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Der Transhumanismus als biopolitische Bewegung

Im Dokument des Transhumanismus (Seite 156-169)

Biopolitische religio: Zur eschatologisch- Zur eschatologisch-politischen Dimension transhumanistischer

Kapitel 4: Biopolitische religio

4.3 Der Transhumanismus als biopolitische Bewegung

Es wurde zu Beginn der vorliegenden Untersuchung das Leben des Menschen beschrieben als ein in die Differenz zwischen dem bloßen und einem guten Leben gestelltes. Diese Situation des Menschen muss in der Gegenwart ver-bunden werden mit der Feststellung: Er lebt im Zeitalter der Biopolitik. Michel Foucault hat in La volonté de savoir benannt, worum es hier geht: „L’homme, pendant de millénaires, est resté ce qu’il était pour Aristote: un animal vivant et de plus capable d’une existence politique; l’homme moderne est un animal dans la politique duquel sa vie d’être vivant est en question.“107 Damit ist, wie Giorgio Agamben kommentiert, ein Prozess bezeichnet, in dem man „das natürliche Leben in die Mechanismen und Kalküle der Staatsmacht einzu-beziehen beginnt und sich Politik in Biopolitik verwandelt.“108 In historischer Perspektive, so argumentiert wiederum Foucault, konnte sich diese für die Moderne konstitutive Veränderung erst ereignen, nachdem der Mensch durch eine relative Herrschaft über das Leben einige der Bedrohungen des Todes zu kontrollieren begann.109 Unabhängig davon, wie man Michel Foucaults Thesen zur Biomacht (bio pouvoir) und ihre Rezeption bei Giorgio Agam-ben im Einzelnen bewertet,110 macht ein Blick auf die auch heute immer noch gängigen eugenischen Diskurse, Denkmuster und Gedankenexperimente in der Bioethik, den Medien und den politischen Debatten die Aktualität dieser Fragestellungen und Problemkonstellationen deutlich. Die Diskussion einer

„liberalen Eugenik“ im Allgemeinen und die Anliegen des zeitgenössischen Transhumanismus im Spezifischen machen deutlich, dass die Geschichte der Eugenik und damit das schwierige Verhältnis von wissenschaftlicher Erkennt-nis, medizinisch-technischen Handlungspotenzialen, moralisch-ethischer Wertsetzung und politischem Gestaltungswillen auch heute noch nicht und prinzipiell nie abgeschlossen ist.111 Im Transhumanismus verschärft sich diese 107 Foucault, Volonté de savoir, 188 (eigene Herv.); zur Genese der Biopolitik vgl. Foucaults Vorlesungen am Collège de France von 1978–1979 (Foucault, Naissance de la biopoli-tique, passim).

108 Agamben, Homo Sacer, 12 f; vgl. dazu Foucault, Volonté de savoir, 177–191.

109 Foucault, Volonté de savoir, 186–188.

110 Da beide im Folgenden ausführlicher behandelt werden, wird hier auf eine nähere Definition von „Biopolitik“ verzichtet.

111 Vgl. Weingart / Kroll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene, passim, bes. 22 f.

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grundsätzliche Dynamik noch einmal aufgrund seiner gesteigerten Ziele: dem Versprechen einer Verbesserung des Lebens bis hin zu einer qualitativ opti-mierten Unendlichkeit im Angesicht des Todes oder sogar einer Überwindung des Todes überhaupt. Insgesamt verbleibt er jedoch faktisch im Horizont des bloßen Lebens, weshalb seine eschatologischen Visionen sich stets biopolitisch konkretisieren müssen.

Im Blick auf die zeitgenössische Biopolitik fallen zwei Dinge ins Auge:

Erstens spielen gerade hier wieder die wissenschaftlichen, technischen und medizinischen Errungenschaften der Neuzeit insgesamt und jüngst der bio-technischen und digitalen Revolutionen die zentrale Rolle, sodass gesagt wer-den muss: Wir leben im Zeitalter der technologisch entgrenzten Biopolitik.

