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Strukturelle und kulturelle Dynamiken der Technisierung

Im Dokument des Transhumanismus (Seite 191-199)

Technikanthropologie und Weltgestaltung

6.1 Strukturelle und kulturelle Dynamiken der Technisierung

Der moderne Transhumanismus hat sich die Förderung (und Sicherung) einer zunehmenden Handlungsfähigkeit und Handlungsmacht des Menschen so-wohl in der Auseinandersetzung mit der Widerständigkeit der Welt als auch im Kontext sozialer und politischer Gefüge zum Ziel gesetzt. Transhumanistinnen und Transhumanisten votieren auf der individuellen Ebene für morphologi-1 Winner, Whale and the Reactor, 9.

2 Castoriadis, Imaginary, 361.

3 Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 203.

Kapitel 6: Technikanthropologie und Weltgestaltung

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sche Freiheit. Damit ist nach Anders Sandberg ein Recht darauf bezeichnet, den eigenen Körper nach individuellen Vorstellungen und Begehren zu mo-difizieren.4 Sandberg verweist darauf, dass der Mensch als „technologisches Tier“ (technological animal) bereits auf eine lange Geschichte der Integration artifizieller Elemente und der Gestaltung des eigenen Körpers (zum Beispiel durch Kleidung, Bemalungen, Tattoos, Piercings usw.) zurückblicke.5 Für den homo inermis muss mit dem Anliegen uneingeschränkter individueller Selbst-gestaltung auch die gleichzeitige Betonung der Dringlichkeit wissenschaftlich-technischer Innovationen verbunden sein.6 Durch sie soll das Repertoire der Selbstgestaltungs- und Selbstverwirklichungsmöglichkeiten fortlaufend er-weitert und gleichzeitig das Überleben des Menschen gesichert werden. Ver-mittels Technik möchten Transhumanistinnen und Transhumanisten auf der kollektiven Ebene noch grundlegender die evolutionären Prozesse der Natur technologisch aufgreifen und zum eigenen Nutzen und dem eigenen Willen entsprechend steuern.7 So gehören uneingeschränkte Freiheit und die Mög-4 Vgl. Sandberg, Morphological Freedom, 56–60. Grundgelegt wurden diese Ideen einer absolut vorgabelosen Selbstgestaltung bereits bei Freidoun Esfandiary (vgl. Esfandiary, Up-Wingers, 139).

5 Diese Perspektive gehört in der transhumanistischen Literatur zur Standarddarstel-lung dieser Thematik (vgl. Sandberg, Morphological Freedom 58; Clark, Natural-Born Cyborgs, 3; Stock, Battle for the Future, 312).

6 Arnold Gehlen hat den Menschen im Vergleich zum Tier als „Mängelwesen“ (homo in-ermis) bezeichnet und versteht Kultur, und darin eingeschlossen auch Technologie, als eine Art kompensatorische Ersatz-Natur für die biologischen Unangepasstheiten und Schwächen des Menschen im Umgang mit seiner Umwelt (vgl. Gehlen, Der Mensch, passim, bes. 16). Zu Gehlens Theorie und ihrer kritischen Rezeption vgl. Van der Pot, Technological Progress, 529–532; 564–566.

7 Vgl. More, Philosophy of Transhumanism, 10. Simon Youngs transhumanistisches Ma-nifesto kann hier als gutes Beispiel angeführt werden, das die Elemente „Freiheit“ und

„technisch kontrollierte Evolution“ populärwissenschaftlich zugänglich machen will:

„Gradually, through the action of free individuals making free choices in the free world, a stronger, more diverse species will emerge – a species in control of its own genetic makeup. Humanity will take evolution out of the hands of butterfingered nature into its own transhuman hands. Darwinian Evolution by random genetic mutations and natural selection will be succeeded by Designer Evolution – Evolution self-directed by humanity in its own interests“ (Young, Designer Evolution, 15–45, hier: 38 [Herv. im Original]; vgl. Paul / Cox, Beyond Humanity, 77–87; Stock, Redesigning Humans, 1–18;

97–123; Harris, Enhancing Evolution, passim; und jüngst Enriquez / Gullans, Evolving Ourselves, passim). Alle hier genannten Autoren argumentieren für genetisches en-hancement und teilweise auch explizit für eine erneuerte Eugenik. Auffällig ist hierbei, dass der Begriff „Evolution“ mehr oder weniger unreflektiert von der Biologie in die

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lichkeit technischer Weltgestaltung zu den Grundversprechen des modernen Transhumanismus.

