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politischen.Partizipationsrechten

2.5.5. Politische Gesinnungen in der Kommission

Neben Douglas Forsyth haben sich Manfred Hettling, Wal-ter Lüthi sowie Hans Joneli und Eduard Wyss mit den kan-tonalen Behörden des 19. Jahrhunderts befasst: Walter Lüthi erforschte die parteilichen und sozialen Strukturen des Grossen Rates sowie die parteiliche Struktur des Re-gierungsrates und der Bundesvertreter von 1875 bis 1914,741 Manfred Hettling, auf der Arbeit von Lüthi aufbauend, be-schäftigte sich mit Sozialstruktur und materiellem Status der freisinnigen und liberalkonservativen Grossratsfrak-tionen,742 und Hans Joneli und Eduard Wyss untersuchten partiell die soziale Zusammensetzung des Regierungsrates von 1875 bis 1925.743 Die Analysen der Räte demonstrieren auf struktureller Ebene die Funktionsweisen der drei Pha-sen, welche Kanton und Gemeinde im Untersuchungszeit-raum durchliefen: Restauration, Ratsherrenregiment und die Zeit freisinniger Vorherrschaft. Was die Arbeiten nicht abdecken, ist die Phase baslerischer Politik nach der Entste-hung des Bundesstaates bis 1875, als einmalig die drei poli-tischen Ebenen Gemeinde, Kanton und Bund koexistierten und konkurrierten. Walter Lüthi entwarf hingegen ein auf-schlussreiches Schema, aus dem die parteipolitische

Zu-741 Walter Lüthi, Struktur Grosser Rat 1875–1914 und ders., Freisinn.

742 Manfred Hettling, Politische Bürgerlichkeit, pp. 105–123.

743 Hans Joneli und Eduard Wyss, Statistik Regierungsratswahlen.

Tabelle.34:.Politische.Gesinnungen.der.KMG.nach.Stichjahren

Politische.Gesinnung../..Stichjahr 1828 1838 1846 1851 1858 1868 1878 1888 1902 1915

Anzahl.KMG 11 13 13 14 13 13 13 12 12 13

altgesinnt 2 0 0 0 0 0

patriotisch 2 1 1 1

liberalkonservativ 4 10 10 9 10 8 6 6 8 8

Zentrum 2 2 0 3 2 4 5 5 1

radikalliberal../..freisinnig 0 0 0 0 0 0 0 0 2 4

nicht.zuweisbar 1 0 1 1 1 1 1 1 1 1

Quelle: KMG 1825–1915, Feld „politische Gesinnung“

Tabelle.35:.Politische.Gesinnungen.der.KMG.nach.Phasen

politische.

Gesinnung../..Phasen Anzahl.KMG

altgesinnt../...

föderalistisch patriotisch

liberal-konservativ Zentrum

radikalliberal../...

freisinnig

nicht..

zuweisbar

1825–1915 95 5 2 53 20 6 9

1825–1875 67 5 2 35 18 1 6

1876–1915 28 18 2 5 3

Quelle: KMG 1825–1915, Feld „politische Gesinnung“

2.5. Politische Funktionen und Gesinnungen

150 2.5.5. Politische Gesinnungen in der Kommission 151

der 1831er-Verfassung die Freiheit als hinreichend verwirk-licht sah und den Radikalismus der aufständischen Land-schaft als Irrweg betrachtete.