Zweitens wird im Lichte der religiösen Deutung und Funktionalisierung dieser Errungenschaften plausibel, dass die biopolitischen Unterfangen implizite re-ligiöse Züge tragen.112 Foucault schreibt:

„Dans l’espace de jeu […] acquis, l’organisant et l’élargissant, des procédés de pou-voir et de sapou-voir prennent en compte les processus de la vie et entreprennent de les contrôler et de le modifier. L’homme occidental apprend peu à peu ce que c’est que d’être une espèce vivante dans un monde vivant, d’avoir un corps, des conditions d’existence, de probabilités de vie, une santé individuelle et collective, des forces qu’on peut modifier et un espace où on peut les répartir de façon optimale. Pour la première fois sans doute dans l’histoire, le biologique se réfléchit dans le politique;

le fait de vivre […] passe pour une part dans le champ de contrôle du savoir et d’intervention du pouvoir.“113

Die staatliche Pflege des Lebens wird von Foucault explizit als politische Substi-tution der ehemals kirchlichen Pastoral gedeutet.114 Die neue Biomacht ist eine säkularisierte pastorale Macht, die sich nicht mehr um das jenseitige, sondern um das innerweltliche „Heil“ der Menschen, das heißt um ihre Gesundheit, 112 Damit soll nicht unbedingt Giorgio Agambens zentraler Einsicht widersprochen

wer-den, dass die Dimension, in welcher die Vernichtung der Juden in Nazideutschland stattgefunden habe, „weder die Religion noch das Recht, sondern die Biopolitik“ war (vgl. Agamben, Homo Sacer, 124). Vielmehr muss angemerkt werden, dass genau die-se biopolitische Dimension immer noch implizit religiös konnotiert ist und sich die Exzesse der modernen Biopolitik auch erhellen lassen durch die Einsicht, dass das biopolitische Projekt insgesamt als Versuch gelesen werden kann, religiöses Heil und Erlösung innerweltlich zu fabrizieren.

113 Foucault, Volonté de savoir, 187.

114 Vgl. dazu Foucault, Le sujet et le pouvoir, 229 f.

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ihr Wohlbefinden, ihren Lebensstandard, ihre Sicherheit und ihren Schutz kümmert.115

Wenn in dieser neuartigen und modernen Politik das Leben des Menschen auf dem Spiel steht, so gilt dies in mehreren Hinsichten noch einmal in beson-derem Maße für den Menschen im Zeitalter des Transhumanismus:116 Erstens steigert sich die Dynamik grundsätzlich, weil die biopolitischen Bestrebungen zunehmend technologisch potenziert werden und damit immer neue Hand-lungsspielräume zur Verfügung stehen – die digitalisierte Überwachungs-industrie liefert dafür ein aktuelles Beispiel.117 Die technisierte „Politisierung des Lebens“118 zeigt sich heute nicht zuletzt auch dadurch, dass „Zeugung, Fortdauer und Beendigung von Lebensprozessen durch biotechnologische und medizinische Innovationen einer bislang unbekannten Sichtbarkeit un-terworfen und Entscheidungsprozessen zugänglich sind.“119 Zweitens muss von einer Potenzierung gesprochen werden, weil im transhumanistischen Anliegen der Immortalisierung des Menschen die biopolitisch-technologische Regulie-rung, Modifizierung und Optimierung seines Lebens eschatologisch zugespitzt wird. Dabei ist in Anlehnung an Michel Foucault zu befürchten, dass sich der von Transhumanistinnen und Transhumanisten in dieser Weise propagierte 115 Foucault, Le sujet et le pouvoir, 229 f.

116 Diese These soll im Folgenden weiter erprobt und ihre Implikationen ausgelotet wer-117 Vgl. dazu Zuboff, Age of Surveillance Capitalism, passim; Hoff, Transhumanismus, den.

