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Im Folgenden soll, wie einleitend angekündigt, ein vertief-ter Blick auf die Konstellation der Jahre um das Jubiläum von 1887 geworfen werden. In dieser Phase entstanden im Rahmen der Vereinstätigkeit Texte, welche die Gesellschaft und ihre Teilnehmerschaft eingehend bespiegelten und analysierten. Sie erlauben, wie kaum andere Quellen, Selbst-beschreibungen des Kollektivs zu rekonstruieren und zu in-terpretieren.

Die konflikthaften Auseinandersetzungen um das Thema einer Reduktion des Eintrittsgeldes von 1887 und die dabei ins Feld geführten Argumentationen fanden in einem prägnanten Moment statt, als nämlich nach 90-jährigem Wachstum der Mitgliedergruppe seit der Gründung der LG erstmals die Wende und die daraus resultierende Problema-tik erkannt und thematisiert wurden und zugleich der hun-dertste Jahrestag der Gründung, das Jubiläum, vor der Tür stand. Beide Elemente brachten intensive Reflexionen über die eigene Identität, Vergangenheit und Zukunft hervor: Die Reduktion des Eintrittsgeldes im Verbund mit aktivem Wer-ben bedeutete eine Verschiebung des Rekruterierungsfeldes hin zu ökonomisch weniger etablierten Bürgern. Die Identi-fizierung mit nichttraditioneller Kundschaft war sehr um-stritten und führte zu den geschilderten Kontroversen.273 Mit ihnen einher gingen Überlegungen der Kommission, wie man die Säkularfeier 1887 begehen wolle, verbunden mit Aufrufen an die Mitgliedschaft, entsprechende Ideen ein-zubringen. Nach Arndt Brendecke besteht die soziale Funk-tion eines Jubiläumsfestes darin, die Identität der feiernden Gruppe zu reetablieren.274 Die Kommission legte den Ent-scheid über eine Feier in die Hände der Mitglieder, aus de-ren Reihen aber keinerlei ernsthafte produktive Impulse ka-men.275 Die Kommission beschloss daher, von Feierlichkei-ten abzusehen. Gegenüber der ausgeprägFeierlichkei-ten Erinnerungs-kultur bürgerlicher Sozietäten des 19. Jahrhunderts war dies ein aussergewöhnlicher, ja skandalöser Schritt. Prompt erschien in den Basler Nachrichten ein satirisch gegen die Kommission gerichteter Bericht eines fiktiven Festes – was

273 Kap. 1.1.3. D.

274 Arndt Brendecke, Reden über Geschichte, p. 83.

275 JB 1885: „und es hängt von Ihrem Ermessen ab, ob wir nächstes Jahr dieses Ereignis in irgend einer Weise feiern wollen oder nicht“, p. 16., AP 13.12. 86: „H. Hu-ber verspricht bezügliche Anträge in Bälde einzureichen. Wird bestens verdankt.“, JB 1886: „Ebenso haben Sie heute die Entscheidung zu treffen, ob Sie den hun-dertsten Gründungstag der Lesegesellschaft, den 20. Oktober 1886 (sic!) feiern wollen und, wenn ja, in welcher Weise diese Feier statthaben soll“, p. 18. Es kam nichts zustande.

den Präsidenten veranlasste, sich im Jahresbericht für 1887 zu rechtfertigen: „Allein die Commission fühlte sich nicht er-mutigt, irgend etwas einzuleiten, da von der Gesellschaft aus nicht die geringste Aufmunterung zu einer Feier erfolgte.“276

Vor dem Hintergrund des vorhandenen Desinteresses zum einen, der präsenten Meinungsverschiedenheiten in-nerhalb der Gesellschaft und der sich daraus ergebenden Spannungen zum andern war dies ein nachvollziehbarer Entschluss der Kommission. Eine Feier hätte der Festge-meinde die Zelebrierung des Einheitsgefühls, die Freude über den historischen Sieg, 100 Jahre überdauert zu haben, und die Beschwörung künftiger Aufgaben – des historischen Auftrags – abverlangt.277 Es war jedoch keine Unité in Sicht, wie noch beispielsweise 1837, am fünfzigsten Gründungs-tag der LG. In seiner Rede bejubelte der damalige Vorsteher Gustav Christ-Merian (13) die „goldene Hochzeit“ des Paares