Der Patriotismus in der jungen LG und der frühe Liberalismus

Mit der Helvetischen Gesellschaft, der einflussreichsten Re-formsozietät der Eidgenossenschaft im Ancien Régime, ver-fügte der Schweizer Patriotismus über ein solides und so-zial gut verankertes Sammelbecken. Der Patriotismus wies auch inhaltlich eine ausgeprägte Besonderheit auf. Er zog die gedankliche Linie von der Geschichte der mittelalterli-chen Eidgenossenschaft zur freiheitlimittelalterli-chen Politik in der Ge-genwart. Nicht nur für die Schweiz, auch für die ganze euro-päische Patriotismusbewegung des 18. Jahrhunderts wurde diese Enwicklungslinie zum Inbegriff: Das einfache Hirten-volk der Alpentäler konnte sich dank seiner natürlichen Ur-sprünglichkeit und seines Gemeinschaftssinns vom Joch und der Willkür der habsburgischen Vögte befreien und lebte seither in Freiheit. Den Freiheitsdrang der Schweizer erklärte man sich unter anderem mit ihrer naturverbunde-nen Lebensart und generell mit ihrer Nähe zum „Naturzu-stand“, einem von Rousseau entwickelten philosophischen Konzept, das einen glücklichen und freien Urzustand pro-pagierte, aus dem die Menschheit durch Vergesellschaftung ins Verderben gefallen sei. Schiller bearbeitete und popu-larisierte mit seinem 1804 erschienen Wilhelm Tell diesen Themenkreis. „Und frei erklär’ ich alle meine Knechte“, pro-klamierte die Figur des adeligen Bannerherrn, Freiherr von Rudenz, im letzten Satz des Theaterstücks.

Die Alten Eidgenossen waren den aufklärerischen Patri-oten Vorbild für politische Mitsprache und Freiheit. Erst die Helvetik mit ihrer nationalen Verfassung und ihren Kam-mern zwang Abgeordnete und Bevölkerung oder Reforman-hänger und -gegner dazu, Farbe zu bekennen: Republika-ner waren gemässigte Reformer und entstammten mehr-heitlich dem gebildeten städtischen Patriziat. Sie traten für partielle Neuerungen ein, wobei ihnen die Revolution, vor allem die jakobinische Schreckensherrschaft, als nega-tives Beispiel galt. Sie votierten gegen ausgedehnte Volks-rechte und wollten die Macht in die Hände einer aufgeklär-ten Bildungselite legen. In dieser Debatte manifestierte sich schon bald eine frühliberale Gruppe mit einem liberalen Programm. Als Opposition gegen die Patrioten und Repub-likaner formierte sich in der Republik die Föderalistenpar-tei, welche den Zentralstaat bekämpfte und für die Bewah-rung lokaler Eigenarten und die Souveränität der Kantone eintrat. Die Grenze zur Reaktion war fliessend. Auch zu den Föderalisten gehörten überwiegend Angehörige der haupt- und munizipalstädtischen Patriziate und der Innerschwei-zer Häuptergeschlechter. Die Gruppe der Unitarier auf der andern Seite entstand nach dem zweiten Staatsstreich von 1800 aus den zuvor verfeindeten Patrioten und

Republika-nern. Ihr Ziel war es, föderativ-restaurativen Vorstösse ent-gegenzutreten und den Einheitsstaat zu erhalten.

Bei den leitenden Personen der LG jener Phase (1787–

1800) traten patriotische, reformerische, teilweise auch revolutionäre Züge sehr deutlich zu Tage, und die LG lässt sich unzweideutig als Kristallisationspunkt der progres-siven Opposition charakterisieren. Bei den KMG bis 1800 herrschte der politische Patriotismus vor, wie aus der Pro-sopograhie der Mitglieder des leitenden Komitees der Grün-dungszeit hervorgeht.754 Eine Sonderstellung in der LG nahm der Anführer der Patrioten, Peter Ochs, ein. Johann Heinrich Wieland, der spätere liberale Bürgermeister Ba-sels, gehörte zu den Mitstiftern der LG. Ochs, Wieland, Jo-hann Lukas Legrand, Samuel Ryhiner, JoJo-hann Jakob Faesch, Johann Friedrich Miville und Johann Wernhard Huber wur-den hohe Funktionäre der Helvetischen Republik. Mit wur-den drei Letztgenannten waren radikalrevolutionäre, jakobi-nische Tendenzen in der LG präsent. Nur drei der 28 KMG jener frühen Phase konnten eindeutig als Föderalisten be-stimmt werden: Andreas Merian, Hieronymus Christ und Jakob Friedrich David. Interessanterweise war Andreas Me-rian auch KMG. Merian war der Wortführer der konserva-tiven Reaktion, einflussreichste Persönlichkeit in der Bas-ler Politik nach 1803 und GegenspieBas-ler von Peter Ochs. Im Gegensatz zu Ochs versah er in der LG aber keine der höhe-ren Chargen und wirkte mit nur drei Jahhöhe-ren – gemessen an der durchschnittlichen Amtszeit – nur äusserst kurz in der Kommission mit. Die aufklärerische Opposition formierte sich in Basel, wie vielerorts in Deutschland und der Schweiz, im Lesekabinett, das zum Sammelpunkt der Patriotenpar-tei und später zum Stützpunkt der Helvetischen Republik in Basel wurde.755

