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Abschliessend kehren wir zurück zur am Schluss des vor-letzten Kapitels aufgeworfenen Frage, gegen welche weib-liche Identitäten die konstatierten Aussengrenzen wirk-sam gewesen sein könnten: Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde es für Bürgertöchter üblicher, zumindest bis zur Hei-rat, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Weitgehend akzep-tiert war zunächst der Lehrerinnen- oder Erzieherinnen-beruf. Seit der Jahrhundertmitte formierte sich eine bür-gerliche Frauenbewegung, die Bildung, Gleichberechtigung und politische Emanzipation einforderte. Beeinflusst von der deutschen und angelsächsischen Frauenbewegung, ent-standen Ende des Jahrhunderts in der Schweiz Bildungs- und Berufsvereine, die für die rechtliche und wirtschaft-liche Besserstellung der Frauen und endlich auch für das Frauenstimmrecht fochten.252 1893 wurde beispielsweise der schweizerische Lehrerinnenverein mit dem Ziel gegründet, die beruflichen Arbeitsbedingungen von Lehrerinnen zu verbessern. Ihre Basler Sektion sprach sich dafür aus, dass für Lehrerinnen die Nutzung der Bibliothek der LG zu ver-günstigten Konditionen möglich sein sollte.253

Die bürgerliche Frauenbewegung setzte auch die Erneu-erung der Mädchenbildung auf ihre Traktandenliste. Junge Frauen konnten lange Zeit weder die Matura absolvieren noch studieren. In Basel eröffnete die Töchterschule im Jahr 1899 mit der Gymnasial-Abteilung die einzige Matu-ritätsschule für Mädchen in der Stadt. Mit der Einführung des Frauenstudiums in der Schweiz wurde es Frauen nun ermöglicht, sich einen bildungsbürgerlichen Status zu er-arbeiten. In Basel kam dies viel seltener vor als in anderen Städten der Schweiz: Die geringe Studentinnenzahl stand in keinem Verhältnis zur Anzahl weiblicher Studierender in Zürich, Bern, Lausanne, Genf und Neuenburg, wo vor dem Ersten Weltkrieg jeweils zwischen 300 und 600 Frauen stu-dierten.254 Wie oben erwähnt, konnten sich Frauen an der Basler Universität erst viel später immatrikulieren (1890) als an den anderen Universitäten der Schweiz. Bei einer schrift-lichen Umfrage hatte sich die Mehrheit der Professoren ge-gen eine Öffnung ausgesprochen. Viele Professoren hielten Frauen zu wissenschaftlicher Arbeit gar nicht fähig, andere

252 Elisabeth Joris, Frauenbewegung; in: HLS, URL: http: / / www.hls-dhs-dss.

ch / textes / d / D16497.php, Version vom 22.5.2008; Yvonne Voegeli, Frauen-stimmrecht; in: HLS, URL: http: / / www.hls-dhs-dss.ch / textes / d / D10380.php, Version vom 17.2.2015; Regina Wecker, 1833 bis 1910, p. 220; Sara Janner, Mögen sie Vereine bilden, pp. 42–50.

253 JB 1896, p. 16. Zur Basler Sektion vgl. Sara Janner, Mögen sie Vereine bil-den, p. 36 f.

254 Studentinnen nach Universitäten 1864–1930; in: www.unigeschichte.uni-bas.ch.

1.4. Entwicklung des Teilnehmerkreises 1825–1915. Ein Fazit

58 1.4.1. Teilnehmerkreis 59

abgebaut: das Gesellige. Das Casino im Parterre gab schritt-weise genutzte Fläche ab, die Spielzimmer des ersten Stock-werks wurden aufgelöst; die neue Restauration von 1876 hatte weniger Platz zur Verfügung, bevor sie 1900 aufgege-ben (respektive an den Alpenclub abgegeaufgege-ben) wurde etc. Ab Mitte der 1870er-Jahre ging man vermehrt dazu über, frei werdende Räume der Liegenschaft an andere Sozietäten oder Institute zu vermieten.267

Dank der prominent am Münsterplatz gelegenen Liegen-schaft, den wiederholt renovierten und neu ausstaffierten Gesellschaftsräumen, einer reichhaltigen und gut betriebe-nen Bibliothek (Kap. 2.4.4.), der umfassenden und vielseiti-gen periodischen Lektüre268 sowie dem Personal, welches für die Abläufe des Gesellschaftsalltags verantwortlich war, konnte die LG das Angebot für ihre Klientel attraktiv erhal-ten.

