• Keine Ergebnisse gefunden

In dieser zweiten Betrachtung werden die in Mitgliedschaft und Kommission vertretenen Berufe untersucht. Dazu ver-wende ich die in der Bürgertumsforschung üblichen Kate-gorien „Bildungsbürger“ und „Wirtschaftsbürger“320. Vor dieser Unterscheidung gilt es allerdings zu klären, was un-ter dem Bürgertum überhaupt zu verstehen ist, damit in der folgenden Untersuchung eine Zugehörigkeit klar be-stimmt werden kann. Wenn von Bürgertum im 19. Jahrhun-dert nicht im staatsrechtlichen, sondern im sozialen und kulturellen Sinn die Rede ist, meinen die meisten Historike-rInnen ein definitorisch zwar nicht eindeutig bestimmba-res, aber gehobenes Bürgertum.321 Spricht beispielsweise der Sozialhistoriker Jürgen Kocka vom Bürgertum des 19. Jahr-hunderts, geht es ihm um eine kleine Minderheit von 5 bis 8 % der Bevölkerung, bestehend aus Kaufleuten, Bankiers, Fabrikunternehmern, Ärzten, Anwälten, Professoren und Beamten.322 Ein solches Grossbürgertum unterscheidet sich vom sogenannten „alten Mittelstand“, dem Kleinbürger-tum mit vorwiegend handwerklichen und kleingewerbli-chen Berufen.323 Neben selbständigen Handwerksmeistern und Ladenbesitzern können zum alten Mittelstand Gesel-len und HandlungsgeselGesel-len, aber auch Buchhalter und Ver-käufer gerechnet werden. Mit dem Ausbau der staatlichen

320 Der zweite Band des von Jürgen Kocka herausgegebenen, dreibändigen Standardwerks zum Bürgertum im 19. Jahrhundert unterscheidet bereits mit dem Titel „Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger“ diese beiden bürgerlichen Untergruppen. Kocka selber nennt die „Bourgeoisie“ (Wirtschaftsbürger) und die „Bildungsbürger“ die beiden wichtigsten Segmente des Bürgertums (Ob-rigkeitsstaat und Bürgerlichkeit, p. 107). Die konzeptionelle Unterscheidung prägte die beiden grossangelegten Projekte von Bielefeld und Frankfurt zur Erforschung des deutschen Bürgertums des 19. und 20. Jahrhunderts mit (Tho-mas Mergel, Bürgertumsforschung nach 15 Jahren, pp. 515 und 519 f. Bielefeld:

Sonderforschungsbereich zur „Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürger-tums: Deutschland im internationalen Vergleich“; das Projekt der Frankfurter Historikergruppe um Lothar Gall hiess „Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhun-dert“). Die Unterscheidung wird auch in jüngeren Forschungen und Überblicks-darstellungen gemacht (Gunilla Budde, Blütezeit des Bürgertums, pp. 7–11, Mi-chael Schäfer, Geschichte des Bürgertums, pp. 81 ff. und 92 ff. u. a.).

321 Vgl. Manfred Hettling, Politische Bürgerlichkeit, p. 345 und Thomas Mer-gel, Bürgertumsforschung, p. 521.

322 Jürgen Kocka, Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger, p. 7. Im seinem Auf-satz „Obrigkeitsstaat und Bürgerlichkeit. Zur Geschichte des deutschen Bürger-tums im 19. Jahrhundert“ nennt Kocka auch Gruppen, welche die deutsche Bür-gertumsforschung nicht zum Bürgertum rechnet: „Adel, katholischer Klerus, Bauern, Arbeiter und die Unterschichten insgesamt.

323 Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums, pp. 105 ff.