Die seit dem Ancien Régime starke, aufklärerische Frak-tion756 ging zu Beginn des 19. Jahrhunderts weltanschau-lich allmähweltanschau-lich in den Liberalismus über. In der Selbst- aber auch Fremdwahrnehmung waren die Basler Patrioten und die nachfolgenden Liberalen seit dem Ancien Régime aus-gesprochen national orientiert.757 Man fühlte sich schwei-zerisch, fortschrittlich und freisinnig. Meilensteine patrio-tischer Geschichte waren Iselins Stiftung der Helvetischen Gesellschaft, die Wirksamkeit Ochs’ und Legrands in der Helvetik und das Eintreten Wielands am Wiener Kongress

754 Punkt 3.9. in Anhang A.

755 Vgl. Daniel Kriemler, Lesegesellschaft, pp. 191 ff.

756 Erika Hebeisen stellt fest, dass für die Ausbildung der modernen Schweiz, die neuere Helvetikforschung, mit Blick auf den Umbruch von 1798, Basel eine Art Vorreiterrolle zuschreibt; Vergesellschaftung, p. 210.

757 Dazu vgl. zum Beispiel Max Burckhardt, Der Ratsherr Andreas Heusler (1802–1868) als jugendlicher Patriot und Aufklärer, pp. 209 und 213 f. Der Libe-rale Karl Burckhardt-Paravicini meinte 1831: „Auch ich nähre schon längst den Wunsch einer festern Vereinigung unseres schweizerischen Bundeslandes und kenne in meinem Kanton schon viele Männer, welche den selben mit mir theilen.“;

Basel unter seinen Miteidgenossen, p. 22.

lutismus sowie die Patrioten und Althelvetiker praktisch aus der Kommission. Wie die Stichjahre besonders bis 1858, aber auch der ganze Zeitraum von 1825 bis 1915 deutlich ma-chen, waren es Liberalkonservative, welche in der Kommis-sion vorherrschten. Führende Vertreter dieser Gesinnung der ersten Jahrhunderhälfte wie die Bürgermeister Karl Burckhardt-Paravicini (3) und Felix Sarasin-Burckhardt-(-Brunner) (5), aber auch Kleinräte wie Peter Merian-Thur-neysen (2), Wilhelm Vischer-Bilfinger (15) und August Burck-hardt-Wick (14) amtierten alle einmal als Präsidenten der LG. Neben Kleinrat Andreas Heusler-Ryhiner und Johannes Schnell-Riggenbach bekleidete auch Jakob Burckhardt (58) in den Jahren 1844–46 den Ehrenposten eines Bibliothekars der „Vaterländischen Bibliothek“, welche die LG 1827 erwor-ben hatte.