„Geselligkeit mit der Wissbegierde“ und bezeugte, dass ihm

„von allen Seiten“ Anerkennung, „Zutrauen und Freund-schaft“ entgegengebracht würde.278 Wie für Anniversari-umsreden üblich, stand auch hier, neben dem Rückblick auf die Vergangenheit, der Ausblick in die Zukunft. Dieser er-folgte im Schlusssatz. Dabei wagte es Christ erstaunlicher-weise, auf das Jubiläum, die Jahrhundertfeier, zu blicken und sogar die künftige Festgemeinde anzusprechen: „Und ein uns noch ferne stehender Kreis [. . .] überzeuge sich: „Dass das Gefühl der Dankbarkeit in unserer Vaterstadt nie schlum-mere, und das Jahr 1837 das eigentliche Festjahr 1887 beleh-ren könne, wie genossene Freundschaft anspruchslos zu er-wiedern sei.“279 Sein beachtliches Selbstvertrauen stützte er auf eine postulierte Dankbarkeit der Vaterstadt gegenüber seiner in Hingabe und Freundschaft verbrüderten Gesell-schaft. Dankbarkeit „von allen Seiten“, da gemeinnützig! In der Selbstwahrnehmung der LG der 1830er-Jahre war die LG Ort des „gemeinnützigsten Wirkens“, wie einer der Präsiden-ten der Epoche meinte. Gottlob Heinrich Heinse hatte schon 1810 die LG unter die fünf gemeinnützigen Gesellschaften Basels gezählt.280

Gemeinnützigkeit und Gemeinwohl waren die ideolo-gischen und ideellen Bindeglieder zwischen dem

exklusi-276 JB 1887, p. 15.

277 Vgl. Arndt Brendecke, Reden über Geschichte, pp. 61–86, und Rüdiger vom Bruch, Jubilare und Jubiläen, pp. 171–208.

278 Rede des Herrn Vorstehers, Dr. G. Christ, gehalten den 26ten Oktober 1837 in allgemeiner Gesellschaftssitzung, zur Erinnerung an das fünfzigjährige Be-stehen der Gesellschaft, Anhang des Jahresberichts 1837, p. 24 f. Christ stand 1837 einer Gesellschaft mit solchem Zulauf vor, dass man es sich bald leisten konnte, die Eintrittsbedingungen zu erschweren. Von einer eigentlichen Feier sah man 1837 mit der Begründung ab, dass „täglich in diesem Hauswesen gefei-ert wird“ (p. 26), verlegte dafür eine MGV auf das Gründungsdatum, an welcher Christ seine Rede hielt.

279 Ebd., p. 31.

280 Gottlob Heinrich Heinse, Reisen durch das südliche Deutschland und die Schweiz in den Jahren 1808 und 1809, Leipzig 1810, passagenweise wiedergege-ben in: Daniel Speich, Société de Lecture, p. 253.

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1.5. Brennpunkt: Das Jubiläum in der Krise

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Wieland, Huber und Faesch,286 die in der Helvetik und auch in der LG anfänglich führend waren, blendet Meissner (be-absichtigt oder unbe(be-absichtigt) aus. Die Vaterstadt und die LG verursachen keine Turbulenzen, sondern widerstehen den Stürmen. Die LG und die Stadt Basel erscheinen im Text als Leidensgenossinnen, die eng verbunden auf der gleichen Seite stehen und dieselben Werte vertreten.

Nicht zu bändigende, elementare Kräfte wirken in der Rhetorik Meissners auch in der Gegenwart in Form der „cen-trifugalen“ Tendenz der „bürgerlichen Gesellschaft“. Diese Kräfte zersplittern und entfremden Menschen und Gesell-schaft. Die Gesellschaft, die als die gegenwärtige angespro-chen wird, ist das „Freisinnige Basel“, das 1875 das Ratsher-renregiment ablöste. 1875 musste die Bürgerschaft die Ge-meinde preisgeben und allen Schweizern Mitsprache auf dem Gemeindegebiet gewähren.287 1879 erleichterte die frei-sinnig majorisierte Regierung die Einbürgerung, und die Bürgerschaft wuchs seither schneller denn je. Die Neubür-ger konnten auch in der neugeschaffenen BürNeubür-gergemeinde ihre Stimme geltend machen. Weite Teile der alteingesesse-nen Ortsbürgerschaft fühlten sich als „Depossedierte“ im eigenen Haus. Als Anhänger des politischen Zentrums war Meissner (28) selbst kein Freund des egalitären Systems und der freisinnigen Hegemonie, geschweige denn von den For-derungen der sich organisierenden Arbeiterbewegung.288 Die verschärften Auseinandersetzungen mit der Arbeiter-schaft seit den ersten Streikwellen der 1860er-Jahren wa-ren ein entscheidender Faktor für die Herausbildung eines bürgerlichen Klassenbewusstseins. In Abgrenzung zur Roh-heit, Halbbildung und generellen Kulturarmut des proleta-rischen Massenmenschen betonte das Bürgertum die „Kul-tur“. Die Stilisierung der Lebenshaltung, das Wertlegen auf Ästhetik, auf Geschmack, das Betonen von Bildung und Wis-sen, von „höheren Werten“ schufen Distanz gegen aussen und gegen unten, stifteten aber zugleich Identität.289

