• Keine Ergebnisse gefunden

Politische Religion als innerweltliche religio

Im Dokument des Transhumanismus (Seite 133-144)

Biopolitische religio: Zur eschatologisch- Zur eschatologisch-politischen Dimension transhumanistischer

Kapitel 4: Biopolitische religio

4.1 Politische Religion als innerweltliche religio

Eric Voegelin sieht in seiner Monographie Die Politischen Religionen von 1938 die verschiedenen Schattierungen dessen, was gemeinhin „Religiosität“15 ge-nannt wird, als geeint in „einer einzigen Dimension des religiösen Erlebnisses, an den Erregungen der Kreatürlichkeit.“16 Kreatürlichkeit bezeichnet hierbei primär die Fraglichkeit des Menschen.17 Voegelin schreibt: „In allen Richtun-gen, in denen die menschliche Existenz zur Welt hin offen ist, kann das um-gebende Jenseits gesucht und gefunden werden: im Leib und im Geist, im Menschen und in der Gemeinschaft, in der Natur und in Gott.“18 Die äußerste Infragestellung des Menschen geschieht freilich im Tod, an dem sich der zeit-genössische Transhumanismus abarbeitet. Das religiöse Jenseits, auf welches sich der Transhumanismus bezieht, ist die technologisch entgrenzte Zukunft.

Die Zukunft ist für den Menschen stets offen und unsicher gewesen. Wirklich gewiss ist seit jeher allein der Tod. Er ist die letztendliche Grenze des mensch-lichen Lebens, weshalb es das Leben im Horizont des Todes zu gestalten gilt.19 Für die Thematik der vorliegenden Studie ist die Einsicht zentral, dass diese für das Leben des Menschen bedeutsame Grenze des Todes in der technisierten Gegenwart von vielen Menschen als skandalös empfunden wird. Die imagina-tive Grammatik menschlichen Daseins hat sich im technologischen Zeitalter der digitalen Transformation tiefgreifend verändert. Im Horizont bio- und in-formationstechnologischer Revolutionen erscheint vielen Menschen der Tod nicht mehr unüberwindbar und in diesem Licht auch nicht mehr akzeptabel.

Vielmehr gilt es, so bringen Transhumanistinnen und Transhumanisten diese kulturelle Vorstellung auf den Punkt, ihn durch die Anwendung neuer Tech-nologien auf den biologischen Körper des Menschen oder durch dessen Cy-15 Zur Problematik einer Definition von Religion überhaupt vgl. Pollack, Was ist Religion?,

163–190.

16 Voegelin, Die politischen Religionen, 16.

17 Vgl. Voegelin, Die politischen Religionen, 15.

18 Voegelin, Die politischen Religionen, 16. Dieses vielgestaltige Suchen und Finden eines Jenseits deutet hier bereits an, dass dieses „Jenseits“ nicht zwingend das „Transzen-dente“ im christlich-metaphysischen Sinne, sondern potenziell alles meinen kann, insofern es als „Transzendenz“ funktionalisiert werden kann.

19 Vgl. dazu Schumacher, Selbstübergabe an Gott, 253–270; Müller, Endlich unsterblich, 48–57. Traditionellerweise wird in religiösen Weltanschauungen alles, was nach dem Tod kommt, ins Register einer postmortalen Transzendenz transponiert und damit der menschlichen Verfügbarkeit entzogen. Das Leben vor dem Tod hat für das Leben nach dem Tod vielleicht Bedeutung, aber diese kann nicht unmittelbar verrechnet werden.

114 Kapitel 4: Biopolitische religio

borgisierung und Digitalisierung immer weiter hinauszuschieben – vielleicht sogar bis ins Unendliche?

In existenzieller Hinsicht ist der Horizont des Sterbens, der bis anhin dem menschlichen Leben als „Dasein zum Tode“20 eine unabwendbare Grenze und damit auch eine Form von Orientierung bot, in der Selbstwahrnehmung des Menschen im technologischen Zeitalter zumindest potenziell bzw. virtuell weggefallen. Hinzu kommt noch eine zweite Entwicklung. Die soeben skiz-zierte, für viele Menschen überhaupt vorstellbare Hinauszögerung des Todes vermittels Technik konvergiert mit dem Umstand, dass der Mensch im moder-nen Westen, wie John Behr schreibt, den Tod nicht mehr sieht:

„[I]n a very real sense, we no longer ‚see‘ death. Until a century or so ago, it was normal to have at least one sibling die in childhood and for one parent to die before one reached adulthood. Their bodies would be looked after at home, laid out in the bedroom or the dining room, tendered and cared for, with friends and neighbors keeping wake, until they were taken to church to be commended to God and in-terred in the earth. Today, however, the bodies are removed as quickly as possible, to the morticians, who prepare the body to be placed under pink lights in the funeral home, so that they appear to be living and that comments might be made such as

‚I’ve never seen him/her looking so good‘. The bodies are increasingly disposed of in crematoriums, with only a few people present, and a ‚memorial service‘ is held, without the person being there (for after all they have ‚left‘ the body behind) in which their ‚life‘ is celebrated. This discarding of the traditional funeral liturgy […]

is perhaps the biggest change in human existence in history.“21

Freilich sterben die Menschen faktisch weiterhin. Aber die schon nur imagi-nierte Möglichkeit unendlichen Lebens alleine gemeinsam mit der zunehmen-den Unsichtbarkeit des Todes führt bereits zu einer entgrenzten Selbstwahrneh-mung des Menschen, und zwar unabhängig davon, ob die transhumanistischen Versprechen einer massiven Verlängerung der menschlichen Lebensdauer konkret realisiert werden können oder nicht. Die Zukunft des Menschen ist noch immer offen, aber nicht mehr so unsicher. Vielmehr ist sie kontrollierbar geworden oder wird es zukünftig einmal werden. Die durch menschliche Tech-nik entgrenzte Zukunft liegt ja als solche gerade im Bereich des menschlich

20 Heidegger, Sein und Zeit, 235–267.

21 Behr, Life and Death, 94; vgl. Becker, Glaube an die Unsterblichkeit, 49–52; Schumacher, Selbstübergabe an Gott, 253–270.

115 Politische Religion als innerweltliche religio

Verfügbaren.22 Es ist diese, für den Menschen zumindest potenziell erreichba-re, innerweltliche Zukunft jenseits des Todes (genauer: diesseits des perpetu-ierlich hinausgezögerten Todes), die vom zeitgenössischen Transhumanismus zum höchsten Gut und heiligsten Ziel verklärt wird. In dieser existenziellen Kampfzone erregter Kreatürlichkeit erscheint dabei die Technik als Medium von Gnade und Erlösung.23 Das Transhumanist FAQ erklärt, wenngleich in gezielt nüchternerem Ton, entsprechend:

„Transhumanism is a philosophical and cultural movement concerned with pro-moting responsible ways of using technology to enhance human capacities and to increase the scope of human flourishing. […] It offers a sense of direction and purpose and suggests a vision that humans can achieve something greater than our present condition. Unlike most religious believers, however, transhumanists seek to make their dreams come true in this world, by relying not on supernatural powers or divine intervention but on rational thinking and empiricism, through continued scientific, technological, economic, and human development. Some of the prospects that used to be the exclusive thunder of the religious institutions, such as very long lifespan, unfading bliss, and godlike intelligence, are being discussed by trans-humanists as hypothetical future engineering achievements.“24

Augenfällig ist die bewusste Übernahme religiöser Aussichten bzw. Möglich-keiten (prospects). Diese sollen nun vermittels Technik als „future engineering achievements“ im wörtlichen Sinne konstruierbar werden.25 Dabei geht es, wie Eric Steinhart schreibt, nicht zuletzt darum, „to replace a religious mystery

22 In diesem Sinne hat Johann Baptist Metz sehr hellsichtig die Entstehung eines neuen Unglaubens in der Gestalt eines Glaubens an die absolute Verfügbarkeit der Zukunft prognostiziert (vgl. Metz, Theologie der Welt, 67). Dabei wird der Glanz des ehemals Überweltlichen transponiert ins Engagement an der Zukunft: „In sie hinein lässt sich der moderne Mensch, der so entzaubert und a-religiös zu sein scheint, immer noch und immer neu überfordern und über sich hinausrufen“ (Metz, Theologie der Welt, 79).

23 Die Idee der technischen Lebensverlängerung wurde zuerst in der Science-Fiction-Literatur massentauglich gemacht und ist dem durch Computertechnologie und In-formatik geprägten Denken zunächst auch ohne explizit religiöse Bezüge gegenwärtig (vgl. Coenen, Transhumanism and Its Genesis, 35–58). Erst in einem zweiten Schritt wird dieser Science-Fiction-Gedanke vom Transhumanismus aufgegriffen und in der Anwendung auf die existenzielle Situation des Menschen religiös funktionalisiert.