241–243. Ein gutes Beispiel sind die Methoden, welche die chinesische Regierung bei der Internierung von Uiguren in der Provinz Xinjiang anwendet, wo Technologien der Massenüberwachung mit Hilfe eines Algorithmus ausgewertet und zu Internierungen in Umerziehungslagern führen können (vgl. Allen-Ebrahimian, Arrest by Algorithm).

Auch die Vereinigten Staaten von Amerika bedienen sich in anderen Zusammenhän-gen einer massiven Überwachungsinfrastruktur (vgl. Spiekermann, Digitale Ethik, 14 f).

Zur Verschränkung von Sicherheit und Überwachung im modernen „Überwachungs-staat“ vgl. die polemische Thematisierung bei Trojanow / Zeh, Angriff auf die Freiheit, passim, bes. 11–142; Hofstetter, Ende der Demokratie, passim, bes. 108–458; zur Debatte über einen „Technologischen Totalitarismus“ im Kontext der politischen Folgen der Digitalisierung vgl. Schirrmacher (Hrsg.), Technologischer Totalitarismus, passim. Im Lichte der COVID-19-Pandemie haben sich diese Dynamiken noch einmal verschärft (vgl. exemplarisch Khalil, Digital Authoritarianism).

118 Zur „Politisierung des Lebens“ vgl. Agamben, Homo Sacer, 127–134. Agamben über-nimmt die Wendung von Karl Löwith, der über eine „totale Politisierung aller, auch der scheinbar neutralsten Lebensgebiete“ (Löwith, Dezisionismus von C. Schmitt, 33) im Marxismus, Faschismus und Nationalsozialismus schreibt.

119 Lemke, Biopolitik, 81.

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Imperativ zur Sicherung, Erhaltung und Entwicklung des Lebens faktisch als Kehrseite eines Rechts über den Tod zeitigt, das sich gerade auf die Erforder-nisse einer Macht stützt, die das Leben verwalten und bewirtschaften, fördern und erweitern soll. Jede biopolitische Ordnungsmacht steht in der Spannung zwischen Leben und Tod, und die ihr innewohnende „Gewalt“, so argumentiert Jörg Baberowski, „verschwindet nicht, nur ihre Intensität und Formen verän-dern sich. […] Was sich heute in seiner Friedfertigkeit zeigt, kann morgen schon seine hässliche und gewalttätige Seite offenbaren.“120 Nicht zuletzt einer derartigen bipolaren Dynamik sieht Foucault die großen Massaker der letzten beiden Jahrhunderte geschuldet:

„Jamais les guerres n’ont été plus sanglantes pourtant que depuis le XIXe siècle et, même toutes proportions gardées, jamais les régimes n’avaient jusque-là pratiqué sur leurs propres populations de pareils holocaustes. Mais ce formidable pouvoir de mort – et c’est peut-être ce qui lui donne une part de sa force et du cynisme avec lequel il a repoussé si loin ses propres limites se donne maintenant comme le complémentaire d’une pouvoir qui s’exerce positivement sur la vie, qui entreprend de la gérer, de la majorer, de la multiplier, d’exercer sur elle des contrôles précis et des régulations d’ensemble.“121

Für Agamben ist es „die radikale Transformation der Politik in einen Raum des nackten Lebens“, die der von Foucault umschriebenen Ambivalenz zugrunde liegt und „welche die totale Herrschaft legitimiert und notwendig gemacht hat.“122 Der Transhumanismus erklärt nicht nur die Politik, sondern darüber hinaus und besonders auch alle anderen Lebensbereiche zum Schlachtfeld für seinen Kampf gegen den Tod. Die Rettung des endlichen Lebens aus den Fän-gen des Todes erfordert dabei, unter den Vorzeichen der immanentistischen 120 Baberowski, Räume der Gewalt, 75 f. Baberowski schreibt eine Geschichte der Gewalt, die deren Metamorphosen mit Blick auf ihre zugrunde liegende Kontinuität in den historischen Prozessen ihrer Zivilisierung und erneuten Entgrenzung nachzeichnet (vgl. dazu Baberowski, Räume der Gewalt, passim, bes. 44–109). Über den inneren Zusammenhang von Ordnung und Gewalt schreibt er an anderer Stelle: „Ordnung ist eine Voraussetzung, um Gewalt einzudämmen, die Gewalt ein Mittel, Ordnung aufrechtzuerhalten. Macht und Gewalt sind keine Gegensätze. Sie sind vielmehr zwei Seiten ein und desselben. Die Ordnung schützt uns vor der Gewalt, aber nur deshalb, weil sie jederzeit durch Gewalt erzwungen werden kann“ (Baberowski, Räume der Ge-walt, 213).

