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von. KMG

2.5. Politische Funktionen und Gesinnungen

2.5.4. Politische Partizipation in Kanton, Gemeinde und Bund und

Mitgliedschaft in der LG

Die Mitgliedschaft war während des ganzen untersuchten Zeitraums mit hohen Politikern durchsetzt. In der Kommis-sion sassen bis 1875 viele amtierende oder angehende hohe Funktionäre, danach nur noch wenige. Von den politisch tä-tigen KMG machte die grosse Mehrheit Karriere auf kanto-naler und, in viel geringerem Umfang, auf Gemeinde- und Bundesebene. Dies führt zu dem Schluss, dass die LG, ihre Mitgliedschaft und Kommission bis 1875 sehr eng mit der Kantonspolitik verwoben war. Um die freigelegte Struk-tur zu interpretieren, sollen die Elektorate, genauer gesagt die Bedingungen für aktives und passives Mitwirken auf den drei politischen Ebenen von Kanton, Gemeinde und Bund während des 19. Jahrhunderts fokussiert und unter-sucht werden. Warum aber gerade die Partizipationsrechte?

Der Gewinn ihrer Analyse für die vorliegende Studie ist ein mehrfacher: Zum einen wird fassbar, wen die Politiker in der LG eigentlich vertraten beziehungsweise für welche (Wähler-)Gruppen der städtischen Bevölkerung sie standen und sprachen. Darüber hinaus sagt die Identität der Wäh-lerschaften etwas über die Identität der Gewählten aus, und ihre Anzahl und Positionen in Kommission und Mitglied-schaft wiederum klärt über den Charakter der LG und ihrer Teilnehmerschaft auf. Zum andern war die Mitgliedschaft in der LG durch die gleichen Parameter, welche die politi-sche Partizipation strukturierten, bedingt (Kap. 1.1.). Nicht zufällig liegen die grösseren Statutenrevisionen der LG von 1833 und 1877 in zeitlicher Nähe grundlegender Revisionen der Kantonsverfassung. Die Verfassungsgeschichte spielte für die politische Geschichte Basels und der Schweiz im 19. Jahrhundert generell eine wesentliche Rolle, denn die politischen Konflikte der Epoche drehten sich in aller Regel um die Konstituante und mündeten in Revisionen. Ziel der bürgerlichen Bewegungen war es schliesslich auch, das

an-visierte bürgerliche Gesellschaftsideal mittels einer Verfas-sung zu fixieren.

Im ersten Unterkapitel werden die politische Partizi-pation bedingenden Faktoren nach fünf Gesichtspunkten gegliedert und analysiert: 1. Wahlsystem, 2. formale Vor-aussetzungen, 3. individuelle VorVor-aussetzungen, 4. Erweite-rungen der politischen Rechte und 5. Mitsprache und Mit-bestimmung aus den Blickwinkeln von Kanton, Gemeinde und Bund. Die Grundlage dieser Analysen bildet das Kapi-tel 3.6. in Anhang A, in welchem die Faktoren der aktiven und passiven Berechtigung im chronologischen Überblick aufgeführt sind. Im zweiten Unterkapitel werden die im ersten Teil ermittelten statuarischen Bedingungen für die Mitgliedschaft mit den Voraussetzungen für die politische Partizipation in Zusammenhang gebracht und verglichen.

Im Kern des abschliessenden dritten Unterkapitels steht ein Vergleich der in der LG vorkommenden Berufsgruppen mit den kantonalen Räten bis 1847. Er soll darüber aufklären, in-wiefern die berufliche Struktur der Mitgliedschaft diejenige der Räte widerspiegelt, also mit ihnen übereinstimmt oder von ihnen abweicht. Die Verbindung der Mitgliedschaft mit der Stadtgemeinde ist weitaus weniger stark ausgeprägt. Ge-rade deswegen kann mittels einer Fokussierung auf die so-ziopolitische Stellung der Stadtgemeinde die Mitgliedschaft der LG besonders prägnant charakterisiert werden.

