological solutionism“ vgl. Morozov, Save Everything, passim, bes. 5–9, hier: 5.

24 Ich übernehme den Begriff von Dierk Spreen und Bernd Flessner, nach denen sich eine „Optimierungsgesellschaft“ dadurch auszeichne, „dass die Normalität zum Ge-genstand verbessernder Eingriffe wird“ (Spreen / Flessner, Kritik des Transhumanismus, 7–11, hier: 9). Evgeny Morozov sieht genau hierin die Problematik des technologischen Solutionismus: „It’s not only that many problems are not suited to the quick-and-easy solutionist tool kit. It’s also that what many solutionists presume to be ‚problems‘ in need of solving are not problems at all; a deeper investigation into the very nature of these ‚problems‘ would reveal that the inefficiency, ambiguity, and opacity – whether in politics or everyday life – that the newly empowered geeks and solutionists are ral-lying against are not in any sense problematic. Quite the opposite: these vices are often virtues in disguise. That, thanks to innovative technologies, the modern-day solutionist has an easy way to eliminate them does not make them any less virtuous“ (Morozov, Save Everything, 6 [eigene Herv.]).

25 Benjamin, Begriff der Geschichte, 699.

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Technisierung“.26 Deshalb gilt: „Welche Beiträge die Technisierung zu den an-deren Elementen der Fortschrittsidee leistet, muss von Fall zu Fall gründlich untersucht und mit Bedacht entschieden werden.“27

Fügt man dem „technologischen Solutionismus“ noch eine evolutionisti-sche Weltdeutung hinzu, dann entspricht das Resultat passgenau der Philoso-phie des „technological fix“, wie sie in den 1960er Jahren im Rahmen der „neu-en“ und „positiven Eugenik“28 aufgekommen ist.29 Es wird sich zeigen, dass sich die Vorstellungen des zeitgenössischen Transhumanismus nicht zuletzt aus den Ideen dieser Bewegung speisen.30 Zu ihren prominenten Begründern

26 Ropohl, Technologische Aufklärung, 252.

27 Ropohl, Technologische Aufklärung, 252 f.

28 Mit „positiver Eugenik“ ist hier zunächst einmal „die Verbesserung des Erbguts durch züchterische Maßnahmen“ gemeint, die „auf Werte wie höhere Intelligenz, bessere körperliche Konstitution, Schönheit oder rassische Reinheit“ zielt (Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene, 16). Dieses letzte explizit rassische Element tritt im zeit-genössischen Transhumanismus in den Hintergrund. Was aber bleibt, ist die Tendenz,

„Lebenswertigkeiten“ anhand von anderen Kriterien zu definieren, die sich in einem zweiten Schritt dann doch wieder als eugenisches Unterscheidungskriterium konkre-tisieren – entweder zwischen verschiedenen Menschengruppen in der Gestalt eines Elitismus oder innerhalb jedes einzelnen Menschen und der menschlichen Natur in der Gestalt einer Abwertung der eigenen Körperlichkeit, Biologie oder Endlichkeit (vgl.

Teil II).

29 Eine erste Einsicht in diese Bewegung bietet der Sammelband, der dem CIBA-Sympo-sium „Man and His Future“ 1962 in London entstammt (vgl. Wolstenholme [Hrsg.], Man and His Future, passim; vgl. dazu Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene, 646–652, hier: 648).

30 Vgl. dazu Heil, Mensch als Designobjekt, 77 f; Koller, Eugenik, passim, bes. 164–169.

Auch wenn die vorliegende Studie den Ansatz von Jürgen Habermas’ Kritik nicht unbe-dingt teilt und nicht davon überzeugt ist, dass dezidiert jenseits religiöser und metaphy-sischer Überzeugungen die „Prämissen der Vernunftmoral und der Menschenrechte“

allein ausreichen, um die Menschen der Gegenwart zum willentlichen Festhalten „am binären Code von richtigen und falschen moralischen Urteilen“ zu bewegen und den