121 Foucault, Volonté de savoir, 179 f.

122 Agamben, Homo Sacer, 128.

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Ontologie des Transhumanismus, eine absolute Kontrolle der Wirklichkeit. So begründet der Transhumanismus, unabhängig davon, ob er sich dies eingesteht oder nicht, mit seinen Zielen zugleich auch die Legitimität einer letztlich ins Totalitäre drängenden biopolitischen Ordnungs- und Organisationsmacht.

Trotzdem möchten sich die meisten Transhumanistinnen und Trans-humanisten als liberale, wenn nicht sogar libertäre Aktivisten verstanden wis-sen. Deshalb muss die hier beschriebene totalitäre Gewalt der Biomacht im Transhumanismus – freilich unter den Vorzeichen der zumeist demokratisch verfassten und individualistisch-libertären Gegenwartskultur – in veränder-ten Formen auftreveränder-ten.123 Damit die beiden widersprüchlichen Anliegen einer propagierten subjektiven Selbstgestaltungsfreiheit und der dazu notwendigen kollektiven Verfügbarkeitsgewalt zumindest scheinbar kompatibel werden, wird Letztere (1) unsichtbar gemacht und gleichzeitig (2) vom spätmodernen Menschen zunehmend internalisiert:

(1) Das menschliche Leben in der Gegenwart ist, wie Agamben schreibt, einer nie dagewesenen Gewalt ausgesetzt, die aber in den banalsten und pro-fansten Formen auftritt.124 Diese Gewalt wird dadurch zunehmend unsicht-bar.125 Ein subtiles Beispiel der Formen dieser „unsichtbaren Gewalt“ ist der schleichende und unauffällige „Technologiepaternalismus“.126 Aus „Sorge um die Menschen“ werden von wohlmeinenden Tech-Startups neuartige Gad-gets entwickelt, die jedoch faktisch als digitale Überwachungs- und Auto-matisierungstechnologien zunehmend alle Lebensbereiche dieser Menschen durchdringen und ihre Freiheiten systematisch einschränken. Immer mehr Entscheidungen werden dem Menschen heute unfreiwillig abgenommen: So

123 Reinhard Heil spricht im Blick auf die liberale Eugenik des Transhumanismus, dass hier eine „Form der systemischen Gewalt, die Staatsgewalt […], einfach durch eine andere Form systemischer Gewalt, die des Marktes bzw. der Leistungssteigerungsgesellschaft, ersetzt“ wird (Heil, Mensch als Designobjekt, 77 f). Diese These wird im Folgenden erläutert. Dennoch muss hier schlicht vorausgesetzt und im zeitkritisch-beobachten-den Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen dargestellt werzeitkritisch-beobachten-den, was weiter unten ausführlich argumentiert wird: Dass das transhumanistische Versprechen individu-eller Freiheit in einem liberalen oder gar libertären Sinn aufgrund strukturindividu-eller und systemischer Dynamiken der Technisierung und Politisierung des Lebens letztlich in einen totalitären Techno-Kollektivismus umschlägt, der sich nur mehr oberflächlich im Gewande individueller und gemeinschaftlicher Weltgestaltungsfreiheiten präsentiert (vgl. Kapitel 6–9).