Heute ist in der Lokalgeschichte folgende Sicht auf die Zeit zwischen 1830 und 1875 stark verbreitet, die sich in etwa so skizzieren lässt: Die Regeneration ist an der Stadt Basel vorbeigezogen, da sich ein konservatives Patriziat gegen den liberalen Fortschritt sperrte und wegen seiner Hals-starrigkeit in Konflikt mit der radikalen, mehr Mitbestim-mungsrechte einfordernden Landschaft geriet. Die regene-rierte Eidgenossenschaft ergriff Partei für die aufständische Landschaft und stand ihr beim Kampf gegen die reaktio-näre Stadt keinesfalls im Weg. Nach der von der Tagsatzung verordneten Trennung wurde im verbliebenen Stadtkan-ton mit dem sogenannten Ratsherrenregiment ein konser-vatives Herrschaftssystem fortgesetzt, das erst vom volks-nahen Freisinn 1875 gestürzt wurde. Geht man von dieser Perspektive aus, mag es paradox erscheinen, wenn eine der wichtigsten und grössten Sozietäten des Basler Bürgertums schon in den 1820er-Jahren, und bis über das Jahr 1875 hin-aus von Liberalkonservativen geleitet worden sein soll. Die-ser Sichtweise lassen sich nun Stimmen entgegensetzen, die darauf hinweisen, auch in Basel habe mit der Regeneration ein Umbruch stattgefunden, und der neue Stadtkanton sei von einem Liberalismus konservativer Art organisiert und geführt worden. Martin Maurer beispielsweise betonte, dass im Konflikt zwischen den landschaftlichen Aufständischen und dem städtischen Bürgertum nicht eine überkommene städtische Aristokratie auf eine radikalisierte Landbevölke-rung prallte, sondern in der Stadt, im Vergleich zu anderen Orten, ein fortschrittliches, liberal-konservatives Bürger-tum geherrscht habe;748 Georg Kreis spricht für die Zeit nach 1833 vom liberal-konservativen Stadtkanton749, Lionel Goss-man vom liberal-konservativen bürgerlichen HuGoss-manismus der Oberschicht750 und Sara Janner von den „Liberalen“ als

748 Martin Maurer, Soziale Differenzierung, pp. 138–142.

749 Georg Kreis, Bürgertum und Freisinn, p. 90 f.

750 Lionel Gossmann, Basel in der Zeit Burckhardts, p. 115.

den Begründern des Ratsherrenregiments.751 Um plausibel zu machen, dass die liberalkonservativen KMG der LG nicht eine politische Randgruppe im Kanton bildeten, sondern ihre Gesinnung mit ausgedehnten Teilen der Bürgerschaft teilten, muss an dieser Stelle etwas ausgeholt werden. Es soll dabei auch die 1831er-Verfassung zur Sprache kommen. Wie schon im einleitenden Kapitel über die vorherrschenden politischen Richtungen im Bürgertum dargelegt, waren „li-berale“ Verfassungen eine Art Katalysator und Kernstück der von den bürgerlichen Bewegungen angestrebten Gesell-schaftsform. Verfassungen standen auch im Kern der Revo-lutionen oder revolutionsähnlichen Bewegungen in mehre-ren Kantonen der Schweiz der frühen 1830er-Jahre, weshalb sie auch als „Verfassungsrevolutionen“ bezeichnet worden sind.752 Während in den 1820er-Jahren die bürgerliche Werte-welt und bürgerliches Handeln erprobt und entwickelt wor-den waren, gelang liberalen Kräften mit der Regeneration der Durchbruch des Sozialmodells der bürgerlichen Gesell-schaft.753 Für Basel kann anhand seiner zeitgleichen Verfas-sung gezeigt werden, dass auch dort die bürgerliche Gesell-schaft zumindest partiell verwirklicht wurde, da effektiv zahlreiche liberale Postulate in das Gesetzeswerk Eingang fanden. Es besteht daher guter Grund, über den politischen und sozialen Charakter des Ratsherrenregiments nachzu-denken. Mit der Fokussierung auf dieses Grundgesetz greife ich auch den verfassungsgeschichtlichen Argumentations-strang auf, den ich bereits für die Eingrenzung und Positi-onierung der Mitgliedschaft der LG in ihrem Kontext ver-folgt habe. Dagegen berücksichtige ich die vielschichtigen Ereignisse vor und nach seiner Erhebung zur Verfassung im Februar 1831 nur punktuell oder summarisch.