Mit dem schnellen Anstieg der Teilnehmerkurve bis 1840 und der Konservierung des Erreichten weicht die zah-lenmässige Entwicklung der LG gänzlich von derjenigen ih-res baselstädtischen Einzugsgebietes ab. Zuerst eilt die LG dem städtischen Bevölkerungswachstum voraus und re-agiert danach kaum mehr auf die enorme Vergrösserung der Einwohnerschaft und der Bürgerschaft (Grafik 11).

Grafik 11

Quelle: Tabelle 12, Anhang A

Gewiss, die Nachfrage im städtischen Raum hinsichtlich ei-ner Kombination von Lokalität, Medien, Spiel und Gastrono-mie war begrenzt. Ausserdem stand die LG im Wettbewerb mit anderen geselligen und literarischen Anbietern, etwa mit Kaffeehäusern, sogenannten „Kämmerlein“ (privaten Clubs), dem Stadtcasino, dem Zoologischen Garten etc. Sta-gnierte die Nachfrage nach 1840? Es erscheint widersprüch-lich, dass eine städtische Bevölkerung und ihre

Bürger-267 Tabelle 23, Anhang A.

268 Tabelle 22, Anhang A.

schaft, die sich zwischen 1840 und 1915 dermassen eruptiv um rund das 6,5-fache respektive das 5,5-fache vergrösserte (Grafik 11), konstant bei der Nachfrage von 1840 verweilen sollte, zumal das Bildungswesen laufend ausgebaut wurde und neue LeserInnen hervorbrachte. Genauer besehen, war die Nachfrage stets intakt, was folgende Tatsachen zu bele-gen vermöbele-gen: Sobald die LG in die Offensive ging, die Ta-rife senkte und / oder über die Mundpropaganda hinaus öf-fentlich in Zeitungen warb oder Rechte und Sortimente er-weiterte, wenn die LG also Offenheit signalisierte und die Klientel über die Stammkundschaft hinaus um neue Kreise zu erweitern versuchte, nahmen die Bestände auch zu. Be-sonders auffallend geschah dies zum Beispiel nach 1875, als man aktiv warb, und innerhalb von zwei Jahren der Be-stand um beinahe 100 Personen anstieg, oder um 1887, als man das Eintrittsgeld von 25 auf 5 Franken reduzierte, Wer-beschreiben zirkulieren liess, oder auch zwischen 1890 und 1902, als die Zahl der TeilnehmerInnen um knapp 200 zu-nahm, nachdem deren Benutzungsmöglichkeiten erweitert wurden.

Spricht der begrenzte Raum des Hauses „Unter den Lin-den“ für eine Limitierung der zahlenden Teilnehmerschaft auf rund 650 Personen?

Klagen über beschränkten Platz im Gesellschaftslokal geben die Quellen bis vor dem Kauf, Umbau und Umzug ins heutige Gesellschaftshaus „Unter den Linden“ am Münster-platz häufig wieder. Danach wurde nur noch einmal eine Beschwerde erwähnt: zu viele junge Männer würden die Le-sesäle okkupieren und mit unflätigem Verhalten die Atmo-sphäre stören. Man reagierte 1839 mit einer Erhöhung des Beitrittsalters von 16 auf 18 Jahre.269 Danach war von Platz-problemen keine Rede mehr. Ausserdem widersprach die enorme Erweiterung der Teilnehmerzahl nach dem Ersten Weltkrieg dem Argument, dass mit rund 650 Personen das Boot voll gewesen wäre, vollends: Allein die Zahl der Mit-glieder betrug 1950 789 Personen.270