Diese Bewegung lebt von der Vorstellung, dass der schaffende Mensch (homo faber) die Wirklichkeit durch Wissenschaft und Technik erschöpfend erforschen, verstehen und beherrschen kann. In diesem Sinne verfolgen vie-le Transhumanistinnen und Transhumanisten eine „Strategie der Verfügbar-machung“ der Welt, wie Hartmut Rosa sie umrissen und problematisiert hat.8 Rosa postuliert das Anliegen einer zunehmenden Vergrößerung der Reichweite als inneres Movens der gesamten Technikgeschichte,9 die er als Geschichte der menschlichen Bewältigung von Widerstandserfahrungen versteht. „Verfügbar-machen“ heißt, so zeigt Rosa, zunächst, die Welt sichtbar (das heißt – im Sinne wissenschaftlicher Methoden – erkennbar) zu machen, dann, sie erreichbar bzw.

zugänglich zu machen, sodass zunehmend mehr Weltausschnitte beherrschbar und kontrollierbar und schlussendlich auch nutzbar gemacht werden können.10 Bei dieser letzten Dimension der Nutzbarmachung, so schreibt Rosa,

„kommt es nicht nur darauf an, Welt unter Kontrolle zu bringen, sondern sie auch zum Instrument für unsere Zwecke zu machen, wodurch die Verfügbarmachung der Welt zur Weltgestaltung und Welterzeugung wird. Das, was da ist und gegen-wärtig ist, wird dabei instrumentalisiert und zum Material und Objekt unserer je eigenen Projektionen und Wünsche transformiert.“11

Entsprechend eignet dem Transhumanismus eine zweckrationale und instru-mentalisierende Haltung (instrumental stance)12 der Welt gegenüber, die im Spätmittelalter denkmöglich wurde (vgl. Abschnitt 6.2.1) und spätestens seit Rede über technologische Neuerungen gewandert ist. So versteht auch Ray Kurzweil Technologie schlicht als „another form of evolution“ (Kurzweil, Singularity, 487).

8 Vgl. Rosa, Unverfügbarkeit, passim, hier: 20.

9 Vgl. Rosa, Unverfügbarkeit, 17. Andernorts schreibt er: „In der Technikentwicklung geht es […] darum, die wissenschaftlich erschlossenen Weltausschnitte und Möglichkeiten beherrschbar zu machen und auf diese Weise Welt in allen ihren Dimensionen unter Kontrolle zu bringen“ (Rosa, Unverfügbarkeit, 23).

10 Vgl. Rosa, Unverfügbarkeit, 21 f.

11 Rosa, Unverfügbarkeit, 22 (Herv. im Original).

12 Vgl. dazu Taylor, Secular Age, 542 f. Louis Dupré bietet eine hilfreiche Analyse des

„instrumentalism“ als Movens der post-baconschen Wissenschaft (vgl. Dupré, Passage to Modernity, 70–79) und argumentiert dafür, dass Bacon selbst noch kein „Instru-mentalist“ in der Radikalität war, wie es seine Nachfolger geworden sind (vgl. Dupré, Passage to Modernity, 72).

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Francis Bacon das Selbstverständnis der modernen Wissenschaften prägt.13 Nach Bacon hat sich diese Haltung, wie Langdon Winner im Blick auf die Gegenwart schreibt, zu einem regelrechten „Regime der Instrumentalität“