Wen Meissner mit dem Wir meint ist, wird präzisiert. Ge-mäss der verwendeten Dualität von Natur und Geist sind es die „gebildeten Elemente“, konkret die „Herren des Rathes“,

„die Herren Professoren“ und „die Kaufleute und Fabrikan-ten“290, also die politische, bildungsmässige und ökonomi-sche Spitze der Stadt Basel. Im zitierten einleitenden Satz bil-det die vereinigte Elite der Bürger einen „Mittelpunkt“, der hervorragt. Dem sprachlich entworfenen Bild zufolge ge-währt der hervorragende Punkt in der Mitte den Überblick über „unsere Stadt“ und ihre Bewohner und ist von diesen

286 Punkt 3.9., Anhang A.

287 Kap. 2.5.3.

288 Siehe Würdigung in Anhang B.

289 Albert Tanner, Patrioten, pp. 694 ff. und ders., Bürgertum und Bürgerlich-keit, pp. 227 f.

290 Ebd, p. 16.

wiederum aus jeder Perspektive sichtbar.291 Als in der Stadt hervorragende Mitte, die nicht nur die Intelligenz, sondern auch die ökonomische und politische Potenz vereinigt, wird die LG zur übergeordneten Entscheidungs-, Kommunika-tions- und Einsatzzentrale im städtischen Raum stilisiert.

Die stagnierende Mitgliederentwicklung und ihre Ur-sachen werden in der Jubiläumsschrift festgestellt und ein früherer Zustand wird vom gegenwärtigen unterschieden.

Die Zukunft verlangt nach einem Rezept für die schwinden-den Bestände, aber auch nach einer Neudefinition des Sinns der Zugehörigkeit. Wie soll die LG künftig den Elementen trotzen und ihre Zentrumsfunktion aufrechterhalten? Wel-chen Platz soll das Institut im Leben der Teilnehmer einneh-men?

„Möge so die altehrwürdige Lesegesellschaft auch in Zu-kunft ein ebenbürtiges Glied in der Reihe unserer hiesigen Institute sein, welche zur Erhaltung und Förderung geisti-ger Bildung und sittlicher Veredelung unserer Vaterstadt die-nen“292, lautet der Schlusssatz der Jubiläumsschrift. Meiss-ner sieht das bürgerliche Vereinswesen, in deren Netzwerk die LG mit ihrer Liegenschaft, ihrer Bibliothek und perio-dischen Literatur ein zentraler Knotenpunkt ist,293 als Gan-zes. Sein Wunsch und seine Hoffnung gelten der LG und dem Netzwerk zugleich: Kooperation und Interaktion sind die Bindeglieder, welche die einzelnen Gesellschaften zu ei-ner „Reihe“ zusammenfügen. Ebenbürtiges Glied bleibt die LG dann, wenn sie ihre angestammten Funktionen für die anderen Vereine weiterhin versieht und so dabei mithilft, die Reihe, das Netzwerk, geschlossen zu halten: Der Zentri-fuge muss Zusammenhalt entgegengesetzt werden. Ideell verbunden sind die Sozietäten durch die bürgerlichen Leit-werte Bildung, individuelle Entfaltung und Entwicklung.294 Zwar zielt ihre Verwirklichung auf die geistige und morali-sche Ausbildung der BürgerInnen, hat im Zitat aber eine ein-deutig gemeinsinnige, gemeinnützige Dimension: Verede-lung der Einzelnen und der Vaterstadt sind in eins gesetzt.

Wer sich veredelt, veredelt die Stadt beziehungsweise die städtische Gesellschaft. Auch wenn man 1875 die politische Hegemonie in der Stadtrepublik verloren hat, so soll in den bürgerlichen Vereinen der gemeinsinnige Horizont perpe-tuiert und aufrechterhalten werden.

Diese Mission soll auch in der LG weitergeführt werden.