„affektive[n] Widerstand gegen eine befürchtete Veränderung der Gattungsidentität“

im Zeitalter des Trans- und Posthumanismus zu rechtfertigen, geschweige denn zu plausibilisieren, ist es dennoch dessen Verdienst, den Fokus der jüngeren Debatte auf das Faktum zu lenken, dass hier mit den Vorstellungen einer „liberalen Eugenik“ ge-spielt wird (vgl. Habermas, Zukunft, passim, hier: 125; vgl. auch Agar, Liberal Eugenics, 137–155). Ein gutes Beispiel der positiv wahrgenommenen Rezeption eugenischer An-liegen im zeitgenössischen Transhumanismus ist die als Manifest geschriebene Mono-graphie von Steve Fuller und Veronika Lipińska (vgl. Fuller / Lipińska, Proactionary Imperative, passim, bes. 62–98).

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gehörte auch der moderne Namensgeber des Transhumanismus, Julian Hux-ley (vgl. Abschnitt 3.3.2). Dessen Vision eines „evolutionary humanism“ bzw.

„transhumanism“ antizipiert eine durch die neuartigen humanbiologischen Möglichkeiten des „genetic engineering“ ermöglichte, aktive Steuerung der menschlichen Evolution.31 Für Huxley steht die Menschheit (in den 1960er Jah-ren) am Rande gewaltiger Umwälzungen hin zu einer „self-conscious evolu-tion“ als „self-correcting cybernetic process“.32 Diese Umwälzung versteht er als Aufgabe und sieht darin den Sinn und das Ziel einer menschlichen Existenz, die sich nicht mehr mit althergebrachten Traditionen, religiösen Systemen und ihrem Menschenbild abfinden kann und will:33

„To me, it is an exciting fact that man, after he appeared to have been dethroned from his supremacy, demoted from his central position in the universe to the status of an insignificant inhabitant of a small outlying planet of one among millions of stars, has now become reinstated in a key position, one of the rare spearheads or torchbearers, or trustees – chose your metaphor according to taste! – of advance in the cosmic process of evolution.“34

In dieser von traditionellen religiös-metaphysischen Intuitionen befreiten und dafür evolutionär-technokratisch imaginierten Welt wird für Huxley die eu-genische Optimierung des Menschen zur Selbstverständlichkeit, ja sogar zum

„moral imperative“.35 Er schreibt:

„All the objections to a policy of positive eugenics fall to the ground when the sub-ject is looked at in the embracing perspective of evolution, instead of the limited perspective of population genetics or the short-term perspective of existing socio-political organization. Meanwhile the obvious practical difficulties in the way of its execution are being surmounted, or at least rendered surmountable, by scientific discovery and technical advance.“36

31 Vgl. Huxley, Essays of a Biologist, xxi.

32 Huxley, Future of Man, 5; 21.

33 Das Verhältnis von Julian Huxley zur Religion bzw. zum christlichen Glauben wird andernorts ausgeführt (vgl. Abschnitt 3.3.2).

34 Huxley, Future of Man, 21 f.

35 Vgl. Huxley, Eugenics, 184; vgl. dazu Lorenz, Menschenzucht, 321.

36 Huxley, Eugenics, 184.

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Aus der Verschränkung eines evolutionistischen Weltbildes und wissenschaft-lich-technischer Fortschritte ergibt sich für Huxley die Selbstverständlich-keit einer positiv eugenischen Politik. Peter Weingart, Jürgen Kroll und Kurt Bayertz fassen in ihrer Geschichte der Eugenik die Problematik dieser gene-tisch-eugenischen Bewegung folgendermaßen zusammen:

„Sie deklarierte sich als ‚reine‘ Forschung, überschritt aber die Grenze zur Technik mit propagandistischen Nomenklaturen und später auch mit einer aggressiv be-triebenen Kommerzialisierung. Zugespitzt: Die modernen Genetiker trugen zu der Politisierung ihrer Disziplin (etwa ab Mitte der sechziger Jahre) aufgrund desselben Fehlers bei, den sie den alten Eugenikern zum Vorwurf gemacht hatten. Wieder einmal versprachen sie mehr, als ihr Wissen ihnen erlaubte, und wieder einmal implizierten diese Versprechen die Übernahme der Verantwortung für die Verbes-serung der Menschheit, diesmal durch den direkten Eingriff in den Vererbungspro-zess der Menschheit, letztlich als die Steuerung der menschlichen Evolution durch rationale Wissenschaft.“37

Dasselbe Urteil gilt in aktualisierter Form auch dem zeitgenössischen Trans-humanismus. Weder dieser Hintergrund der positiven Eugenik als unmittel-barer Kontext für die Konzeption transhumanistischer Ideen noch die hinter-gründigen metaphysischen und imaginativen Annahmen und Überzeugungen dieser Bewegung dürfen vergessen oder ausgeblendet werden, wenn die wis-senschaftlich und technologisch vermittelten Zukunftsvisionen des zeitgenös-sischen Transhumanismus thematisiert werden.38 Weingart, Kroll und Bayertz machen die Aktualität dieser Aussage deutlich:

„Die Faszination der Menschen, Erfahrungen und Gesetze der Tierzüchtung auf die eigene Art zu übertragen, also Menschen zu züchten, hat eine lange Geschichte.

[…] Erstmals in der Menschheitsgeschichte stehen jetzt aber Techniken zur Verfü-gung, die die Züchtung von Menschen im Prinzip und unter Umgehung der ethischen Schranken zu erlauben scheinen.39 Neue Techniken neutralisieren alte moralische Einwände oder ermöglichen es, sie als irrationalen Widerstand abzutun. Die

Ver-37 Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene, 651 f.

38 Zu diesem Kontext der Eugenik vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene, passim; Conrad-Martius, Utopien der Menschenzüchtung, passim. Eine konzise Zusam-menfassung bietet Koller, Rassismus, 41–52; zur Geschichte eugenischer bzw. proto-eugenischer Ideen und Praktiken in der Neuzeit vgl. Lorenz, Menschenzucht, passim.

39 Vgl. auch Lorenz, Menschenzucht, 20.

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besserung der menschlichen Art rückt in den Bereich des Machbaren und in die Nähe des Vertretbaren.“40

Die Sensibilität für das Zusammenspiel von imaginativ-metaphysischem Hin-tergrund und vordergründig explizierten Theorien, ethischen Ansätzen und politischen Programmen eröffnet den Blick auf die „Normalisierungsprozesse“, die sich durch wissenschaftlich-technische Neuerungen einerseits und konti-nuierliche Verschiebungen der Diskursgrenzen andererseits ereignen.41 Maren Lorenz vertritt die These,

„dass zu ihrer Zeit noch nicht mehrheitsfähige Diskurse doch langfristig und grenz-überschreitend durchaus ihre gesellschaftlichen Spuren hinterlassen. Abhängig da-von, wer welche Behauptungen mit welchen Argumenten in den gesellschaftlichen Diskurs einbringt, werden gedankliche Grenzen und kollektive Wertvorstellungen verschoben. Das vorher nicht Denkbare wird sagbar; irgendwann fehlen vielleicht nur die passenden Rahmenbedingungen zur Umsetzung.“42

Diese „passenden Rahmenbedingungen“ reifen im Zeitalter des Transhumanis-mus zunehmend heran. Weingart, Kroll und Bayertz weisen darüber hinausge-hend aus, dass das inhaltliche Bestreben einer optimierenden Menschenzucht in seiner Verquickung mit neuartigen Technologien durch ihre Einbettung in die Evolutionstheorie, die mit und im Gefolge von Darwin die Funktion eines Weltbilds erlangt hat, „von einer bloßen Phantasie in eine wissenschaftlich be-gründete operative Strategie“ übersetzt und dabei stets auch politisch in Dienst genommen wurde.43 Dabei darf die Geschichte der Eugenik bzw. eugenischer Programme, und damit die spannungsvolle Geschichte des Verhältnisses von Wissenschaft, Wertung und politischem Gestaltungswillen, keineswegs auf die Zeit des Nationalsozialismus beschränkt werden:44

„Die gängige Fixierung auf die kurze gemeinsame Geschichte von Rassenhygiene und dem ‚Dritten Reich‘ führt zu irrigen Schlussfolgerungen der Art, dass die enge 40 Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene, 15 (eigene Herv.).