24 Humanity+, Transhumanist FAQ 3.0 (eigene Herv.).

25 Vgl. Hopkins, Transcending the Animal, 25 f; Hopkins, Salvation Paradox, 71–80; Ascott, Back to Nature, 440; Sandberg, Transhumanism, 4.

116 Kapitel 4: Biopolitische religio

with techno-scientific intelligibility.“26 In Anlehnung an Max Weber kann gesagt werden, dass hier vor allem die vorgestellte Möglichkeit operativ ist, man könnte, wenn man nur wollte und genügend Zeit und Ressourcen inves-tierte, die spezifischen Ziele prinzipiell bewerkstelligen.27 Die so verstandene

„Entzauberung der Welt“ markiert genau den Übergang zwischen Julian Hux-leys pantheistisch-naturalistischem und dem zeitgenössisch-säkularistischen Transhumanismus, der spätestens nach Fereidoun Esfandiary von einer ganz-heitlich durch Berechnung beherrschbaren Wirklichkeit träumt. Dieselbe Ent-wicklung hat auch Jacques Ellul im Blick, wenn er diese Verschiebung mit der Reflexion imaginativer Dynamiken des lebensweltlichen Umgangs mit Tech-nologie verbindet:

„L’expérience fondamentale de l’homme aujourd’hui est celle du milieu technique (la technique ayant cessé d’être médiation pour devenir le milieu de l’homme) et de la société. C’est pourquoi le sacré qui est en train de s’élaborer dans l’inconscient individuel et dans l’inconscient collectif est lié à la société et à la technique, non plus à la nature.“28

Damit ist auch die Verschiebung von einer vergöttlichten Natur (oder ehemals Übernatur) zu einer vergöttlichten Gesellschaft, Technik und Politik angezeigt, die durch das imaginativ im technischen Milieu verhaftete Leben des moder-nen Menschen bedingt ist.29 Als Elemente von dem, was in der vorliegenden Studie religio genannt wird, bleiben die Ziele von innerweltlichen Weltgestal-tungsprogrammen trotz dieser imaginativen Transformationsprozesse immer noch sakral und religiös aufgeladen:

„[C]’est le pouvoir politique qui en lui-même devient source et incitation d’un sacré nouveau. C’est la société qui devient le champ et le lieu des forces que l’homme

26 Steinhart bezieht sich dabei auf das mind-uploading (vgl. Abschnitt 7.2.1): „Uploading is a secular model of the resurrection […]. Since uploading is technically possible, the resurrection of the body is intelligible. Uploading allows anyone interested in bodi-ly life after death to replace a religious mystery with techno-scientific intelligibility“

(Steinhart, Singularity, 135). Einen theologisch fraglichen Versuch in dieselbe Richtung unternimmt Green, Technology of Holiness, 223–227.

27 Vgl. Weber, Wissenschaft als Beruf, 488.

28 Ellul, Nouveaux Possédés, 89 (Herv. im Original).

29 Vgl. dazu Ihde, Human, 123–135, bes. 125–127.

117 Politische Religion als innerweltliche religio

discerne ou ressent comme sacrées, mais une société qui est devenue technicienne, parce que la technique est devenue le milieu de vie de l’homme.“30

Für Ellul ist dieses neue Heilige (sacré nouveau), das dem menschlichen Leben im Letzten Sinn und Erfüllung gibt, in der Technik vermittelt.31 Erfolg und Überzeugungskraft des Techno-Futurismus werden, wie Hava Tirosh-Samu-elson schreibt, gerade dadurch begünstigt, dass die vermeintlich neutrale Wis-senschaft in der Gegenwartskultur zumeist unreflektiert, aber doch wirksam von solch einer Aura des Heiligen umstrahlt ist.32 Eric Voegelin beobachtet in seiner Analyse der Dynamik religiöser Grunderlebnisse, dass sich in ihnen ein