verdichtet.14 Im Novum Organon erläutert Francis Bacon, dass das letzte Ziel der Wissenschaften die „Erleichterung und Verbesserung der Lage der Men-schen“ (ad hominum statum levandum et juvandum spectet) sei und sie deshalb primär der Vergrößerung der menschlichen Handlungsmacht über die Natur dienen sollte.15 In Bacons utopischer Nova Atlantis wird entsprechend das Haus Salomons zu folgendem Zweck errichtet: „The End of our Foundation is the knowledge of Causes, and secret motions of things; and the enlarging of the bounds of Human Empire, to the effecting of all things possible.“16 Sinn, Ziel und Zweck sind im Sinne von Bacons Wissenschaftslehre nicht mehr in der Natur der Dinge, vielmehr müssen sie vom Menschen selbst und aktiv hervor-gebracht und realisiert werden.17 In dieser Perspektive bezeichnet „Wissen“ die Macht und Fähigkeit, die erstrebten Ziele des Menschen in der immanenten Welt von Ursache und Wirkung zu verwirklichen, vornehmlich: den status hominis zu verbessern.18 Steven Matthews redet hierbei sogar von einer „inau-gurated eschatology“ im Werk von Francis Bacon, in deren Rahmen das zu-künftige Heil des Menschen in seinem eigenen wissenschaftlichen Tun greifbar wird.19 Zu diesem Zwecke gilt es, so macht Bacon jedoch auch klar, die Natur zu bezwingen, sie gleichsam „zu zerschneiden“ (secare), um sie auf diese Weise

13 Viele Transhumanistinnen und Transhumanisten beziehen sich explizit auf Francis Bacon (vgl. Bostrom, History of Transhumanist Thought, 2; Hughes, Politics of Trans-humanism, 759 f; More, Philosophy of TransTrans-humanism, 9). Max More schreibt: „Bacon’s work first set out the essence of the scientific method. That conceptual framework is, of course, utterly central to the goals of transhumanism“ (More, True Transhumanism, 138;

vgl. dazu Wolyniak, Relief of Man’s Estate, 53–64; Burdett, Transcendence and Human Enhancement, 20–25; Burdett, Eschatology, 12–18; Daly, Chasing Methuselah, 134). Letz-tere beiden Autoren lesen Bacon weniger als Proto-Säkularisten und eher als Beispiel für das christlich motivierte und wissenschaftlich verantwortete Engagement für ein besseres Leben im Hier und Jetzt.

14 Vgl. Winner, Whale and the Reactor, bes. 54–58, hier: 55.

15 Vgl. Bacon, Novum Organon, I, 73; II, 52, hier: 156 f.

16 Bacon, New Atlantis, 398.

17 Vgl. Dupré, Passage to Modernity, 72.

18 Vgl. Bishop, Anticipatory Corpse, 20 f; Dupré, Passage to Modernity, 71.

19 Vgl. dazu Matthews, Francis Bacon, passim, bes. 101–103; Burdett, Eschatology, 12–18, bes. 16 f.

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gefügig zu machen.20 Er schlägt bereits in der Einleitung seiner Instauratio Magna ein regelrechtes peinliches Verhör der Natur vor und spricht von einer besiegten, gebundenen und bezwungenen Natur, die „durch die Kunst und die Tätigkeit des Menschen aus ihrem Zustand gedrängt, gepresst und geformt wird“ (conficimus historiam […] naturae constrictae et vexatae; nempe, cum per artem et ministerium humanum de statu suo detruditur, atque premitur et fingitur).21 Diese drastische Rhetorik des Umgangs mit der Natur am Ausgang der modernen Wissenschaft spitzt sich, wie im Folgenden gezeigt wird, über die moderne Anatomie bis hin zur Kybernetik in der spätmodernen Gegen-wart weiter zu.22

Auch wenn Bacon in einer anderen Welt gelebt hat, eignet dem gegenwärti-gen transhumanistischen Programm der Verfügbarmachung eine ähnliche Dy-namik.23 Im Lichte der positiven Ziele, die der Mensch anstrebt und realisieren möchte, begegnet ihm die Natur im Transhumanismus gleichsam als „‚Aggres-sionspunkt‘ oder als Serie von Aggressionspunkten, das heißt von Objekten, die es zu wissen, zu erreichen, zu erobern, zu beherrschen oder zu nutzen gilt.“24 Diese Logik der Beherrschung, begleitet vom Imperativ kontinuierlicher Reichweitenvergrößerung, führt nach Hartmut Rosa dazu, dass sich moderne Gesellschaften nur noch dynamisch zu stabilisieren vermögen.25 Dies gilt vor 20 Er schreibt: „Es ist […] besser, die Natur zu zerschneiden, als von ihr Abstraktionen zu bilden.“ (melius autem est naturam secare, quam abstrahere) (Bacon, Novum Organon, I, 51, hier: 114 f; vgl. Bishop, Medical Corpses, 171 f).