Zwölf Kantone gaben sich zu Beginn der 1830er-Jahre neue Verfassungen. Der genaue Blick auf die Basler Kons-tituante und der Vergleich mit den Verfassungen anderer Kantone soll zeigen, in welchem Mass das Ratsherrenregi-ment auf bürgerlicher Grundlage beruhte. Dass im europä-ischen Bürgertum und in der Schweiz, besonders während der Regeneration, liberale und radikal-demokratische Kon-zepte von Freiheit konfligierten, wurde einleitend vor al-lem durch Andreas Suters Untersuchungen am Beispiel des Kantons St. Gallen gezeigt. Dort, wie anderswo, fanden sich Liberale und Radikale im Kompromiss. In Basel wurden die politischen Kontrahenten zu Kriegsparteien, die am Ende unversöhnt verschiedene Wege gehen mussten. Die liberal-konservative Position war in jener Phase in der LG sehr gut vertreten. An ihren Exponenten wird im abschliessenden nächsten Kapitel (2.5.6.) noch zu zeigen sein, dass man mit

751 Sara Janner, Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust, p. 34.

752 Ursula Meyerhofer, Von Vaterland, Bürgerrepublik und Nation, p. 128.

753 Vgl. Albert Tanner, Direkte Demokratie, p. 185 und Ursula Meyerhofer, Va-terland, Bürgerrepublik und Nation, pp. 127 f.

2.5. Politische Funktionen und Gesinnungen

152 2.5.5. Politische Gesinnungen in der Kommission 153

Martin Schaffner waren die altgesinnten Kräfte mehrheit-lich in der Stadtgemeinde konzentriert (Kap. 2.5.4.3.). Das Anheben der Volksbewegungen im Jahr 1830 goss Wasser auf die Mühlen der Basler Stadtliberalen, da nun die bisher vergebens gewünschte Revision in Gang kam – ein Anlauf dazu wurde bereits 1829 unternommen und von der Regie-rung verschleppt. Nach einem ähnlichen Muster wie in an-dern Regenerationskantonen verlief auch im Kanton Basel der zur Generalrevision der Verfassung führende Vorgang:

Einflussreiche Notabeln der Landschaft trafen sich zweima-lig in Bubendorf und arbeiteten schriftliche Petitionen zu-handen der Regierung in Basel aus.

Die 1831er-Verfassung

Erste Prioritäten der Bittschriften waren die Reorganisa-tion des Vertretungsverhältnisses von Land und Stadt nach Kopfzahl und das allgemeine Wahlrecht. In der Stadt dräng-ten Althelvetiker und der Kreis der Liberalen auf die schleu-nige Revision hin. Unter dem Eindruck der gewaltigen Volks-versammlungen, die in fast allen Mittellandkantonen statt-fanden und deren grösste mit über 10 000 Teilnehmern die-jenige von Uster war, lenkten die Räte ein. Den Vorschlag der Regierung, dem Land künftig 79 und der Stadt 75 Sitze im Parlament zu geben, nahm der Grosse Rat an und bestellte eine parlamentarische Verfassungskommission ein, die auf dieser Grundlage arbeiten sollte. Sie war mit sieben Land-bürgern und sieben StadtLand-bürgern besetzt und wurde von Wieland präsidiert. Zum Termin, an dem der Grosse Rat den Entwurf erstmals beraten sollte, wurde von Baselbieter Ra-dikalen zu einer bewaffneten Landsgemeinde aufgerufen;