Auffallend an der Kurve des Teilnehmerkreises ist die zwar leichte, aber doch deutliche Wellenbewegung, auf An-stiege folgten AbAn-stiege. Gründe dafür, weshalb der Anstieg der Mitwirkenden niemals anhaltend parallel zum Wachs-tum der Stadt verlief, mögen auch im sich verändernden historischen Umfeld gelegen haben: das Vereinswesen verbreiterte sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Die Ver-einsform wurde von allen sozialen Schicht rezipiert; das aufklärerische Geselligkeitskonzept, welches den einzelnen Spielraum gab, sich jenseits ständischer Zwänge auf freiwil-liger Basis mit Gleichgesinnten zu vergesellschaften, mag an Integrationskraft eingebüsst haben; auch die seit den 1880er-Jahren besser zugängliche und seit 1897 mit eigenen

269 JB 1838, pp. 4 und 20.

270 Vgl. Daniel Speich, Société de Lécture, p. 251.

Bevölkerung.Basel-Stadt.1815–1920

1820 1840 1860 1880 1900 1920 1940

1800 0 20 000 40 000 60 000 100 000 120 000 140 000

80 000 160 000

Bevölkerung Stadt Basel StadtbürgerInnen SchweizerInnen AusländerInnen und Heimtatlose

erreicht 1902 mit 784 Personen seinen höchsten Stand, um danach gegen Ende wieder auf das ca. 1840 erreichte Niveau abzusinken. Insgesamt weist der Umfang des Teilnehmer-kreises somit eine markante Stabilität auf.

Grafik 9

Quellen: Tabellen 1–3, Anhang A

Grafik 10

Quelle: Tabelle 19, Anhang A

Mit Ausnahme einiger Jahre ist auch der Finanzhaushalt der LG stabil. Der Etat pendelt unter der alten Währung um 15 000, ab 1851 um 20 000 und erhöht sich gegen Ende des Untersuchungszeitraums stetig auf rund 25 000 Franken (Grafik 11). Mitte der 1880er-Jahre und am Ende des Jahrhun-derts tätigte die LG grössere Investitionen in ihre Liegen-schaft.260 Gut fünfzig Jahre nach Bezug des Gebäudes waren umfangreichere Renovationen und innenarchitektonische Anpassungen notwendig. Im Jahr 1900 war die grosse Roch-ade im Haus mit baulichen Arbeiten verbunden. Die Biblio-thek wurde ins Parterre, die Verwalterwohnung in den drit-ten Stock, die Räume für eingemietete Vereine wurden in

und den Jugendlichen und Studenten (125) zu verdanken. Nach 1902 verkleinert sich der Kreis wieder. 1907 sind es 744, 1912 692 und 1915 662 TeilnehmerInnen.

260 Tabelle 20, Anhang A.

den zweiten Stock verlegt. Ausserdem „verschönerte“ man das Stammlokal – auch in Gedanken an die Frauen, wel-che die Räume nun – wenn auch erstmal noch zeitlich be-schränkt – mitnutzen durften.

Das sprunghafte Ansteigen der Kurve nach 1850 hat seine Ursache nicht in der Vereinsgeschichte, sondern be-ruht auf der Einführung der nationalen Schweizer Währung und der Umrechnung vom Alten zum Neuen Franken.

Mit nur leichten Preiserhöhungen konnte die LG wäh-rend der hier betrachteten Zeitdauer ihrer Kundschaft eine konstant hohe Zahl an Büchern, Zeitungen und Zeitschrif-ten anbieZeitschrif-ten. Die Anzahl erworbener Buch-, Zeitungs- und Zeitschriftentitel steigerte sich vom Beginn des Untersu-chungszeitraums 1825 bis zum Ende des Jahrhunderts von 471 auf gegen 800 Titel.261 1825 konnte ein 400 Personen um-fassender Kreis für die Hälfte seiner Gesamtausgaben 470 literarische Titel erwerben. 1899 kauften 700 TeilnehmerIn-nen für ein Viertel ihrer Ausgaben 761 Einheiten. Das Sorti-ment an gedruckten Medien verbreiterte sich generell wäh-rend des 19. Jahrhunderts, und die Stückpreise wurden nied-riger.262