41 Vgl. Lorenz, Menschenzucht, passim, hier: 9. Lorenz zeichnet diese Verschiebungen für die frühe Neuzeit nach, ihre Beobachtungen lassen sich mit guten Gründen bis in die Gegenwart extrapolieren.

42 Lorenz, Menschenzucht, 10.

43 Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene, 15.

44 Lorenz spricht hier von der „Zweischneidigkeit des Verhältnisses von Ethik und Wis-senschaft“ (Lorenz, Menschenzucht, 9).

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Verflechtung zwischen der Wissenschaft und dem politischen Kontext ausschließ-lich für diesen Zeitraum gilt. Demgegenüber lässt sich zeigen, dass die Entwicklung der Eugenik ein Prozess ist, in dem sich wissenschaftliche Paradigmen (im weiteren Sinne) und politische Werte gemeinsam entwickeln. Die politisch sanktionierten Werte und die Institutionen, in denen sie zu dauerhaften Erwartungsmustern ge-rinnen, haben ausgrenzende und verstärkende Wirkung auf die Wert- und Hand-lungsangebote wissenschaftlicher Theorien. Diese können ihrerseits herrschende Werte unterhöhlen, neue Wertentscheidungen erzwingen und institutionellen Wandel erzeugen.“45

Dieser Prozess ist auch heute noch nicht abgeschlossen. Er läuft in Gestalt bioethischer Debatten um human enhancement und den Transhumanismus weiter.46

Wichtig ist in diesem Zusammenhang die von Hedwig Conrad-Martius im Blick auf die Folgen des „Sozialdarwinismus“47 präzise formulierte und histo-risch rekonstruierte Beobachtung, dass in einer metaphysisch-atomistischen und evolutionistischen Wirklichkeitsauffassung „ein bloßer Individualismus ohne ganzheitlich organisierte Zusammenfassungen gesellschaftlicher, wirt-schaftlicher, nationaler und übernationaler Art in der Praxis eine politische Unmöglichkeit darstellt.“48 Gerade der Blick auf die Implikationen der hin-tergründigen Imaginationen und sogar der Metaphysik ist dabei erhellend.

Conrad-Martius schreibt:

„Der springende Punkt bleibt die vollständige Negierung metaphysisch begrün-deter Wesenheiten, seien sie naturhafter oder anthropologischer oder sozialer Art.

Der springende Punkt bleibt, dass der Darwinismus ideologisch unabtrennbar mit dem manchesterlichen Liberalismus der gleichen Zeit und deshalb mit dem revolutionären Individualismus des 18. Jahrhunderts und letztlich mit der physi-zistischen Atomisierung der ganzen Natur zusammenhängt, die den Anbruch der Neuzeit charakterisiert. Alle ganzheitlichen Gebilde, welchen Seinsbereichen sie

45 Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene, 22 f.

46 Vgl. Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark, passim.

47 Damit ist hier die zunächst theoretische und später praktische „Übertragung darwinis-tischer Prinzipien auf soziale und staatliche Verhältnisse“ bezeichnet (Conrad-Martius, Utopien der Menschenzüchtung, 13). Zur Vorgeschichte dieser Entwicklung vgl. Lorenz, Menschenzucht, passim.