2000–3000 Männer folgten dem Appell. An die Räte erging ein Ultimatum, es müssten innerhalb von 24 Stunden ein Verfassungsrat nach der Kopfzahl gewählt und dem Land nach ihrem Bevölkerungsanteil 5 / 7 der Parlamentssitze zu-gewiesen werden. Nach der berüchtigten Versammlung in der Martinskirche noch am gleichen Tag bewaffneten sich die städtische Bürger- und Einwohnerschaft, ein Faktum, das in anderen schweizerischen Hauptstädten ohne Nach-ahmung blieb und dem Verlauf der Ereignisse eine eigene Dynamik gab.765 In Liestal wurde eine Gegenregierung ge-wählt, welche Auszug und Landwehr aufbot, woraufhin die Basler Regierung Truppen entsandte und die unorganisierte landschaftliche Miliz ohne Mühe zersprengte und Liestal besetzte. Einige Wochen später, im Februar 1831, nahmen die Stimmberechtigten des Kantons den ausgearbeiteten Vor-schlag für die neue Verfassung an. Von den 1507 Stadtbür-gern stimmten alle bis auf vier, von den 6800 LandbürStadtbür-gern 4343 für den Entwurf.

Paul Burckhardt meinte zur angenommenen Verfas-sung, dass diese nicht weniger liberal war als die der

meis-765 Vgl. auch Paul Burckhardt, Geschichte der Stadt Basel, p. 168.

ten regenerierten Kantone.766 Carl-Gustav Mez vertrat eben-falls die Meinung, die Revision brauche den Vergleich mit andern liberalen und regenerierten Verfassungen nicht zu scheuen, und lieferte eine lange Liste neuer, von der Revi-sion hervorgebrachter Rechtsinstitute767: Die Mitgliedschaft zur Eidgenossenschaft wurde festgeschrieben, die Souverä-nität der Stimmbürgerschaft und das Prinzip der repräsen-tativen Demokratie verankert und die Rechtsgleichheit ga-rantiert; die bestehenden Ungleichheiten zwischen altein-gesessenen Bürgern und Neubürgern wurden aufgehoben und bürgerliche Freiheitsrechte geschützt: die Eigentums-garantie, die Niederlassungsfreiheit innerhalb des Kantons, das Presse- und Petitionsrecht sowie die Garantie eines ge-setzmässigen Gerichtsverfahrens und eines ordentlichen Richters; freie Berufswahl wurde zugesichert; wer die refor-mierte Konfession aufgab oder eine gemischte Ehe einging, sollte die bürgerlichen Recht nicht mehr verlieren; erstmals war der Grundsatz der Gewaltentrennung in der Verfassung enthalten, und das Appellationsgericht wurde vom Gross-ratsausschuss zur eigenständigen Behörde umgewandelt;

die Grossräte wurden definitiv nicht mehr auf Lebenszeit gewählt, sondern nur noch für sechs Jahre, wobei alle zwei Jahre Partialerneuerungen durchgeführt werden sollten;

die Kompetenz des Parlaments wurde bedeutend erweitert und die Öffentlichkeit der Ratsversammlungen eingeführt;

auch die Amtsdauer der Kleinräte wurde auf sechs Jahre festgelegt; erstmals wurden Normen über die Revidierbar-keit der Verfassung aufgenommen. 1833, nach der Kanton-strennung, passte man die Verfassung den neuen Verhält-nisse an, ohne ihren Charakter zu verfälschen und grosse Änderungen vorzunehmen. Neu aufgenommen wurde zusätzlich das Recht auf freie Religionsausübung für alle christlichen Konfessionen.

Irène Hermann rechnet die Basler Verfassung impli-zit zur Regeneration, denn sie erscheint in einer Liste der regenerierten Verfassungen. In der Tabelle der Errungen-schaften in den verschiedenen regenerierten Verfassun-gen schneidet die baslerische allerdings nicht glänzend ab:

Während beispielsweise Zürich in der Tabelle mit 12 neuen Rechten, Freiburg und Schaffhausen mit je 11 und Solothurn mit 8 auftaucht ist Basel nur mit 6 Errungenschaften ver-zeichnet.768 Vergleicht man die Liste mit der Aufzählung von Mez, müssen auch das Recht auf gemischte Ehen, die Eigen-tumsgarantie und die bedingte Glaubens- und Gewissens-freiheit zu den Errungenschaften Basels gerechnet werden, womit Basel sich hinsichtlich der Anzahl neuer Rechte wie-der den anwie-deren Kantonen annähert. Selbst was die in

Ka-766 Ebd., p. 176.