Verwaltung und der Frühindustrialisierung stossen zur tra-ditionellen Gruppe des alten Mittelstands die wachsende Zahl der Angestellten in den Unternehmensverwaltungen, das technische Personal der Produktionsbetriebe sowie die staatlichen und kommunalen Beamten in mittleren und unteren Laufbahnen hinzu. Inwieweit man diese mittleren Erwerbs- und Besitzklassen zum Bürgertum rechnen kann, ist umstritten. Jedenfalls taucht für diese Berufe um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert der Begriff des „neuen Mittelstands“ auf.324

Bürgertum im soziokulturellen Sinn ist nicht gleichbe-deutend mit der Summe aller der Oberschicht zugeordne-ten Berufe, denn nicht alle Grossbürger wurden von der bür-gerlich-liberalen Bewegung ergriffen und schlossen sich der mit den Prinzipien einer neuen bürgerlichen Gesellschaft identifizierten Gesinnungsgemeinschaft an. Als vergesell-schaftete Einheiten mit dem Zweck der Förderung von Ge-selligkeit, Lektüre und Bildung ist die Zuordnung von Le-segesellschaften zum Milieu des fortschrittlichen Bürger-tums gegeben. Manfred Hettling hat die LG als eines der berühmtesten Beispiele geselliger Vereinigungen des Bür-gertums in der Schweiz hervorgehoben.325

Die Erfassung und Auswertung der Berufe in der LG er-folgt zum einen nach der Differenzierung des Bürgertums hinsichtlich bildungsbürgerlichen und wirtschaftlichen Fraktionen und zum andern nach den vier Berufs- und Sta-tusgruppen Kaufleute, Beamte, freie Berufe und Lehrbe-rufe. Im ersten Unterkapitel sollen Konzept und Begriffe ge-klärt und besprochen werden. Im zweiten Unterkapitel wer-den Mitgliederlisten der LG ausgewertet und im dritten die Biographien der KMG herangezogen und hinsichtlich der vorhandenen Berufe analysiert.

2.3.1. Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger

Der Urtypus des Wirtschaftsbürgers übte einen Beruf ohne klar umrissene Tätigkeit aus, dessen Bezeichnung eigent-lich ein Oberbegriff für verschiedene Berufsfelder darstellt:

er war „Kaufmann“. Nicht nur in Basel oder Zürich, sondern auch an vielen deutschen Handelsplätzen war im 19. Jahr-hundert die Selbstbezeichnung „Kaufmann“ oder „Han-delsmann“ von selbständig Wirtschaftenden sehr verbrei-tet, auch wenn der Geschäftsbereich nicht eigentlich beim

324 Vgl. ebd., pp. 107 ff. und p. 79 und Jürgen Kocka, Obrigkeitsstaat und Bür-gerlichkeit, p. 107 f.

325 Manfred Hettling, Ungesellige Geselligkeit, p. 233.

2.3. Berufe: Wirtschaftsbürger, Bildungsbürger, alter und neuer Mittelstand

78 2.3.1. Wirtschaftsbürger und Bildungsbürger 79

Im Lauf des Jahrhunderts nahm die Zahl der Bildungsbür-ger immer weiter zu. Im Gefolge einer rasch vordringenden Professionalisierung fächerten sich die akademischen Be-rufsgruppen auf. Neue Arbeitsfelder eröffneten die entste-henden staatlichen Bürokratien und das reformierte und ausgebaute Schulwesen sowie die Universitäten. Mit der Zunahme der akademischen Berufe ging die Einbusse des gesellschaftlichen Einflusses und Ansehens des Bildungs-bürgertums einher, und zwar nicht zuletzt deshalb, weil das bürgerliche Bildungsethos zunehmend auch von Wirt-schaftsbürgern verinnerlicht und mitgetragen wurde. Der Besuch des Humanistischen Gymnasiums und eine fort-gesetzte Weiterbildung und Beschäftigung mit Kunst, Ge-schichte, Musik und Literatur sollte es auch Kaufleuten er-möglichen, sich am Diskurs der Gebildeten zu beteiligen.

Sei es als „Diskursgemeinschaft“ oder als tatsächliche, sozi-ale Formation mit gemeinsamen Grundinteressen, Lebens-formen, Heirats- und Verkehrskreisen – das Bildungsbür-gertum als bestimmende soziale Formation wird weitest-gehend als spezifisches Phänomen des deutschsprachigen Europas gedeutet.341