124 Agamben, Homo Sacer, 124.

125 Vgl. Baberowski, Räume der Gewalt, 110–132; 201 f.

126 Vgl. dazu Spiekermann / Pallas, Technologiepaternalismus, 311–323 (vgl. Abschnitt 6.2.3).

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wird beispielsweise im Rahmen des sogenannten Internet der Dinge denkbar, dass Autos sich nicht mehr fahren lassen, wenn Geruchssensoren messen, dass eine Autofahrerin Alkohol konsumiert habe, eine Kaffeemaschine macht nur noch koffeinfreien Kaffee für jemanden, der ein schwaches Herz hat, usw.127 Mit derartigen Technologien wird jedoch über die Möglichkeiten des Lebens-schutzes hinaus ein weites Feld an möglichen Anwendungen denkbar, die der neuen Biomacht verfügbar werden.128 Deren Gewaltdynamiken werden nicht nur unsichtbar, sondern zugleich auch diffuser.129 Sie zerfließen beispielswei-se zwischen kurativer Physiotherapie, Muskel- und Ausdauertraining für die generelle Gesundheit, Krankenkassenprämienpreisen, Fitness- und Ernäh-rungsindustrien, Optimierungsdruck, Übervölkerungsdiskursen, eugeni-schen Bestrebungen in der Bioethik, Fortschrittsglauben und nicht zuletzt auch explizit trans- und posthumanistischen Programmen. Im Hintergrund steht hier die biopolitische Frage, an welche natürlichen oder eben artifiziellen Voraussetzungen die Gewährung politischer und sozialer Rechte gebunden sein soll.130 Die Antwort darauf ist paradox, denn die Menschen von heute werden zwar immer mehr auf ihr nacktes und manipulierbares Leben im Sinne einer Biomasse reduziert, aber gleichzeitig sind sie als Lebewesen auch der ein-zige Legitimitätsgrund derjenigen Biomacht, die sie zu ihrem eigenen Wohle beherrscht und manipuliert. Entsprechend existieren sie in einer paradoxen Sakralität, der Agamben in Homo sacer nachspürt. So finden sich die mitunter menschenverachtendsten Aussagen in transhumanistischen Visionen über die evolutiv-technische Vergöttlichung des Menschen.131 Agamben schreibt, dass 127 Vgl. Spiekermann, Digitale Ethik, 249–252.

128 Vgl. Christl / Spiekermann, Networks of Control, passim, bes. 11–138. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der breitflächige Einsatz von Drohnen, Robotern und Software zur Erkennung von Gesichtern, Körpertemperatur usw. in China. Obwohl die chinesi-sche Regierung diese Technologien natürlich zur Eindämmung und Bekämpfung des Corona-Virus (SARS-CoV-2, der die Krankheit COVID-19 verursacht) einsetzt, ist ab-sehbar, dass auch nach dem Abflachen einer Gefahr durch den Virus die Technologien dennoch im Einsatz bleiben werden (vgl. Kharpal, Mass Surveillance Machine; Khalil, Digital Authoritarianism).

129 Agamben, Homo Sacer, 128.

130 Vgl. dazu Lemke, Biopolitik, 67; Agamben, Homo Sacer, 145–153.

131 Es bestätigt sich hier im Transhumanismus nur eine Tendenz, die Giorgio Agamben bereits kommentiert hat: „[I]n den modernen Demokratien ist es möglich, öffentlich zu sagen, was die nazistischen Biopolitiker nicht zu sagen wagten“ (Agamben, Homo Sacer, 174). Ein gutes Beispiel dafür ist der gesamte positiv-eugenische Diskurs der jüngsten Zeit; aus explizit transhumanistischer Perspektive: Fuller / Lipińska, Proactionary Im-perative, passim, bes. 62–98.