21 Bacon, Novum Organon, 54 f. Zu Bacons Verhältnis zum peinlichen Verhör vgl. Fischer, Francis Bacon, 70–72.

22 Vgl. Wiener, God and Golem, 9: „[I]t is only through the knife of the anatomist that we have the science of anatomy, and […] the knife of the anatomist is […] an instrument which explores only by doing violence.“

23 Zur technikphilosophischen Reflexion auf das Bacon’sche Programm und seine Folgen bis heute hat auch Hans Jonas geschrieben (vgl. Jonas, Prinzip Verantwortung, 251–255).

24 Rosa, Unverfügbarkeit, 10–20, hier: 10.

25 Er definiert: „Eine Gesellschaft ist modern, wenn sie sich nur dynamisch zu stabili-sieren vermag, das heißt, wenn sie zur Aufrechterhaltung ihres institutionellen status quo des stetigen (ökonomischen) Wachstums, der (technischen) Beschleunigung und der (kulturellen) Innovierung bedarf“ (Rosa, Unverfügbarkeit, 14 f [Herv. des Originals entfernt]). Zur dynamischen Stabilisierung vgl. auch Rosa, Resonanz, 671–706. Dierk Spreen und Bernd Flessner sprechen im Anschluss an die neuere kritische Sozialtheorie von einer „Wettbewerbsgesellschaft“ und kommentieren: „Wenn sozialer Anschluss, also Integration, letztlich Ausdruck von Wettbewerbserfolgen wird, dann wird die per-manente Verbesserung der eigenen Fähigkeiten als auch des Selbst zu einem allgemei-nen Imperativ“ (Spreen / Flessner, Kritik des Transhumanismus, 7–13, hier: 9).

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allem auch im Bereich der technologischen Innovationen.26 Diese Diagnose verschärft sich mit dem transhumanistischen Ziel der Überwindung mensch-licher Begrenzungen, spezifisch des Alterns und letztlich des Todes. In der Auseinandersetzung mit dem Tod, der radikalsten Form von Unverfügbarkeit und dem definitiven Ende jeglicher Weltreichweite,27 wird der unaufhörliche Steigerungs- und Beschleunigungszwang offensichtlich, dem der Transhuma-nismus unterliegt. Als Illustration kann hier de Aubrey de Greys Programm einer beschleunigten Verbesserung von Technologien der Lebensverlängerung im Sinne einer „longevity escape velocity“ dienen.28 Damit ist die Hoffnung bezeichnet, dass die Verlängerung der Lebensdauer, die durch fortschreitende biomedizinische Technologien ermöglicht wird, kontinuierlich größer wird, als die Zeit, die benötigt wird, um einen solchen Fortschritt zu erzeugen, sodass der effektive Tod derjenigen Menschen, die heute leben, stets weiter hinausge-zögert werden könnte.29 Damit kann die andernorts erarbeitete Definition des Transhumanismus als dynamische Utopie des Fortschritts (vgl. Abschnitt 4.2) 26 Steven Goldman bietet eine ähnliche Analyse und formuliert im Hinblick auf

technolo-gische Innovationen: „By the turn of the twenty-first century, […] economic prosperity was keyed to continuous technological innovation in a global competitive environment was enshrined as an ineluctable fact, a principle of nature, a kind of categorical impe-rative. Innovate or stagnate not just economically, but culturally as well“ (Goldman, Technological Innovation [ESTE], 1905).

27 Vgl. Rosa, Unverfügbarkeit, 94–97. Andernorts habe ich den Tod umschrieben als Ende des menschlichen Weltbezugs, Gemeinschaftsbezugs und, im Blick auf diesen Abbruch der Beziehungen des Menschen zur Körperwelt und zu anderen Menschen, als persön-lichen Weltuntergang (vgl. Dürr, Auferstehung des Fleisches, 38 f).

28 Auf Deutsch etwa: „Fluchtgeschwindigkeit der Lebensdauer“ (vgl. dazu Grey / Rae, Ending Aging, 330 f). Das Konzept wurde zuerst von David Gobel propagiert, dem Mitbegründer der Methuselah Foundation, die sich der Bekämpfung des Alterns mit biologisch-technischen Mitteln verschrieben hat. Eine gute thematische bzw. journalis-tische Hinführung zu diesem Thema und seinen transhumanisjournalis-tischen Hauptakteuren bietet O’Connell, To Be a Machine, 179–193.