Um den Standards der bürgerlichen Lebensgewohnhei-ten263 zu genügen, musste ein gewisser Service geboten und dafür Personal beschäftigt werden. Die Hintergrundarbei-ten wurden vom Verwalter koordiniert und von ihm, sei-ner Familie sowie von Dienstboten ausgeführt. Während die Kosten für die Lektüre in absoluten Zahlen zulegten, nahmen sie anteilsmässig massiv ab. Die Lohnkosten dage-gen stiedage-gen bis 1870 absolut, blieben relativ zu den Gesamt-ausgaben aber etwa auf dem gleichen Stand264, ab Mitte der 1870er-Jahre stiegen sie auch anteilsmässig an.265 Im Jah-resbericht für 1898 ist von den „immer steigenden Dienst-botenlöhne[n]“ die Rede. Die LG erhöhte in diesem Jahr die Gesamtsumme der Gratifikationen an das Dienstpersonal von 100 auf 500 Franken.266

Eines der Angebote der LG wurde stufenweise wieder

261 Tabelle 21, Anhang A. Die Anzahl erworbener Buch-, Zeitungs- und Zeit-schriftentitel betrug 1825 471, 1840 625, 1855 691,1870 721, 1885 798 und 1899 761 Titel (Tabelle 21, Anhang A). Für spätere Jahre fehlen die Angaben in den Jahres-berichten. Auf der Ausgabenseite standen im ersten Jahr 3210 Alte Franken oder 49,3 % der Gesamtausgaben, 1840 5628 Franken oder 40 %, 1855 8066 Neue Fran-ken oder 40,9 %, 1870 7603 Neue FranFran-ken oder 36,3 %, 1885 7695 oder 34,7 %, 1899 5834 oder 24,6 % und 1914 6597 Franken oder 32,3 % der Gesamtkosten.

262 Tabelle 19, Anhang A. Vgl. Jürg Requate, Mediengesellschaft, pp. 36–40.

Requate zeigt für Deutschland auf, dass es in zunehmendem Mass Zeitungen und Zeitschriften gab und die Auflagen erhöht wurden.

263 Zu Lebensführung und Lebensstil des Bürgertums siehe Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur, pp. 3–9 und 33 ff.; Manfred Hettling, Bürgerliche Kultur, Punkte 2–4, pp. 324–334; für die Schweiz insbesondere Albert Tanner, Patrioten, Kapitel 2.2., pp. 281 ff.

264 1825 800 Franken oder 12,3 % / 1840 1220 Franken oder 8,7 % / 1855 2119 Franken oder 10,7 % / 1870 2288 Franken oder 10,9 %.

265 1885 gab man 19,1 % (4240 Franken), 1899 21,6 % (5000) und 1914 schliess-lich 32,4 % (6620 Franken) für Löhne aus.

266 JB 1898, p. 18.

Teilnehmerkreis.1825–1915

Mitglieder

Abonnenten

0 100 200 300 400 500 600 700 800 900

1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890

1820 1900 1910 1920

Teilnehmerinnen Summe selbst. Teiln.

Finanzhaushalt.1825–1915

Einnahmen

Ausgaben

1830 1840 1850 1860 1870 1880 1890

1820 1900 1910 1920

0 10 000 20 000 30 000 50 000 60 000 70 000

40 000

1.4. Entwicklung des Teilnehmerkreises 1825–1915. Ein Fazit

60 1.4.2. Teilnehmergruppen 61

und rechtliche Anreize geschaffen wurden. Ab 1889 schnell-ten die Zahlen von Teilnehmerinnen und Studenschnell-ten, deren Anzahl in Basel noch immer rasch anstieg (und weniger an-derer Abonnenten, wie in Nachbarsgemeinden wohnende städtische Ortsbürger), in die Höhe.