„Wirkliches“ als „Heiliges“ zu erkennen gibt und dadurch zum Allerwirklichs-ten, zum „Realissimum“, wird.33 Dabei avanciert dieses Allerwirklichste Heilige zugleich zum Allerwichtigsten und innerweltlichen Ersatz für das Göttliche.34 Selbstverständlich gilt im Zeitalter des Transhumanismus als Allerwirklichstes dasjenige, welches die größte Wirkmacht innehat, nämlich die Technik bzw.

die durch Technisierung sakralisierte und vergöttlichte Menschheit. Voegelin schreibt: „Diese Grundwandlung vom Natürlichen zum Göttlichen hat zur Folge eine sakrale und wertmäßige Rekristallisation der Wirklichkeit um das als göttlich Erkannte.“35 In der Technik konvergieren heute also das Heilige und das Wirkliche in einem innerweltlichen Gott. Technisierung ist deshalb sowohl Mittel zum Zweck als auch Selbstzweck. Im Transhumanismus wird, mit Gabriel Marcel gesprochen, „le milieu technique“ zum Modell, nach dem man sich das Universum am liebsten vorstellt, jedoch, so schreibt Marcel, „re-marquons bien que ceci [dieses Modell, OD] ne se limite pas au domaine de l’interprétation, l’intérpretation prend corps, et elle tend à constituer le monde à son image.“36 Jeder weltanschaulichen Imagination entspricht ein Weltgestal-tungsprogramm. In der imaginativen „Logik“ der Technisierung deutet der Transhumanismus die Wirklichkeit instrumentell und funktionalistisch und ordnet sein ganzes Weltbild um die sakral aufgeladene Technik herum. Allein 30 Ellul, Nouveaux Possédés, 89.

31 Vgl. Burdett, Eschatology, 155.

32 Tirosh-Samuelson, Religion, 61.

33 Vgl. Voegelin, Die politischen Religionen, 17.

34 Vgl. dazu auch Ellul, Nouveaux Possédés, 87–114. Robert Geraci argumentiert in affir-mativer Überzeugung dafür, dass die Sakralisierung von virtuellen Welten im cyber-space genau solch eine religiöse Funktion erfülle (vgl. Geraci, Apocalyptic AI, 72–105, bes. 75–79).

35 Voegelin, Die politischen Religionen, 17.

36 Marcel, Déclin de la sagesse, 28 f.

118 Kapitel 4: Biopolitische religio

sie kann in der entgrenzten Zukunft eine technisiert-vergöttlichte Menschheit und die Überwindung des Todes leisten.

Diese Sakralisierung von wissenschaftlichen und technischen Errungen-schaften hat Tradition, lange bevor der moderne Transhumanismus aufkommt.

Ein gutes Beispiel dafür sind die Schriften von William Osler (1849–1919), einem kanadischen Arzt und Medizinhistoriker, den Julian Huxley zumin-dest flüchtig sogar gekannt hat.37 Osler interpretiert in seiner Predigt Man’s Re demption of Man aus dem Jahr 1910 die Entdeckung von Schmerz- bzw.

Betäubungsmitteln als heilsgeschichtliches Ereignis, das den Menschen aus seiner leidgeplagten Existenz ins Reich Gottes gehoben habe.38 Bereits 1904 schreibt er Science and Immortality unter dem Eindruck einer weltbewegenden wissenschaftlich-medizinischen Revolution:

„Within the lifetime of some of us, Science – physical, chemical, and biological – has changed the aspect of the world, changed it more effectively and more permanently than all the efforts of man in all preceding generations. Living in it, we cannot fully appreciate the transformation, and we are too close to the events to realize their tremendous significance.“39

Zu diesen Veränderungen gehören die zunehmende Kontrolle über die physi-sche Welt und ihre Energie, die biologiphysi-sche Revolution und daraus bahnbre-chende Fortschritte im Kampf gegen Krankheiten aller Art.40 Osler schreibt:

„[T]he leaves of the tree of science have availed for the healing of the nations“41 (vgl. Offb 22,2). Die höchste Errungenschaft und wichtigste Frucht moderner Wissenschaften ist für Osler die Entdeckung der Anästhesie. Entsprechend pathetisch beschreibt er deren Geburtsstunde:

„On October 16, 1846, in the amphitheatre of the Massachusetts General Hospital, Boston, a new Prometheus gave a gift as rich as that of fire, the greatest single gift ever made to suffering humanity. The prophecy was fulfilled – neither shall there be

37 Vgl. dazu Dronamraju, To Be Remembered, 32.

38 Vgl. Osler, Man’s Redemption of Man, passim, bes. 5–33.

39 Osler, Science and Immortality, 6. Denselben Eindruck nimmt Osler wieder auf in Osler, Man’s Redemption of Man, 25–29.