2 5 4 1 . Faktoren.politischer.Berechtigung.in.

Kanton,.Stadt.und.Bund.im.19 .Jahrhundert

Die Helvetischen Verfassungen setzten dem während der Reformation etablierten oligarchischen System Basels ein Ende.646 Die Mediationsverfassung des Kantons von 1803 reetablierte die Zustände des Ancien Régime teilweise: Sie schaffte das helvetische Staatsbürgerrecht wieder ab, setzte die Ortsbürgerrechte erneut in Kraft und gab den Zünften ihre alte Funktion als Berufs- und Standesinnungen so-wie Wahl- und Wählergremien der städtischen und kanto-nalen Räte zurück. Dennoch brach die Mediation mit der feudal-ständischen Ordnung. Gewaltentrennung und das Repräsentationsprinzip blieben erhalten, und das Koopta-tionsmodell, auf dem die politische Hierarchie vor der Re-volution beruhte, wurde abgeschafft. Beispielsweise ent-schied von nun an die Zunftgemeinde und nicht mehr der

646 In die Lücke, welche die Patrizier zu Beginn des 16. Jahrhunderts hinter-liessen, rückte eine kleine Oberschicht der Zünfte nach. Sie waren es, welche das oligarchische System ihrer adeligen Vorgänger zu seiner höchsten Vollendung führten. Den reformatorischen Bilderstürmern gelang es nicht, die auf Koop-tion der Zunftvorstände und Räte fussende oligarchische Verfassungsstruktur zu beseitigen. Der Einfluss der Zunftgemeinden bei der Mitbestimmung von Vorständen und Abgeordneten wurde massiv zurückgedrängt. Auch die Revo-lution von 1691 brachte den Zunftgemeinden nur für wenige Jahre das Wahl-recht ihrer Vorstände; vgl. Martin Alioth, Politisches System bis 1833, pp. 31–33.

konnte folglich die politische Karriere ermöglichen und fördern.643 Wurde sie angetreten und eine hohe Stellung er-reicht, blieben die KMG der LG als Mitglieder treu: Die Mit-gliedschaft war mit hohen Politikern durchsetzt. Bis 1902 amteten zwischen 36 % und 70 % der KMG als hohe Funk-tionäre in Kanton, Stadt und Bund, danach ging ihr Anteil bis auf wenige Prozente zurück. Die Politiker des radika-len, auf Volkssouveränität abgestellten Staates waren zwar durchaus Mitglieder in der Lesegesellschaft.644 Nur noch selten aber ist die Tätigkeit in der Kommission eine frühe Stufe zu ihrem Aufstieg gewesen. Diese prinzipielle Verän-derung veranschaulicht der Vergleich der Stichjahre 1838 und 1878. 1838 waren fast 50 % der hier als „höchste Politi-ker“ Definierten auch Mitglieder der LG, davon 11 von 15 Re-gierungsmitgliedern. In der Kommission sassen neun teils angehende Politiker. 1878 waren sogar 70 % hohe Politiker und 5 von 7 Regierungsräten Mitglieder. In der Kommission jedoch haben zwischen 1876 und 1915 nur 3 zukünftige Poli-tiker Einsitz.

2 5 3 2 . Kanton,.Gemeinde,.Bund

Bei den KMG spiegelt sich wider, was bei den Mitgliedern festgestellt wurde: der klare Vorrang der kantonalen Abge-ordneten. Die 49 politisch Tätigen übernahmen 89 Mal ein Amt in der kantonalen, nur 6 Mal in der Gemeinde- und 8 Mal in der Bundesadministration. Frappant ist der Unter-schied der Legislativen und Exekutiven zwischen Kanton und Stadt. In der ersten Phase, die sich bis zur Auflösung der Stadtgemeinde hinzog, stellten die Kantonsbehörden in der LG 30 Grossräte und 13 Kleinräte, die Stadt 2 Kleine Stadträte