Zwar erweiterte die LG 1898 de jure den Kreis möglicher Mitglieder auf volljährige Schweizer Einwohner, verschärfte aber im Gegenzug das Aufnahmeprozedere. De facto ver-minderten sich die Bestände, statt anzuwachsen. Man be-gegnete den Nichtbaslern traditionellerweise sehr reser-viert und ging selektiv vor, daher kann die städtische Bür-gergruppe weiterhin als Hauptpool möglicher Mitglieder betrachtet werden. Ähnliches lässt sich über die (zahlende) Frauengruppe sagen: Theoretisch stand auch Nichtbasle-rinnen das Abonnement offen. Gelöst wurde es jedoch bis Ende der 1890er-Jahre mit wenigen Ausnahmen von Bürge-rinnen.

In der quantitativen Entwicklung aller drei Gruppen bildet das Jahr 1902 einen markanten Punkt. Die Summe der drei Gruppen weist in diesem Jahr zwar ihren Höchst-stand im untersuchten Zeitraum auf, es wurde aber auch die Wende eines anhaltenden Wachstums eingeleitet (Grafik 9):

Die Bestände der Mitglieder sacken nochmals ab, diejenigen der Abonnenten gehen von rascher Zunahme in ebensolche Abnahme über, und der seit 1826 im Prinzip anhaltende Zu-wachs der Teilnehmerinnen wird im gleichen Jahr in den Erhalt des Status Quo übergeführt. Wohl konnte ein Wider-stand gegen die vermehrten Frauenrechte und teilweise auch gegen weibliche Identitäten, die sich als Bildungsbür-gerinnen partiell von der überlieferten Geschlechterord-nung emanzipiert hatten, festgestellt werden. Der Protest wäre dann als eine mögliche Ursache für eine Wende zu werten. Allerdings lassen die Quellen nichts dergleichen verlautbaren. Die Mehrberechtigungen wurden am Ende dieses Prozesses eher als gemeinsame Errungenschaft ge-lobt. Aus der Vereinsgeschichte konnte also kein konkreter Anlass für den Trendwechsel ermittelt werden.

Ist die Ursache für die deutliche Wende kontextuell be-dingt? Könnte sie in der Änderung der Einbürgerungspra-xis liegen? Schon infolge der Einführung der neuen Ein-bürgerungsgesetze 1848 und 1879 verringerten sich die Be-stände in der LG. 1902 brachte der freisinnig dominierte Regierungsrat gegenüber der Bürgergemeinde ein Einbür-gerungsgesetz mit komplett neuem Charakter durch: Es führte die bisher stark kontrollierende Einbürgerungspra-xis in eine fördernde PraEinbürgerungspra-xis über (Kap. 1.1.4.). In der Folge vergrösserte sich die Bürgerschaft rasant, stieg von 26 640 Personen im Jahr 1900 auf 43 131 im Jahr 1910 und 61 009 im Jahr 1920 an.271 Ausgesprochenes Ziel der Regierung war es, die Massen der Zugezogenen der 1890er-Jahre,

insbeson-271 Tabelle 12, Anhang A.

dere die vielen Ausländer, im Kanton zu integrieren. Zwar hatte sich die LG 1899 von der Basler Bürgerschaft losgelöst und die Bedingung des Ortsbürgerrechts definitiv für alle Gruppen aufgehoben. Die Mitgliederbestände erholten sich jedoch genau so wenig wie drei Jahre später, als man den Frauen die vollen Nutzungsrechte verlieh. Die Traditions-verbundenheit mit der angestammten Referenzgruppe und die in dieser herrschenden Umformungen könnten somit für die Wende von 1902 mitverantwortlich sein.