29 De Grey rechnet damit, „that there is a threshold rate of biomedical progress that will allow us to stave of aging indefinitely […]. If we can make rejuvenation therapies work well enough to give us time to make them work better, that will give us additional time to make them work better still“ usw. (Grey / Rae, Ending Aging, 330). Dieselbe Idee hat auch Ray Kurzweil in seiner Monographie Fantastic Voyage: Live Long Enough to Live Forever umrissen, die jedoch über die biomedizinischen hinaus auch noch digitale Technologien in die Rechnung mit einbezieht (vgl. Kurzweil / Grossman, Fantastic Voyage, 1–13). Andernorts artikuliert Kurzweil: „We are beginning to understand aging, […] as a group of related processes. Strategies are emerging for fully reversing each of these aging progressions, using different combinations of biotechnology techniques“

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noch einmal qualifiziert werden: Der Transhumanismus verfolgt eine akzele-rierend dynamisch-stabilisierte Utopie des Fortschritts. Dabei verdrängt er zu-nehmend das konkret verwirklichte „Gute“ für das noch unverwirklichte „Bes-sere“, und Letzteres wird ihm zur grundlegenden normativen Vorstellung.30 So sedimentiert sich die Vorstellung, dass man das Bestehende für das Kommende opfern müsse, in der moralischen Imagination transhumanistischer Akteure.

Es ist ersichtlich, dass sich das transhumanistische Projekt eines technologisch gesicherten Überlebens mit den spezifischen Herausforderungen konfrontiert sieht, die Hartmut Rosa in Bezug auf spätmoderne Steigerungsimperative ins-gesamt diagnostiziert: ein Wandel von einer Verheißung in eine Bedrohung.

Rosa schreibt: „Wachstum, Beschleunigung und Innovierung erscheinen nicht mehr als Versprechen, das Leben immer besser zu machen,31 sondern als apokalyptisch klaustrophobische Drohung: Wenn wir nicht besser, schnel-ler, kreativer, effizienter etc. werden, verlieren wir“,32 in diesem Fall verlieren wir den Wettlauf gegen den Tod. Hinter dem modernen Verlangen „Höher, Schneller, Weiter“ bzw. transhumanistisch: „Mehr-ist-besser!“33 vermutet Rosa eine andere strukturelle Realität: „Es ist nicht die Gier nach mehr, sondern die Angst vor dem Immer-weniger, die das Steigerungsspiel aufrechterhält.“34 Die biologische Uhr des Menschen tickt. Auch wenn Max More immer wieder betont, dass Transhumanistinnen und Transhumanisten keine Angst vor dem Tod haben (sollten), erscheint dieser definitive Abbruch aller menschlichen

(Kurzweil, Singularity, 212 f). Daraus folgert er dann: „We have the means right now to live long enough to live forever“ (Kurzweil, Singularity, 371).

30 Vgl. dazu Illich, Selbstbegrenzung, 115; 153.

31 Freilich sind Transhumanistinnen und Transhumanisten stets darum bemüht, genau diese positive Seite zu betonen (vgl. Sorgner, Transhumanismus, 30–33).

32 Rosa, Unverfügbarkeit, 15.

33 Dieses Leitcredo formuliert Janina Loh in ihrer Darstellung und Kritik des Trans- und Posthumanismus (vgl. Loh, Trans- und Posthumanismus, 41–64; 79–91; exemplarisch 34 Rosa, 43). Unverfügbarkeit, 15. Rosa führt die Dynamik nicht im Blick auf den

Transhuma-nismus, sondern im Blick auf die breitere Gesellschaft weiter aus: „Es ist nie genug, nicht, weil wir unersättlich sind, sondern weil wir immer und überall wie auf Roll-treppen nach unten stehen. Wann und wo immer wir anhalten oder innehalten, ver-lieren wir an Grund gegenüber einer hochdynamischen Umwelt, mit der wir überall in Konkurrenz stehen. Es gibt keine Nischen oder Plateaus mehr, die es uns erlauben, innezuhalten oder gar zu sagen: ‚Es ist genug‘ “ (Rosa, Unverfügbarkeit, 15 f).