643 Nach Dorothea Roth sei es im alten Basel (sie spricht von der vor ihrem Untersuchungszeitraums 1875–1914 liegenden Phase!) ein ungeschriebenes Ge-setz gewesen, dass angehende Politiker sich durch freiwillige Arbeit in der Ver-waltung der Gemeinnützigen Gesellschaft (GGG) ihre Erfahrungen für spätere Tätigkeiten in der Regierung und im Parlament erworben hätten. „So bildete die Gemeinnützige innerhalb des staatlichen Organismus in nuce gleichsam einen eigenen Staat“, Liberal-Konservative 1875–1914, p. 70. Die Befunde zeigen, dass jenes ungeschriebene Gesetz auch für die LG seine Anwendung hatte. Lüthis Be-fund, dass die politische Karriere in Basel mit der Wahl in den Grossen Rat be-gann (Struktur Grosser Rat, 2. Teil, p. 175.), muss dahingehend ergänzt werden, als dass die frühe Mitarbeit in der Kommission eines der grossen bürgerlichen Vereine zum politischen Weg der liberalkonservativen Bürger üblicherweise dazugehörte. Manfred Hettling sieht eine der zentralen Funktionen der gesel-ligen Vereine Basels für die Jahrzehnte nach 1875 in der Selektion und Protek-tion von Bewerbern für politische Ämter. Er geht davon aus, dass die Aspiranten mehrheitlich aus den selben sozialen Kreisen stammten, weil es nur dadurch möglich war, dass diese Organisationen Männer mit einem gemeinsamen Hab-itus prägten; Politische Bürgerlichkeit, p. 111.

644 Nicht alle Politiker der freisinnigen Ära zwischen 1875 und 1915 sind Frei-sinnige. Wie schon vor 1875 beruht das politische System Basels auch nach dem Systemwechsel von 1875 auf dem Konkordanzprinzip, und es regieren und ver-walten den Staat verschiedene Parteien gemeinschaftlich. Wie in Kapitel 2.3.3.

gezeigt, sind Exponenten des liberalen Radikalismus in der Mitgliedschaft nur vereinzelt mit dabei.

und gerade mal 1 Grossen Stadtrat. In Tabelle 33, Spalte 2, sind für die zweite Phase unter dem Titel „Stadtgemeinde“

der Engere und der Weitere Bürgerrat verzeichnet. Dies wa-ren die Organe der 1878 gegründeten Stadtbürgergemeinde, die nur in sehr reduziertem Umfang die politischen Aufga-ben der früheren Stadtgemeinde fortsetzten, aber doch in deren Tradition standen. Das Verhältnis verbesserte sich hier etwas: 7 Grossräten standen immerhin 3 Weitere Bür-gerräte gegenüber.

Gesandte an die Tagsatzung waren in aller Regel Bür-germeister oder Kleinräte. Die Funktion bestand bis 1848, war kein andauerndes Amt, sondern ein einmaliger Auf-trag, wurde tendenziell einflussreichen und angesehenen Persönlichkeiten in der Regierung übertragen und war mit hohem Prestige verbunden. Alle vier Bürgermeister aus der LG-Kommission waren auch Tagsatzungsabgeordnete (2, 3, 5 und 51). Ein weiterer Kleinrat, Johann Georg Fürsten-berger-Debary (11), wurde mit dieser höchsten aussenpo-litischen Mission beauftragt. Der Kommission der LG ge-reichten solche Gesandtschaften ihrer KMG zum auszeich-nenden Prädikat und Indikator für den hohen Wert eines Kommissionsmandates. Ansonsten spiegeln die KMG, was bereits für die Mitgliedschaft nach 1848 festgestellt wurde:

Bundesvertreter waren in der LG spärlich anzutreffen.

Keiner der 3 Männer, die Basel bis 1875 in den Nationalrat schickte, und gerade 1 der 21 Nationalräte, die zwischen 1876 und 1915 nach Bern reisten, sassen je in der Kommission.