40 Osler, Science and Immortality, 6 f.

41 Osler, Man’s Redemption of Man, 29

119 Politische Religion als innerweltliche religio

any more pain; a mystery had been solved by a daring experiment by man on man in the introduction of anaesthesia.“42

Durch die Beherrschung der Natur wurde der Mensch, so schreibt Osler, zum Erlöser des Menschen.43 „The Psalmist will have it“ (Ps 49,7), schreibt er weiter,

„that no man may redeem his brother, but this redemption of his body has been bought at a price of the lives of those who have sought out Nature’s processes by study and experiment.“44 Nach dem antiken Prinzip Divinum est sedare dolorem hat sich hier der wissenschaftlich operierende Mensch im Gebrauch der neuen Betäubungsmittel selbst zu einem Gott gemacht.45 In Oslers reli-giös-aufgeladener Interpretation wissenschaftlich-medizinischen Fortschritts als körperlicher Selbsterlösung des Menschen kündet sich eine Verklärung wissenschaftlicher Techniken der Naturkontrolle an, die bis in die transhuma-nistische Gegenwart fortwirkt. Es ist hier zu bemerken, dass Osler im Zusam-menhang der Entdeckung der Anästhesie neben vielen anderen biblischen Referenzen vor allem das 21. Kapitel der Offenbarung erwähnt (neither shall there be any more pain), den Textabschnitt aber selektiv rezipiert. In der King James Bible, aus der Osler hier zitiert, lautet der ganze Vers folgendermaßen:

„And God shall wipe away all tears from their eyes; and there shall be no more death, neither sorrow, nor crying, neither shall there be any more pain: for the former things are passed away“ (Offb 21,4). Einerseits fällt hier auf, dass Osler Aspekte der eschatischen Wirklichkeit in die Gegenwart holt, denn die „former things“ sind noch nicht vergangen, und doch ist der (körperliche) Schmerz bereits überwunden. Gleichzeitig hat er aber eine wissenschaftliche bzw. medi-zinische Überwindung des Todes (there shall be no more death) noch nicht im

42 Osler, Man’s Redemption of Man, 32 f (eigene Herv.). Osler bezieht sich hier auf William Morton, dessen Experiment (die erfolgreiche Sedierung und Operation eines zwan-zigjährigen Patienten) als Geburtsstunde der modernen Anästhesie verstanden wird (vgl. Schott, Chronik der Medizin, 276); zur Kontroverse um die Zuschreibung dieser Errungenschaft vgl. Desai / Desai, Modern Anesthesia, 410–415.

43 Osler, Man’s Redemption of Man, 8.

44 Osler, Man’s Redemption of Man, 30 f.

45 Gemeint sind hier zunächst Betäubungsgase wie z. B. Schwefeläther, primär aber geht es um das für die Medizin revolutionär gewordene Morphin, das zuerst Friedrich Sertür-ner zwischen 1804 und 1805 aus der bereits bekannten Droge Opium isolieren konnte und nach Morpheus, dem griechischen Gott der Träume, benannt hat (vgl. dazu Meyer, Morphin).

120 Kapitel 4: Biopolitische religio

Blick, wenn er über die Erlösung des Menschen vom Schmerz schreibt.46 Diese prometheische Aufgabe wird erst im Rahmen der innerweltlichen Eschatolo-gie einer technisch-vergöttlichten Zukunftsmenschheit, das heißt konkret: im modernen Transhumanismus, zum zentralen Anliegen gemacht.