Legate und Vermietungen von Kompartimenten der Lie-genschaft statteten die LG mit einem guten finanziellen Polster aus, wodurch man sich die Verminderung des Teil-nehmerkreises mittelfristig leisten konnte. Erst während des Ersten Weltkriegs brachte das Schrumpfen des Kreises die LG erneut finanziell in Bedrängnis. Es mussten vermehrt Räume vermietet werden. Für die Bezahlung von Umbau-ten und für neue Möbel verkaufte man das Nebengebäude am Münsterplatz 7. Im Jahresbericht von 1919 warf der Prä-sident Rudolf Thommen-Thommen (36) die Frage auf, „wie dieses schöne Institut seiner bedrängten Lage und der Stag-nation, der es unleugbar zu unser aller Leidwesen verfallen ist, entrissen werden könnte”.272 Die Hinwendung zu neuen sozialen Gruppen geschah erst Mitte der 1920er-Jahre, wor-aufhin die Zahlen der Mitwirkenden umgehend anstiegen.

272 Zitat aus Wilhelm Grütter, Haushalt ALG, p. 24.

Lesesälen ausgestattet Öffentliche Bibliothek der Universi-tät mochte die einstige Unerlässlichkeit der Mitgliedschaft in der LG gewisse Berufsgruppen, die auf spezifische Fachli-teratur angewiesen waren, aufgehoben haben. Doch besieht man das Zusammenspiel der drei Gruppen des Teilnehmer-kreises der LG im langen 19. Jahrhundert, dann wird deut-lich, dass die Gründe für die diskontinuierliche Entwick-lung genauso wie im freien Spiel von Nachfrage und Ange-bot, in den regulierenden Eingriffen der LG gelegen haben.

1.4.2. Teilnehmergruppen

Nichtbasler bilden bis 1839 seltene Ausnahmen in der Mit-gliederschaft. Per Abstimmung begrenzte die LG die Mit-gliedschaft 1839 schliesslich auf Basler Bürger. Der Ent-scheid wirkte sich nicht auf das Wachstum der Mitglieder-gruppe, sondern auf dasjenige der Abonnenten aus (Grafik 9). Die anhaltende, steile Zunahme ging in eine ebensolche Abnahme der Abonnentenzahlen über. Hinter der Abon-nentengruppe der ersten Jahrhunderthälfte standen vor-wiegend Niedergelassene und Aufenthalter, die zwar im Besitz eines Bürgerrechtes waren, aber nicht des baselstäd-tischen – also schweizerische und ausländische Bürger. Die Zeitgleichheit ihrer definitiven Ausgrenzung von der Mit-gliedschaft mit der abrupten Beendigung der starken Zu-nahme der Mitgliedergruppe sind deutliche Indizien dafür, dass sie auch als Abonnenten in der LG ab 1839 nicht mehr als eigene und zahlenmässig starke Gruppe erwünscht wa-ren, obschon die vielen zugewanderten Fremden in der Stadt ein Potential für weitere Abonnenten hätten bilden können. Besonders die Gruppe der Niedergelassenen ver-ringerte sich in der LG laufend, bis sie in den 1890er-Jahren noch knapp 2 % des Teilnehmerkreises umfasste. Zeitgleich zum Schwund an Abonnenten hielt die Vergrösserung der Mitgliedergruppe um weitere Basler Bürger bis 1849 an. Ein Jahr nachdem die Basler Bürgerrechtsgesetzgebung nach Massgabe der neuen Bundesverfassung von 1848 gelockert wurde, flachte ihr Aufwärtstrend ab. Die LG ging gegenüber der Bürgerschaft erstmals auf Distanz. Die Stagnation der Mitgliederzahl bei paralleler Abnahme der Abonnentenzahl führte 1865 zu einem Tiefstand des Teilnehmerkreises mit 591 Personen. Um den Gesamtbestand der Zahlenden erneut anzuheben, wurde weder grossflächig in der ortsbürgerli-chen Referenzgruppe der Mitglieder geworben noch unter den erwachsenen Niedergelassenen, sondern in den „eige-nen Reihen“, indem für Studenten und jugendliche Einwoh-ner bis 24 Jahre ein neues, relativ günstiges Abonnement ge-schaffen wurde. Gelöst wurde es vor allem von in sozialer Hinsicht dem grossbürgerlichen Milieu der LG zuzuordnen-den Stuzuzuordnen-denten. Daraus lässt sich folgern, dass die Stuzuzuordnen-den-

Studen-tengruppe in der LG zwei neue soziopolitische Gruppen der Stadt substituierte: die nach 1848 (und besonders nach 1866) Eingebürgerten, welche den Weg in die LG nicht leicht fan-den, und die schweizerischen und ausländischen Einwoh-ner.