Dieser eine Nationalrat war Isaak Iselin-Sarasin (78). Bei den Standesvertretern fällt die Bilanz besser aus. Mit Johann Ru-dolf Merian-Bernoulli (48) und August Stähelin-Vischer (29) sassen bis 1875 2 der 5 Ständeräte einmal im Komitee der LG, was aber für keinen der 4 Ständeräte zwischen 1876 bis 1915 mehr zutraf.645

Den zeitweise hohen Grad an Übereinstimmung zwi-schen der Kommission der LG und den Kantonsbehörden illustrieren die 4 Bürgermeister in Tabelle 33. 1832 wurde erstmals ein ehemaliges KMG Bürgermeister. Ohne Unter-bruch besetzten bis 1862 vormalige KMG eine der beiden Bürgermeisterstellen, zwischen 1849 und 1859 sogar beide.

Es waren dies Karl Burckhardt-Paravicini (3) 1832–1847, Felix Sarasin-Burckhardt (-Brunner) (5) 1847–1862 und Johann Ja-kob Burckhardt-Paravicini (52) 1849–1859. Das vierte KMG wurde nie amtierender, sondern nur stellvertretender Bür-germeister, dafür aber mehrmals für kurze Phasen: Peter Merian-Thurneyssen (2). Alle 4 sassen rund 10 Jahre in der Kommission, Merian, Burckhardt und Sarasin als Präsiden-ten. Ihre Präsidien lösten einander nicht nur ab, sondern waren über das Statthalteramt gewissermassen ineinander

645 Vgl. Tabelle 33, Spalte 1 und DB „KMG 1825–1915“ in Anhang B; zu den Nati-onal- und Ständeräten siehe Datenbank der Ratsmitglieder seit 1848, www.par-lament.ch / d / suche / seiten / ratsmitglieder.aspx.

2.5. Politische Funktionen und Gesinnungen

134 2.5.4. Politische Partizipation in Kanton, Gemeinde und Bund und Mitgliedschaft in der LG 135

machte, Hintersassen ohne Bürgerrechtsbrief verloren ihre Rechte wieder. Im Kanton zünftig (Zunftzwang!) und damit berechtigt wurde jeder volljährige Bürger einer Basler Ge-meinde an seinem Wohnort. Folgenreich war, dass die Res-taurationsverfassung von 1814 das territoriale Prinzip der Partizipation im Staat, konkret die Entkoppelung von Bür-gerrecht und Wohnort, wieder rückgängig machte, und die politischen Rechte an Staat und Gemeinde nur in der Hei-matgemeinde ausgeübt werden durften. Davon betroffen waren vor allem die vielen in der Stadt niedergelassenen Landbürger. Zum einen hatten sie das Handicap der Distanz zwischen Wohn- und Heimatgemeinde zu überwinden, das heisst, an den Wahltagen mussten sie vor Ort sein und konn-ten demnach in der Heimatgemeinde nur schwerlich solch ein Amt versehen. Zum andern ging ihnen die Berechtigung an ihrem Wohnort abhanden. Bereits 1803 hatten die Land-bürger in der Stadtgemeinde die passiven Rechte eingebüsst, und 1814 verloren sie auch weitestgehend die aktiven.653 1848 wurde die Ortsbindung als Grundlage der Berechtigung abgeschafft, indem jeder Schweizer Bürger im Kanton, in dem er niedergelassen war, die politischen Rechte für Kan-ton und Bund erhielt. Die Mitsprache in der Wohngemeinde blieb Ortsbürgern vorbehalten.

Bis 1847 waren Volljährigkeit (24) oder Mündigkeit (mit der Heirat) Bedingungen für beide politischen Rechte. Da-nach galten schon die 20-Jährigen als Aktivbürger und von 1889 an auch als Passivbürger.

2 5 4 1 3 . Meritokratische.Faktoren:.politische.