767 Carl-Gustav Mez, Verfassung 1875, pp. 29–34.

768 Irène Hermann, Zwischen Angst und Hoffnung, pp. 390 f., „Vergleichende und chronologische Tabelle der Errungenschaften in den verschiedenen rege-nerierten Verfassungen“.

für die Neutralität der Schweiz. Wie kein anderer verkör-perte für die ältere Geschichtsschreibung Johann Heinrich Wieland, Bürgermeister von 1812 bis 1832, den liberalen Geist Basels während der Restauration: „Und wenn Basel in den zwanziger-Jahren seinen liberalen Traditionen treu geblie-ben ist, so darf auch dies als ein Verdienst Wielands angese-hen werden“, meinte beispielsweise der liberalkonservative Historiker und Regierungsrat Albert Burckhardt 1898.758 In den 1820er-Jahren genoss Basel in der Schweiz den Ruf als liberalste Stadt, als veritables Liberalen- und Demago-gennest.759 Andreas Staehelin beschrieb die „massgebliche Schicht“ jener Phase mit den Bezeichnungen „Erben der Auf-klärung“ und „Altliberale“, von denen nicht wenige alte „Hel-vetiker unitarischer Richtung“ gewesen seien.760 Mit der er-starkenden bürgerlich-liberalen Bewegung in Europa nach den napoleonischen Kriegen (Kap. 2.5.1.) bildete sich auch in Basel innerhalb der jüngeren Generationen eine neue Oppo-sition heraus. Sie stand zu den älteren Patrioten, deren re-formerischer Elan sich durch die Revolutions-, Besatzungs- und Kriegserfahrungen sehr abgemildert hatte, nicht in scharfem Widerspruch. Diese Gruppe wird in der Literatur unisono als die „Liberalen“ bezeichnet, und es heisst in aller Regel, sie hätten einen sehr gemässigten, zahmen und auf Reformen bedachten Kurs vertreten. Alfred Kölz nennt jene reformerischen Gruppen, die sich in mehreren Hauptstäd-ten der Stadtkantone bildeHauptstäd-ten, „Stadtliberale“.761

Neben den liberalen oder radikalen Intellektuellen länd-licher Gebiete und der breiten, über keine höhere Bildung verfügenden, ländlichen Bevölkerung waren sie für Kölz die dritte Reformkraft der Regeneration. Diese meist jün-geren Angehörigen führender Familien hatten weniger ei-gene materielle Motive, sondern waren aus intellektueller Einsicht von der Notwendigkeit gewisser Reformen über-zeugt; sie vertraten vor allem liberale staatspolitische An-liegen und kaum demokratische, soziale oder wirtschaftli-che Postulate, aus denen vorwiegend die breiten der Mittel- und Unterschicht zugehörigen Bevölkerungsteile unmit-telbaren Nutzen hätten ziehen können.762 Sie orientierten sich mehr an Montesquieu und Constant, der französischen

„Charte“ vom Juli 1830 und am Parlamentarismus Englands als an Rousseau und den radikaldemokratischen und sozi-alpolitischen Gedanken der Revolutionszeit. Eine stärkere Reibungsfläche boten den Stadtliberalen die konservativen und religiös-konservativen Kreise der Stadt. „Altgesinnte“

758 Johann Heinrich Wieland; in: ADB, www.deutsche-biographie.de.

758 Johann Heinrich Wieland; in: ADB, www.deutsche-biographie.de.