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Möglichkeiten dennoch als ein Übel, das es unbedingt und mit allen Mitteln zu überwinden gilt.35

Mittlerweile gehört auch die Thematisierung der Risiken und Nebenwir-kungen neuartiger Technologien zum guten Ton transhumanistischer Dis-kurse.36 Gerade darin bleibt der Transhumanismus jedoch einem technolo-gischen Solutionismus verpflichtet, das heißt der Vorstellung, dass sämtliche Probleme und Gefahren (und eben auch die durch Technik verursachten) wiederum durch neue und bessere technologische Errungenschaften gelöst werden können. Ein gutes Beispiel für diese zirkulär operierende Steigerungs-logik ist Nick Bostroms Aufsatz über Existential Risks, der an entscheidender Stelle davon ausgeht, dass das Ausbleiben einer zunehmend technisierten Zi-vilisation überhaupt das größte existenzielle Risiko der Menschheit darstelle (nämlich ein „crunch“ oder „technological arrest“, was bei Bostrom mit einer existenziellen Katastrophe gleichgesetzt wird). Deshalb kommt er auch zum Schluss, dass ohne neuartige Technologien die Chancen, existenzielle Risiken abwehren zu können, gleich null stehen (die existenzielle Katastrophe des tech-nologischen Stillstandes wäre dann ja bereits Wirklichkeit geworden). Daraus schließt er: „With technology, we have some chance, although the greatest risks now turn out to be those generated by technology itself.“37 Damit wird der zwar ambivalente, aber doch ungemein hohe Stellenwert verständlich, den der Transhumanismus sowohl der Wissenschaft als auch der Technik beimisst: Sie ist die einzige Hoffnung, das einzige remedium für den status hominis.38 Der 35 More schreibt dazu: „While some transhumanists – like anyone else may fear a painful, prolonged death, we understand that death is not something to be feared. It is nothing.

It is simply the end of experience. What makes death extremely undesirable is not that it is a bad condition to be in, it is that it means the end of our ability to experience, to create, to explore, to improve, to live“ (More, Philosophy of Transhumanism, 15). Ähn-lich schreibt auch Ray Kurzweil: „Whereas some of my contemporaries may be satisfied to embrace aging gracefully as part of the cycle of life, that is not my view. It may be

‚natural,‘ but I don’t see anything positive in losing my mental agility, sensory acuity, physical limberness, sexual desire, or any other human ability. I view disease and death at any age as a calamity, as problems to be overcome.“ (Kurzweil / Grossman, Fantastic Voyage, 139 f [eigene Herv.]; vgl. Esfandiary, Are You a Transhuman?, 199).

36 Vgl. Bostrom, Existential Risks, 1–36; More, Proactionary Principle, 258–267; Fuller / Lipińska, Proactionary Imperative, passim; Kurzweil, Progress and Relinquishment, 451 f.

Ein erklärtes Ziel der Transhumanist Declaration ist entsprechend auch die „[r]educ-tion of risks of human extinc„[r]educ-tion“ (More / Vita-More, Transhumanist Declara„[r]educ-tion, 54).

37 Bostrom, Existential Risks, 20.

38 Genau im Blick auf diese Dynamik konstatiert Ronald Cole-Turner: „We need to be aware that technology, precisely because of its beneficial power, can lead us to the

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Transhumanismus versteht (vor allem neue und innovative) Technologien als primäre Mittel zur Bewältigung der Widerständigkeit der Welt, der Erweite-rung der menschlichen Handlungsfähigkeiten und zur Abwehr existenzieller Gefahren. Er geht davon aus, dass der Schlüssel zu einem guten bzw. besseren Leben in einer technisch induzierten Vergrößerung der Weltreichweite liegt (um noch einmal Rosas Formulierung aufzugreifen).39 In dieser Perspektive wird die Relevanz von Werkzeugen, Maschinen, Prothesen und Systemtechno-logien für den Transhumanismus deutlich, insofern diese die Weltreichweite des Menschen vergrößern, die Welt verfügbarer machen und damit den Radius menschlicher Handlungsmacht ausdehnen. Ihnen sind die nächsten Abschnit-te gewidmet.

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