Partizipation.nach.sozialer.Schichtung

Berufliche Selbständigkeit, ökonomische Unabhängigkeit, sittliche Integrität und akademische Bildung waren die ent-scheidenden Faktoren, welche bis 1875 in unterschiedlicher Gewichtung und Kombination die politische Partizipation der Bürger mit organisierten. Die sittlichen Vorgaben grenz-ten bis 1875 Arme, Bankrotteure und Strafverurteilte von der Politik aus, auch wenn sie die formalen Bestimmungen ansonsten erfüllten. Mit Anforderungen an Berufsstand, Vermögen und Bildungsgrad partitionierten die Kantons-verfassungen die Bürgerschaft in mehrere Gruppen, die in hierarchischer Abfolge von oben nacheinander inkludiert wurden. Das meritokratische Modell von 1803 wurde da-mit zwar schrittweise gelockert und erweitert, aber erst 1875 durch ein egalitäres System ersetzt.

Die Verfassungen von 1803 und 1814 legten die Messlat-ten hoch und schlossen ins politische Geschehen nur eine kantonsweite Oberschicht von Bürgern mit ein, die

beruf-653 Vgl. Sara Janner, Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust, pp. 79 und 95 f. Mit der Reorganisation der Stadtgemeinde von 1828 wurde jede Mitstimmung nichtbürgerlicher Gemeindeeinwohner ganz beseitigt und die be-reits 1803 auf ein Wahlorgan reduzierte Einwohnergemeinde schliesslich auf-gelöst; ebd., p. 85 und 128.

lich selbständig und vermögend waren. Vielen Einwohnern mit bildungsbürgerlichen Berufen, vor allem den im Staats-dienst stehenden Akademikern (Universitätslehrer, Geistli-che, beamtete Juristen), blieb der Zugang verwehrt – die Er-weiterung der Wählbarkeit für Bildungsbürger prägte die politischen Diskurse der 1820er- und frühen 1830er-Jahre.654 Die Verfassungen von 1831 und 1833 – Carl Gustav Mez nennt sie „die Regenerationsverfassungen“ – weisen nur sehr ge-ringfügige Unterschiede auf. Sie senkten die sozialen Barri-eren für den Eintritt in die Wahlzünfte massiv, indem der Zensus dafür abgeschafft wurde und die Standesbedingun-gen nur noch Dienstboten ausschlossen. Bei den Zunftwah-len von Stadt und Land waren nun neben den Wirtschafts-bürgern auch die grossbürgerlichen Bildungsbürger und der kleinbürgerliche Alte Mittelstand inklusive den abwarten-den Diensten berechtigt.

Anders sah es bei den neu eingeführten Bezirkswahlen aus, bei denen die Mehrheit der Räte gewählt wurde. In die-ses Elektorat aufgenommen wurden nur die Bildungsbür-ger, explizit die Staats- und Kommunalbeamten, die Ärzte, Notare oder generell diejenigen, die über einen akademi-schen Grad verfügten. Ebenfalls Aufnahme fanden der Alte Mittelstand beziehungsweise die Handwerker und Gewer-betreibenden, welche statt über Bildung über ein gewisses Vermögen oder Einkommen verfügten und den für Nichta-kademiker bestimmten Zensus erfüllen konnten. Prinzipi-ell ausgegrenzt blieb mit den Dienstboten und den abwar-tenden Diensten die untere Schicht der Stadtbürgerschaft, ebenso wie die sozial Stigmatisierten, die Hintersassen, die Schweizer ohne Basler Bürgerrecht und ausländische Bür-ger. Auch die Schranken der Wählbarkeit für beide Wahlar-ten – Zunftwahlen und Bezirkswahlen – wurden mit den Regenerationsverfassungen gesenkt, da dabei der Zensus gänzlich wegfiel und neu alle Berufsstände, ausser die ab-wartenden Dienste und die Dienstboten, wählbar wurden.