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„Heiligkeit“ zwar „eine noch immer präsente Fluchtlinie in der gegenwärtigen Politik“132 ist, aber diese Heiligkeit „bewegt […] sich in zunehmend vagere und dunklere Zonen, um schließlich mit dem biologischen Leben der Bürger selbst zusammenzufallen“.133 Er kommt deshalb zur Vermutung: „Wenn es heute keine vorbestimmbare Figur des homo sacer mehr gibt, so vielleicht deshalb, weil wir alle virtuell homines sacri sind.“134 In transhumanistischer Perspektive könn-te diese Aussage vielleicht dahingehend ausgeführt werden, dass der Mensch von heute gleichsam zum homo sacer des homo novus, des neuen Menschen von morgen, gemacht wird. Das aber bedeutet: Der technologisch vergöttlichte Mensch wird im Lichte der technologischen Zukunft gleichzeitig zum Mittel ihrer Realisierung und damit auch zur manipulierbaren Biomasse. In dieser Perspektive wird der Mensch wirklich sacer, das heißt, wie Agamben schreibt, tötbar, aber nicht opferbar, und zwar in einem spezifischen Sinne: tötbar ist der Mensch, weil er ohnehin nur eine evolutiv kontingente und temporäre Erscheinung ist und für die nächste Stufe evolutionären Lebens überwunden und abgeschafft werden kann. Nicht opferbar ist der Mensch hingegen, weil er als autonomes Subjekt im Sinne des zeitgenössischen Liberalismus eigent-lich nicht mehr für kollektivistische Programme vereinnahmt werden darf – zumindest darf er dies im Sinne des Transhumanismus nicht gegen seinen eigenen Willen. Damit ist eine Inkohärenz der transhumanistischen Agenda umrissen, die nur im Blick auf dessen imaginativ-metaphysischen Hinter-grund deutlich wird: Überleben und Freiheit eines einzelnen Subjektes sind letztlich nicht mit einem evolutionistischen Weltbild kompatibel, das dieses Subjekt als Produkt evolutiver Prozesse versteht, die gänzlich auf Interaktio-nen von atomistischen Kleinstpartikeln und ihr Zusammenspiel von Zufall und Notwendigkeit reduzierbar sind. Da für den einzelnen Menschen eine Freiheit ohne Überleben nicht denkbar ist, fokussiert der Transhumanismus auf das Überleben, das jedoch in einer evolutionistischen Welt nur durch die Kontrolle und Steuerung des evolutiven Weltprozesses überhaupt vorstellbar wird. Deshalb muss der inneren Logik des Transhumanismus folgend letzten Endes die Freiheit des Individuums für sein Überleben geopfert werden (vgl.

Abschnitt 6.3; 8.2.3).

132 Agamben, Homo Sacer, 124.

133 Agamben, Homo Sacer, 124.

134 Agamben, Homo Sacer, 124; zur Figur des homo sacer bei Agamben vgl. Agamben, Homo Sacer, passim, bes. 81–126. Agamben sieht im tötbaren, aber nicht opferbaren, das heißt im nackten Leben des homo sacer das eigentliche Subjekt der Moderne, der rechtlich ungeschützte und dem Souverän absolut verfügbare Grund politischer Macht.

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(2) Damit klingt bereits die zweite Modifikation zeitgenössischer Formen der Biomacht an: ihre Gewaltdynamiken werden vom Menschen zunehmend internalisiert.135 Giorgio Agamben schreibt entsprechend: „Das nackte Leben ist nicht mehr an einem besonderen Ort oder in einer definierten Kategorie eingegrenzt, sondern bewohnt den biologischen Körper jedes Lebewesens.“136 So verläuft in der spätmodernen Gegenwart die Demarkationslinie zwischen dem nackten Leben und der politischen Existenz, das heißt: zwischen dem Leben, das abgeschafft und überwunden werden darf, und demjenigen, das dadurch gereinigt, erhalten und gesteigert werden soll durch jeden einzelnen Menschen. Deshalb zeitigt sich die Politisierung des Lebens nicht nur in der gigantomanischen Politik der totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts, sondern gerade auch in den von Foucault untersuchten Prozessen der Subjektivierung.