Meissner redet der Mitgliedschaft im Jahresbericht ins Ge-wissen: Wenn schon jedes Schweizerstädtchen eine Lesege-sellschaft oder ein Museum besitze, so dürfe ein solches

In-291 Das Bild weckt die Assoziation absolutistischer Architektur, welche den Herrscher in den Mittelpunkt stellte und seine Machtstellung mit ihren Raum-kompositionen erhöhte – etwa mit aufwändigen Treppenhäusern, die zu seiner Person hinaufführten.

292 Fritz Meissner, Geschichte Lesegesellschaft, p. 23.

293 Kap. 2.4.4.

294 Manfred Hettling, Bürgerliche Kultur, p. 331.

und da wurden die neuesten Ereignisse aus Stadt und Land mitgetheilt, entgegengenommen und commentiert.“ Gegen-wärtig herrsche in den Lese- und Conversationssälen aber

„tiefe Stille“.

Als Ursache für den Rückgang der Mitgliederzahlen und die Erlahmung des Vereinslebens sieht Meissner folgenden Grund: die „geänderten Zeitverhältnisse“! Die „Gemüthlich-keit früherer Zeiten“ habe aufgehört, und das Leben sei ein

„harter Kampf ums Dasein“ geworden. Die „furchtbare Kon-kurrenz“ fordere die „fieberhafte Anspannung“ aller Kräfte und das strenge Haushalten mit der Zeit. Freie Zeit bliebe wenig übrig. Der gegenwärtigen „bürgerlichen Gesellschaft“

mass der Vorsteher „centrifugale Tendenz“ bei, die „Zersplit-terung“ und „Entfremdung vom traulichen Daheim“ mit sich bringe.

Der Jahresbericht 1886 verstand unter veränderten Zeit-verhältnissen in erster Linie die „kolossale“ Entwicklung des literarischen Marktes. Periodische Literatur wie Zeitungen und Zeitschriften seien in Haushalten wie öffentlichen Lo-kalen omnipräsent. Es gebe keine Haushaltungen ohne min-destens ein Zeitungsabonnement mehr. Alte und neue Leih-bibliotheken sowie neuartige, von Buchhändlern etablierte Lesezirkel machten der Bibliothek der LG Konkurrenz. Lek-türe konnte im Gegensatz zu früher mühelos anderswo als in der LG besorgt werden.

In beiden Schriften wurde also festgestellt, dass die frü-here Funktion der LG für die soziale Oberschicht, die einst

„nahe beieinander“ rund um den Münsterplatz lebte, nicht mehr in gleicher Weise gegeben war. Der ökonomische Zweck der gemeinsamen Anschaffung teurer Lektüre hatte an Brisanz eingebüsst, damit einhergehend die Funktion und Stellung der LG als unersetzliches Informations- und Diskussionszentrum und ebenso der gesellige Zweck eines zentral gelegenen Treffpunktes für Unterhaltung und Spiel.

Wie charakterisiert Meissner (28) die LG und den bisheri-gen Teilnehmerkreis?

Um auf diese Frage einzugehen, muss der gesamte Text der Jubiläumsschrift in Betracht gezogen werden. Wie es von einem Rückblick auf ein hundertjähriges Bestehen zu erwarten ist, befasst sich der Anfang der Schrift mit der Gründung im Jahr 1787: „Während gegen den Ausgang des vorigen Jahrhunderts die politische Welt im westlichen Eu-ropa in ernstlicher Gärung begriffen war, und in Frankreich die Vorzeichen einer der gewaltigsten Erschütterungen der Neuzeit sich mehrten und den Ausbruch der Revolution un-vermeidlich machten, traten in Basel eine Anzahl Bürger freundschaftlich zur Begründung einer Anstalt zusammen, welche sowohl gesellschaftlich vereinigend, als geistig bil-dend und veredelnd, bald ein hervorragender Mittelpunkt der gebildeten Elemente unserer Stadt werden und bis auf den heutigen Tag bleiben sollte, und deren hundertsten Geburts-tag wir dieses Jahr feiern – die Gründung unserer altehrwür-digen Lesegesellschaft.“