Von den bildungsbürgerlichen Berufen waren allerdings die meisten Beamten nicht wählbar. Amtierende Geistliche, Schullehrer, die Bezirksstatthalter und die Bezirksschreiber (nur in ihren Bezirken), Post-, Polizei-, Zoll-, Kaufhaus- und andere Beamte konnten daher nicht in die Räte gelangen, weil man Verflechtungen von privaten und öffentlichen In-teressen befürchtete. Das Bildungsbürgertum wurde von den Verfassungen von 1831 und 1833 in besonderem Mass begünstigt. Abgesehen von den meisten Beamten wurden akademische Berufe und Akademiker zu wählbaren

Voll-654 Vgl. Sara Janner, Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust. pp. 103 f., 120 und 145. Eng damit im Zusammenhang stand die Auflösung der akade-mischen Gemeinde im Rahmen der Universitätsreform von 1813. Bis dahin be-stand in Basel die cives academici, eine autonome Korporation innerhalb der Stadtgemeinde, welcher die Dozenten und Studenten der Universität angehör-ten, die eigene Gerichtsbarkeit und ein eigenes Bürgerrecht besass. Ihre Bür-ger waren auch dann von Politik ausgeschlossen, wenn sie Basler BürBür-ger waren.

Zunftvorstand, wer ein politisches Amt versehen sollte.647 Die zeitliche Unbegrenztheit der politischen Mandate hob man auf, so dass Räte nun abgewählt werden konnten. Der Landbürgerschaft brachte die Mediation die Selbstverwal-tung ihrer Gemeinden und eine feste VertreSelbstverwal-tung in Parla-ment und Regierung, indem neben dem Stadtbezirk mit 15 Zünften zwei weitere Bezirke mit jeweils 15 Zünften geschaf-fen wurden. Der kleine Kreis, hauptsächlich bestehend aus Grosskaufleuten mit altem städtischem Bürgerrecht, wel-cher im Ancien Régime Stadt und Land regierte, wurde ge-öffnet. An die Stelle ständisch-oligarchischer traten nun meritokratische Mechanismen.648

2 5 4 1 1 . Wahlsystem

Bis 1831 bestimmten allein die Zünfte von Stadt- und Land-bezirken, wer in den Grossen Rat gelangen sollte. Mit der Regeneration emanzipierte sich das Wahlsystem erstmals bis zu einem gewissen Grad von den Zünften, indem terri-toriale Bezirkswahlen geschaffen wurden; neben die Ab-geordneten der Zünfte traten die Bezirke repräsentierende Grossräte, die Zünfte selbst wählten nur noch 42 % der Räte.

1833 verminderte sich ihr Anteil weiter auf 30 % und 1847 auf 27 %. Im Jahr 1847 wurden Gemeinden und Quartiere der Stadt zu politischen Einheiten aufgewertet, die ihre ei-genen Vertreter ins Parlament entsandten. Bis 1875 bestan-den drei verschiebestan-dene Arten von Grossräten, die von unter-schiedlichen Wahlkörpern in festgeschriebenen Proportio-nen abgeordnet wurden. Zwar wurden 1848 die in die kan-tonalen politischen Rechte aufgenommenen Schweizer auf die Wahlzünfte verteilt. Diese verloren aber 1858 wieder an Einfluss, weil die Zunftabgeordneten nicht mehr aus der ei-genen Korporation gewählt werden mussten, und somit die zahlenmässig überlegenen Zugezogenen jetzt bei den Zunft-wahlen ihre Favoriten wählen konnten.649

Diese Wahlverfahren waren nicht nur kompliziert, son-dern auch sehr zeitaufwändig. Wer wählen wollte, musste

647 Dabei war den Zunftvorständen, bestehend aus zwei Meistern, zwei Rats-herren und zwölf Sechsern, die entscheidende Rolle zugekommen: alle Vor-stände zusammen, erweitert um die VorVor-stände der drei Ehrengesellschaften und die zwei Schultheissen, bildeten die Gesamtregierung respektive das Par-lament Basels. Starb ein auf Lebenszeit gewählter Zunftvorstand, wählte nicht die Zunftgemeinde, sondern der Vorstand erneuerte sich selber. Sechser konnte jedes Zunftmitglied werden, Meister aber nur ein Sechser. Das Parlament war in einen Grossen und Kleinen Rat gegliedert. Die 60 Kleinräte kooptierten sich wiederum aus den Zunftvorständen; vgl. Ulrich Im Hof, Politisches Leben, pp. 143–145.