48 Vgl. Conrad-Martius, Utopien der Menschenzüchtung, 13–58; 283–299, hier: 296.

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immer angehören mögen, werden nur noch als hervorgegangen aus ‚physischer‘

Zusammenwürfelung letzter Elementareinheiten gedacht.“49

Mit dem Aufkommen der Idee einer allgemeinen Entwicklungstheorie als Ver-allgemeinerung der ursprünglich spezifisch biologischen Evolutionstheorie zu einem Evolutionismus wurde, so Conrad-Martius, zugleich auch der „Blick auf das Wesen menschlicher Gemeinschaften als persongetragener Eigenentitäten restlos verbaut“ und dieselben konnten „schließlich nur noch als Entwick-lungsprodukte, im besten Fall tierischer Sozialinstinkte, gesehen werden“.50 Aus dem Blick gerate damit das personale Menschsein „mit objektiv geistigem Selbst- und Weltbewusstsein und auf demselben beruhender Entscheidungs-freiheit“ und „mit objektiv sittlichem Gewissen und allen jenen affektiven Fähigkeiten (der Liebe, des Hasses, der Freude, der Trauer, des Schmerzes, der Angst, der Sorge), die durch objektiv geistige Motivationsgrundlagen von bloßen animalischen Trieben durch einen Wesensabgrund getrennt sind.“51

Wo auch immer in einem atomistisch-evolutionistischen Weltbild, das für das personale und freie Individuum eigentlich keinen Ort kennt, dann die Idee aufkommt, man könne oder müsse der Evolution gleichsam aktiv „auf die Sprünge“ helfen,52 lauert die Gefahr des Totalitarismus (vgl. Teil II, bes.

Kapitel 8).53 Impliziert ist dabei stets die Formulierung von Wertungs- und Qualitätsstandards im Blick auf menschliches Leben, mit denen stets auch die Etablierung einer definitionsmächtigen Gruppe von wissenschaftlich kompe-tenten und politisch engagierten Expertinnen und Experten einhergeht, die aufgrund ihrer Qualifikationen allen anderen sagen können, was für sie doch eigentlich das Beste sei.54 Problematisch ist dabei seit je her die damit ein-hergehende Definition des Krankheitsbegriffs selbst: Der Erkenntniszuwachs durch wissenschaftliche Errungenschaften verschiebt die Grenzen dieses Be-griffs und eröffnet dadurch Handlungsspielräume, die durch wertende Ent-49 Conrad-Martius, Utopien der Menschenzüchtung, 287 f.

50 Conrad-Martius, Utopien der Menschenzüchtung, 37 f.

51 Conrad-Martius, Utopien der Menschenzüchtung, 55.

52 Vgl. Conrad-Martius, Utopien der Menschenzüchtung, 48; 286.

53 Vgl. Conrad-Martius, Utopien der Menschenzüchtung, passim, hier: 53: „Mit wach-sender Individualisierung und Atomisierung […] der menschlichen Gesellschaft, mit zunehmendem Verschwinden ‚naturgegebener‘ sozialer Ordnungen tritt auch die zu-nehmende Notwendigkeit vielfältiger technisch-sozialer Organisation der Menschheit unabweisbar hervor und vollzieht sich praktisch von selbst“.

54 Vgl. dazu Lorenz, Menschenzucht, 317–326; vgl. dazu Ausubel / Beckwith / Janssen, Politics of Genetic Engineering, 30–43; Koller, Eugenik, 180 f.

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scheidungen ausgefüllt werden müssen.55 Der einzelne Mensch wird in der Konsequenz entweder in den größeren kosmischen Prozess evolutiven Fort-schritts eingeopfert56 oder dann den von jeweiligen Expertengremien arbiträr gesetzten Programmen und Zielen der Weltgestaltung unterworfen – in beiden Fällen resultiert das genaue Gegenteil der ursprünglichen Anliegen einer Ver-besserung und Stärkung des Individuums.57 Der metaphysisch-atomistische Evolutionismus und die Rettung des Individuums sind unter solchen meta-physischen Voraussetzungen letztlich inkompatibel.

Conrad-Martius beschreibt diese faktische Invertierung ursprünglicher

Conrad-Martius beschreibt diese faktische Invertierung ursprünglicher

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