Das Einbürgerungsgesetz von 1866 hatte die Einbürge-rungen proportional zur Grösse der Einwohnerschaft fest-gelegt. Wie schon 1848 schlug sich die Veränderung der Re-ferenzgruppe nicht in den Mitgliederzahlen nieder. Seit Be-ginn der 1870er-Jahre entwickelte sich die Mitgliedergruppe mengenmässig definitiv anders als die Bürgerschaft. Zwar hatte die LG 1875, im Jahr vor dem politischen Systemwech-sel, mit aktiver Werbung „in weiten Kreisen“ Resonanz er-zeugt, und die Mitgliedergruppe war seit 1849 erstmals wie-der nennenswert angewachsen. 1879 jedoch, nachdem die Einbürgerung auf Druck der freisinnigen Fraktion weiter liberalisiert worden war, wurde die zuvor in Gang gekom-mene Vermehrung der Mitglieder postwendend wieder abgebremst. Die Kommission hatte ihre vom Plenum 1877 übertragene Kompetenz zur Reproduktion des Teilnehmer-kollektivs eingesetzt und das seit der Gründung ununter-brochene Wachstum in eine langfristige Abnahme überge-leitet. Wie es bereits 1849 sichtbar wurde, dass man nämlich die unter den Vorzeichen des Gesetzes von 1848 Eingebür-gerten in der LG nicht mit offenen Armen empfing, trat 1879 ganz deutlich hervor: Der Erweiterung der Bürgerschaft be-gegnete man skeptisch und schob der eben erst in Gang ge-setzten Vergrösserung der Mitgliedergruppe wieder einen Riegel vor. Auf die von den neuen freisinnigen Machtha-bern vorangetriebene Liberalisierung der Einbürgerungs-praxis reagierte man mit Restriktionen und gedrosselten Neuaufnahmen. Spricht aus der Entwicklung der Jahre 1875 bis 1879 die Furcht, das tendenziell freisinnige Neubürger-tum könnte, analog zum städtischen Kontext, auch in der bürgerlichen Privatrepublik „Lesegesellschaft“ das Ruder übernehmen? In Kapitel 2.6.3.1. komme ich auf diese Frage zurück.

Nahezu zur selben Zeit, in der die Mitgliederzahlen erst-malig abzunehmen begannen, wurde für Frauen 1877 das Abonnement geschaffen. Nach 1879 kompensierten Frauen und Studenten die Abnahme der Mitgliederzahlen und substituierten die ausbleibenden Neu- und Nichtbürger. Al-lerdings nicht kontinuierlich, so dass die LG 1887 finanziell ins Ungleichgewicht geriet. Der Versuch des Kommissions-vorstandes, erneut „neue Kreise“ zu rekrutieren, indem man mittels massiver Reduktion des Eintrittspreises die Hürde faktisch und symbolisch tiefer legte, brachte sofortigen Er-folg, stiess aber in Kommission und Mitgliedschaft auf Wi-derstand und kam schnell wieder zum Erliegen. Stattdessen ging man zum bewährten Rezept über, die eigenen Ränge zu bewerben. Vor allem Bürgerinnen, die nicht kraft der Mit-gliedschaft eines männlichen Verwandten dazugehörten, nahm man ins Blickfeld, indem für sie neue Abonnements

1.5. Brennpunkt: Das Jubiläum in der Krise 63

1.5. Brennpunkt: Das Jubiläum in der Krise

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ven, bürgerlichen Teilnehmerkreis der LG und ihrem städti-schen Bezugsrahmen. Sie bezeichnen die typische Haltung

ven, bürgerlichen Teilnehmerkreis der LG und ihrem städti-schen Bezugsrahmen. Sie bezeichnen die typische Haltung