Über die Praktiken dieser Subjektivierungsprozesse, die Foucault „arts de l’existence“ nennt, schreibt er: „Par là il faut entendre des pratiques réfléchies et volontaires par lesquelles les hommes, non seulement se fixent des règles de conduite, mais cherchent à se transformer eux-mêmes, à se modifier dans leur être singulier, et à faire de leur vie une œuvre“.137 Im Transhumanismus gestaltet sich diese transformative, kreative und singularisierende Selbstgestaltung des Menschen als paradoxe und dualistisch anmutende Selbstdisziplinierung.138 Sarah Coakley beurteilt bereits den im Sport oder Ernährungs- und Gesund-heitswesen popularisierten Versuch, über den als widerspenstig empfunde-nen Körper persönliche Kontrolle zu erlangen, als Wiedererweckung einer dualistisch-cartesianischen Anthropologie.139 Es ist ersichtlich, wie dieselbe Dynamik im Transhumanismus bei gesteigertem Einsatz ebenfalls operativ ist. Diese „Selbstdressur“140 des Körpers durch das Subjekt eröffnet den Blick auf ein wahrgenommenes Spektrum an quantitativen Stufungen und

Wertun-135 Vgl. dazu Lemke, Biopolitik, 77 f.

136 Agamben, Homo Sacer, 148 (eigene Herv.).

137 Foucault, Usage des plaisirs, 16 (eigene Herv.). Damit greift Foucault einiges vor, was Andreas Reckwitz in seiner Analyse der Gegenwart ausführt (vgl. Reckwitz, Gesell-schaft der Singularitäten, passim).

138 Vgl. dazu Deane-Drummond, Taking Leave of the Animal, 115–126.

139 Vgl. Coakley, Introduction: Religion and the Body, 2–4; Coakley, New Asceticism, 20–23.

Coakley spricht diesbezüglich vom „dominating ‚paradox‘ of bodiliness“ (Coakley, New Asceticism, 1).

140 Zur Selbstdressur im Zeitalter der Technik, in dem Menschen sich selbst zu funktio-nierenden Maschinen-Wesen machen müssen oder dazu gemacht werden, vgl. Marcel, Déclin de la sagesse, 36 f.

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gen innerhalb des nackten Lebens.141 Diese quantitativen Stufungen werden sodann aber qualitativ aufgeladen und damit zu einer utilitaristisch-eugeni-schen Rekonzeption der scala naturae für das 21. Jahrhundert. Damit besitzen Transhumanistinnen und Transhumanisten (vermeintlich) klare und objektive Standards zur Bewertung menschlichen Lebens, die in ein utilitaristisch ver-rechnetes evolutionäres Fortschrittsnarrativ eingeordnet werden. Gemeinsam mit der Individualisierung biopolitischer Gewaltdynamiken verquickt sich die-se Skala der Lebenswertigkeiten zu einem regelrechten Selbstoptimierungs-zwang. Der Transhumanismus präsentiert diesen Zwang nichtsdestotrotz im Gewande eines Befreiungs- und Fortschrittsnarrativs. Damit wird die funda-mentale biopolitische Struktur der Moderne, das heißt nach Agamben „die Entscheidung über den Wert (oder den Unwert) des Lebens als solches“,142 in

gen innerhalb des nackten Lebens.141 Diese quantitativen Stufungen werden sodann aber qualitativ aufgeladen und damit zu einer utilitaristisch-eugeni-schen Rekonzeption der scala naturae für das 21. Jahrhundert. Damit besitzen Transhumanistinnen und Transhumanisten (vermeintlich) klare und objektive Standards zur Bewertung menschlichen Lebens, die in ein utilitaristisch ver-rechnetes evolutionäres Fortschrittsnarrativ eingeordnet werden. Gemeinsam mit der Individualisierung biopolitischer Gewaltdynamiken verquickt sich die-se Skala der Lebenswertigkeiten zu einem regelrechten Selbstoptimierungs-zwang. Der Transhumanismus präsentiert diesen Zwang nichtsdestotrotz im Gewande eines Befreiungs- und Fortschrittsnarrativs. Damit wird die funda-mentale biopolitische Struktur der Moderne, das heißt nach Agamben „die Entscheidung über den Wert (oder den Unwert) des Lebens als solches“,142 in

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