Der Transhumanismus bleibt mit seinem Anliegen einer technologisch

„vergöttlichten“ Zukunft des Menschen bewusst oder unbewusst in einer pseudo-sakramentalen Logik verhaftet: Jede Sekunde gesunden Lebens wird für den Transhumanismus funktional heilig, weil das Leben in der innerweltli-chen Perspektive das höchste Gut und die Bedingung der Möglichkeit des Exis-tierens überhaupt darstellt. Weil der Tod in dieser Perspektive das definitive Ende aller Erfahrung des Menschen sein muss, wird die quantitative Lebens-verlängerung zum temporalen Sakrament: Jede bewerkstelligte Verlängerung der Gesundheitsspanne, sei dies auch nur eine einzige dem Tod abgerungene Sekunde, wird hier zum Heilszeichen. Weil im Transhumanismus sowohl Zei-chen als auch Bezeichnetes streng innerweltlich gedacht werden, rückt die ur-sprünglich in der metaphysischen Spannung von immanent-verfügbarer und transzendent-unverfügbar-bleibender Wirklichkeit verortete Sakramentalität in den Bereich des menschlich Machbaren und Verfügbaren.47 Dafür muss je-doch – so wird sich im Folgenden zeigen (vgl. Teil II) – stets das gegenwärtige Leben für die Zukunft des Überlebens geopfert werden. Darin offenbart der Transhumanismus die Schattenseite seiner religiösen Dimension: Religion als Preisgabe der Welt im Hier und Jetzt für die unbekannte Zukunft eines Jenseits (vgl. Abschnitt 10.1; Kapitel 11). Auch in dieser Hinsicht scheint es also ange-messen, den selbstdeklariert „areligiösen“ Transhumanismus als religio und spezifischer noch als „innerweltliche Religion“ zu begreifen. Eric Voegelin un-terscheidet in Die politischen Religionen zwischen „Geistreligionen“48 (mit einer Art metaphysischem Transzendenzbezug) und „innerweltlichen Religionen“49 46 Entsprechend diskutiert Osler auch die Thematik des ewigen Lebens (Immortality)

immer noch im Rahmen eines mehr oder weniger orthodoxen christlichen Glaubens an die Auferstehung der Toten (vgl. Osler, Science and Immortality, 34–44).

47 Hier zeigt sich, inwiefern Joseph Ratzingers Kritik, die zwar der politischen Theologie gilt, sehr wohl den zeitgenössischen Transhumanismus trifft, insofern dieser glaubt, die eschatische Wirklichkeit des Gottesreiches in der Gestalt eines innerweltlichen Surro-gates verfügbar machen zu können (vgl. Ratzinger, Eschatologie, 58 f).

48 „Geistreligionen“ sind solche, die das Realissimum in einem transzendenten Weltgrund finden (vgl. Voegelin, Die politischen Religionen, 17).

49 „Innerweltliche Religionen“ sind solche, die das Göttliche in den Teilinhalten der Welt finden und zumeist jegliche Form metaphysischer Transzendenz leugnen (vgl. Voege-lin, Die politischen Religionen, 17). Robert Geraci versucht genau in diesem Sinne die

121 Politische Religion als innerweltliche religio

(ohne metaphysischen Transzendenzbezug, wohl aber mit innerweltlichen Jenseitsbezügen, die als Transzendenzsurrogate fungieren).50 Entsprechend arbeitet Voegelin eher mit einem funktionalen als mit einem substantiellen Religionsbegriff,51 sodass die Bezeichnung „religiös“ nicht mehr exklusiv an Geistreligionen geknüpft werden muss, die mit einer metaphysisch transzen-denten Dimension der Wirklichkeit rechnen.52 Vielmehr gilt: Wenn dort, wo

Bewegung Apocalyptic AI (die sich mit dem Transhumanismus in vieler Hinsicht über-schneidet) als solche religiöse Bewegung zu etablieren und intellektuell zu legitimieren (vgl. Geraci, Apocalyptic AI, passim, bes. 139–145).

50 Niklas Luhmann versteht als Spezifikum von Religion ihre Differenzierung und Eintei-lung von Wirklichkeit im binären Code von Immanenz und Transzendenz (vgl. Luh-mann, Religion der Gesellschaft, 62 f). Natürlich setzt eine solche Trennung (wie sie Eric Voegelin und Niklas Luhmann je auf eigene Weise einführen) in der Wirklichkeit eine problematische Reifizierung und eine antithetische Konzeption von Transzendenz

50 Niklas Luhmann versteht als Spezifikum von Religion ihre Differenzierung und Eintei-lung von Wirklichkeit im binären Code von Immanenz und Transzendenz (vgl. Luh-mann, Religion der Gesellschaft, 62 f). Natürlich setzt eine solche Trennung (wie sie Eric Voegelin und Niklas Luhmann je auf eigene Weise einführen) in der Wirklichkeit eine problematische Reifizierung und eine antithetische Konzeption von Transzendenz

Im Dokument des Transhumanismus (Seite 133-144)