In diesem verschachtelten Satz ist die Gründung die Haupthandlung. Sie bildet das Prädikat des Hauptsatzes, auf das sich der vorangehende, mehrgliedrige Konjunktio-nalnebensatz bezieht. Inhaltlich werden zwei Schauplätze geschaffen und einander gegenübergestellt sowie Grenzen gezogen: zwischen West- und Mitteleuropa und zwischen Frankreich und der schweizerischen Stadt Basel. Im Dort (westliches Europa) steht das Ancien Régime (politische Welt) kurz vor seinem Zusammenbruch (Revolution). Zur Cha-rakterisierung der Situation vor der Revolution verwendet Meissner den Ausdruck „Gärung“, der einen biologischen Zersetzungsprozess bezeichnet, und die Begriffe „Erschütte-rung“ und „Ausbruch“, die sprachlich auch mit geologischen Phänomenen wie Erdbeben oder Vulkanen konnotiert sind. Das im einleitenden Satzteil entworfene Bild vermit-telt den Eindruck von sich „ernstlich“ und „gewaltig“ auf-bauenden und sich bald entladenden physikalischen Kräf-ten. Dem Bild und Satz Meissners folgend, sind elementare Kräfte dort im Begriff, zu zersetzen und zu zerstören, wäh-rend hier, in der friedlichen, idyllischen Stadt Basel, aufge-baut und gegründet wird. Die Grenzziehung zum Dort wird auf inhaltlicher Ebene vertieft und befestigt: Die Gründer-gruppe ist politisch (Bürger) und privat (freundschaftlich) verbunden und verkittet sich durch ihre institutionelle Ver-einigung noch zusätzlich. Mit ihrer Intention der geistigen Bildung und moralischen Vervollkommnung unterscheidet sie sich fundamental von den sie umgebenden destrukti-ven Aktivitäten und Geschehnissen. Während diesseits die Gruppe dem Geist huldigt und sich dem Prozess der Verede-lung widmet, herrscht jenseits rohe, ungebändigte Natur.

Die von Meissner etablierte Polarität von Geist und Natur zieht sich als Grundmotiv durch die Schrift. Dabei ist der Geist dem Wir und unser, die Natur dagegen dem Andern zu-geordnet. Das Andere sind die verändernden Kräfte der „po-litischen Welt“.

Im weiteren Text werden die Basler Revolution, die Hel-vetik, die Kantonstrennung, der Sonderbundskrieg und die Schaffung des Nationalstaats als „ernste Stürme“ gewer-tet.285 Damit wird impliziert, dass die politischen, für die his-torischen Ereignisse hauptsächlich verantwortlichen Kräfte – jakobinische, patriotische, radikale, freisinnige, demokra-tische und sozialdemkrademokra-tische – die eigentlichen Verursa-cher des Sturms sind. Begonnen hätten die Stürme fernab der Stadt Basel und wären über sie „hereingebrochen“. Doch

„unsere Vaterstadt“ und mit ihr die LG habe „alle diese Krisen glücklich überstanden“, ja die LG habe sich den Stürmen zum Trotz „zu immer grösserer Entwicklung empor geschwun-gen“. Die patriotischen Ursprünge der LG und die bekann-ten, wenn nicht sogar berühmten Helvetiker Ochs, Legrand,

285 Fritz Meissner, Geschichte Lesegesellschaft, pp. 3 und 6.

1.5. Brennpunkt: Das Jubiläum in der Krise

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stitut in einer Stadt wie Basel nicht fehlen. Dazuzugehören wäre „Ehrenpflicht“ für „jeden Gebildeten“. Die ermittelten und aufgeführten Gründe für Austritte und Nicht-Beitritte weist er bei „genauerer Erwägung“ als „nicht stichhaltig“295 zurück. Er stellt das Primat der von der LG gehaltenen Litera-tur über die alltägliche, häusliche Lektüre. Weit verbreitete Illustrierte wie die Gartenlaube, das Daheim, die Fliegenden Blätter etc. könnten dem „stets regsamen Geist“ mit der Zeit nicht mehr genügen. „Gerade weil das tägliche Einerlei uns niederzudrücken droht, sehnen wir uns nach Poesie, nach Gemüth und Herz erquickender Unterhaltung.“ Auch wenn nicht mehr wie früher täglich, so bleiben noch die Wochen-enden und Festtage „zu geistiger Erhohlung“ in der Lesege-sellschaft. Auch die Angehörigen sollen von der hohen Qua-lität der LG-Literatur profitieren und zu Hause „im Familien-kreise oder in stiller Kammer“ ihre guten Bücher lesen kön-nen, „wenn es draussen stürmt oder schneit.“ Die LG soll ein Ort guter und geistreicher Lektüre und damit auch Ort des geistigen Zusammenhaltes der grossbürgerlichen Klasse bleiben; die Bildung des Geistes soll dabei unausgesetzt ver-bindendes und abwehrendes Mittel gegen die elementaren Naturkräfte der sozialen und politischen Transformation sein – ein Heilmittel und Kompass für „böse Zeiten“!296