648 Napoleon persönlich oktroyierte der Consulta das Zensusprinzip für die Ausübung des aktiven Bürgerrechts in der Schweiz auf. Die gleichen Über-legungen waren dabei massgebend, wie für die Einführung des Zensuswahl-rechts nach dem Staatsstreich vom „18. Brumaire“ in Frankreich. Er erhoffte sich damit grössere Stabilität; vgl. Carl-Gustav Mez, Verfassung 1875, p. 21.

649 Bisher bestanden gegenüber der Zunft neben Standesverpflichtung auch familiäre Bezüge. Beispielsweise wurden 1847 minderjährige Stimmfähige der Zunft ihres Vaters zugwiesen (§ 28 ix. Zi ff. 2). Für Niedergelassene waren Zünfte vorwiegend Wahlgremien.

dies direkt an den Wahlversammlungen in der Heimatge-meinde tun. Wahlen fanden ab 1831 alle zwei, ab 1847 alle drei Jahre im Frühling während mehrerer Wochen an Werk-tagen statt. Zusätzlich mussten Ersatzwahlen durchgeführt werden. Generell bildete das Wahlprozedere für untere und mittlere soziale Schichten eine hohe Hürde, die schon alleine aus diesen zeitlichen Gründen die Teilnahme er-schwerte. Erst 1873 verlegte man die Wahlen auf drei aufei-nanderfolgende Sonntage.650

Die Ablösung des alten Wahlsystems mit seinen ver-schiedenen Wahleinheiten mit je fixer Zahl an Abgeord-neten durch ein neues System, bei dem in jedem Quartier und jeder Gemeinde ein einziger Wahlkörper proportional zu seiner Kopfzahl seine Vertreter bestellte, bildete eine der Ursachen für den Machtwechsel von 1875. Als 1905 das Wahlsystem wieder abgeändert und das Majorz- durch das Proporzprinzip abgelöst wurde, führte dies erneut zu ei-ner Veränderung der Machtverhältnisse. Diese Änderung kam aufgrund einer Volksinitiative zustande, das heisst, sie ging nicht wie frühere Änderungen des Wahlsystems auf eine Verfassungsrevision zurück. Es handelte sich bei dieser Volksinitiative um einen von allen oppositionellen Kräften gemeinsam getragenen Vorstoss, der den Freisinn massiv schwächte und Sozialdemokraten wie Katholiken bedeutend mehr Gewicht verlieh. In der Volksabstimmung wurde die Vorlage mit einer Differenz von nur 25 Stimmen angenommen. Damit ging ein jahrelanges Tauziehen des Freisinns mit den konservativen, sozialdemokratischen

Die Ablösung des alten Wahlsystems mit seinen ver-schiedenen Wahleinheiten mit je fixer Zahl an Abgeord-neten durch ein neues System, bei dem in jedem Quartier und jeder Gemeinde ein einziger Wahlkörper proportional zu seiner Kopfzahl seine Vertreter bestellte, bildete eine der Ursachen für den Machtwechsel von 1875. Als 1905 das Wahlsystem wieder abgeändert und das Majorz- durch das Proporzprinzip abgelöst wurde, führte dies erneut zu ei-ner Veränderung der Machtverhältnisse. Diese Änderung kam aufgrund einer Volksinitiative zustande, das heisst, sie ging nicht wie frühere Änderungen des Wahlsystems auf eine Verfassungsrevision zurück. Es handelte sich bei dieser Volksinitiative um einen von allen oppositionellen Kräften gemeinsam getragenen Vorstoss, der den Freisinn massiv schwächte und Sozialdemokraten wie Katholiken bedeutend mehr Gewicht verlieh. In der Volksabstimmung wurde die Vorlage mit einer Differenz von nur 25 Stimmen angenommen. Damit ging ein jahrelanges Tauziehen des Freisinns mit den konservativen, sozialdemokratischen