Die „Ehrenpflicht“ der Zugehörigkeit will die Kommis-sion schliesslich nicht nur den gebildeten Teilen der altein-gesessenen, sondern auch Teilen der neueren Bürgerschaft auferlegen, wie aus dem Werbeschreiben, das man zirku-lieren liess, hervorgeht.297 In dem neubürgerlichen sozialen Segment sieht die Leitung das personelle Potential, das man nun mittels der Senkung des Eintrittsgeldes und geziel-ter Werbung ausschöpfen will. Im Buch zum Jubiläum be-gründet Meissner denn auch, warum er seine Hoffnung auf neue soziale Gruppen gesetzt hat: Die „bürgerliche Gesell-schaft“ habe die alte Klientel zwar der „Gemüthlichkeit“ be-raubt und sie wohne jetzt ausserhalb vom „Weichbild“ (his-torischen Zentrum) der Stadt. Dafür habe sie die „tröstende“

und „erfreuliche Erscheinung“ hervorgebracht, dass das Inte-resse an intellektueller Bildung jetzt Kreise erreicht, „welche früher derselben fremd gegenüberstanden“.

Anfang 1887 wurde das Werbeschreiben an 446 in der Stadt wohnhafte Basler Bürger versandt. Die gesamte Bür-gerschaft zählte damals rund 19 000 Personen. Weniger als die Hälfte – nur die mindestens 18-jährigen Männer – ka-men als Adressaten überhaupt in Frage. Gemessen an der Zahl von schätzungsweise 7000 Personen, die nicht

Mitglie-295 JB 1886, p. 15.

296 Im Jahresbericht 1879 wird die Abnahme der Mitglieder unter anderem den bösen Zeiten zugeschrieben, p. 4.

297 Archiv ALG, G, Akten betreffend Gewinnung neuer Mitglieder: Allge-meine Lesegesellschaft in Basel, Werbezirkular 1887. Die auf dem Zirkular aus-drücklich genannte Pflicht, wird aus dem „gemeinnützigen Zweck“ der LG ab-geleitet.

der waren, machten die 446 einen Bruchteil aus (6,4 %). Man ging bei der Werbung also nicht flächendeckend, sondern äusserst selektiv vor. Dass man die in Basel wohnhaften Nicht-Bürger kaum erreichen wollte, zeigt nicht allein die Tatsache, dass bei ihnen keine Werbung stattfand. Im Wer-bezirkular wird – entgegen den statuarischen Bedingungen – der Eindruck vermittelt, der Abonnentenstatus sei nur für die in der Nachbarschaft wohnenden oder sich vorüberge-hend sich in der Stadt aufhaltenden Bürger gedacht.

Abbildung 2: Archiv der ALG

2. Teil. Die Mitgliedergruppe als

besondere Grundmenge und

die Kommissionsmitglieder als

Auswahl typischer Repräsentanten

der Kollektivbiographie

2.1. Mitgliederlisten als Quelle, Stichjahre und die Datenbank „KMG 1825–1915“ 69

1.5. Brennpunkt: Das Jubiläum in der Krise

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2.1. Mitgliederlisten als Quelle, Stichjahre und die Datenbank „ KMG 1825–1915“

Erstmals erstattete 1825 ein Präsident mündlichen Bericht über das vorangegangene Vereinsjahr.299 Das eingelöste De-siderat wurde 1833 zum Gesetz erhoben und in den Statu-ten verankert. Im gleichen Zug beschloss man die Rechen-schaftspflicht über die Transaktionen und den Zustand der Vereinsfinanzen. Jahresbericht und Jahresrechnung wur-den seither gedruckt und an sämtliche Mitglieder verteilt.

„Die Oeffentlichkeit ist in unsern Tagen so allgemein und in solchem Grade zu Uebung und Gewohnheit geworden, dass jene Verfügungen [. . .] wohl keiner Erörterung, noch viel we-niger einer Rechtfertigung bedürfen.“300 Damit setzte der

„Die Oeffentlichkeit ist in unsern Tagen so allgemein und in solchem Grade zu Uebung und Gewohnheit geworden, dass jene Verfügungen [. . .] wohl keiner Erörterung, noch viel we-niger einer Rechtfertigung bedürfen.“300 Damit setzte der