Diese für den deutschsprachigen Raum im Allgemeinen geltenden Erkenntnisse wurden jedoch mit Blick auf die spezifisch schweizerischen Verhältnisse zumindest relati-viert. In Anlehnung an die französische Forschung spricht Albert Tanner für Berufe, die aufgrund von Bildungs- und Leistungsqualifikationen auf Professionalisierung und Bü-rokratisierung setzten, von der „Bourgeoisie des talents“.342 Mit der Verwendung des Begriffs bringt er zum Ausdruck, dass sich die schweizerische Entwicklung von der deutschen unterschied, da sich in der Schweiz in weit geringerem Mass eine eigentliche bildungsbürgerliche Klasse herausgebil-det habe. „Wegen der verhaltenen Bürokratisierung und ge-bremsten Professionalisierung, die wissenschaftliche Berufe einer relativ geringen zentralstaatlichen Kontrolle unterwarf und der Autonomie der Berufsgruppen recht viel Raum liess, blieben in der Schweiz wirtschaftliche Selbständigkeit und freie Konkurrenz viel stärker gemeinsames Prinzip aller bür-gerlichen Berufs- und Erwerbstätigkeiten als zum Beispiel in Deutschland.“343 Zwar habe es mit dem Besuch von Mittel-schulen, mit Studium, akademischen Ritualen, Zugehörig-keit zu Studentenverbindungen etc. GemeinsamZugehörig-keiten

ge-341 Gunilla Budde, Blütezeit, p. 9 und Michael Schäfer, Geschichte des Bürger-tums, p. 105

342 Tanner bezieht sich ausdrücklich auf die Studie von Jean-Pierre Chaline, Les bourgeois de Rouen. Une élite urbaine au XIX siècle. Chaline unterscheidet darin innerhalb der Bourgeoisie drei verschiedene Gruppen: erstens die „bour-geoisie active, fondée sur le profit“, im wesentlichen also das Unternehmertum, zweitens die „bourgeoisie de la rente, vivant de revenus foncier ou mobiliers“, die Besitzbürger, und drittens die „bourgeoisie des talents“, bei der das Einkom-men und Besitz gegenüber dem Wissen in den Hintergrund treten; Patrioten, p. 23.

343 Albert Tanner, Patrioten, p. 119.

geben, die den Zusammenhalt zwischen Akademikern för-derten. Überdies sei die Gruppe der Akademiker nahezu überblickbar gewesen – noch um 1900 gab es lediglich 8000 Studenten – und persönliche Bekanntschaften mögen den Zusammenhalt unterstützt haben. All dies „scheint jedoch nicht ausgereicht zu haben, um aus den beruflich und so-zial zunehmend disparaten höher Gebildeten eine in sich ge-schlossene soziale Gruppe oder Klasse mit eigener, bildungs-bürgerlicher Identität zu formen, zu stark waren die Ver-bindungen und Beziehungen zu den übrigen bürgerlichen Klassen“. Über Beruf, Herkunft, Lebensstil, Heiratskreise, Vereine und Politik bestanden zwischen bildungsbürger-lichen und wirtschaftsbürgerbildungsbürger-lichen Kreisen starke Verbin-dungen und Gemeinsamkeiten. Über Ausbildung, Bildung, Leistungsfähigkeit, Einkommen und Ämter in Politik oder Militär entsprachen die Schweizer Bildungsbürger dem Ide-albild des selbständigen oder doch mündigen und aktiven Bürgers,344 jedoch kam es nach Tanner nicht zu derselben Binnendifferenzierung des Bürgertums, mit einer entspre-chenden spezifischen Identitätsausbildung des Bildungs-bürgertums, wie es in Deutschland beobachtet wurde. Es stellt sich hier und im Folgenden die Frage, inwiefern sich das Basler „Bildungsbürgertum“ zu Tanners Konzept der

„Bourgeoisie des talents“ verhält.

Zur Auswertung der Berufe in der LG unterteile ich die bildungsbürgerlichen Berufe in drei Gruppen: Beamte, freie. Berufe und Lehrberufe. Der Berufsstatus „Beamte“

kann im engeren Sinn die Inhaber eines staatlichen Amtes bezeichnen. Im weiteren Sinn impliziert er alle Angestellten des Staats und umfasst alle dem öffentlichen Dienst zuge-ordneten Berufe. Zu den eigentlichen Verwaltungsbeamten, mit hoheitlichen Befugnissen ausgestattet und in einem besonderen Treueverhältnis zum Staat stehend, kamen die Leiter der staatlichen Regiebetriebe (Bahn, Post, Energie etc.) und Berufe, die nicht zur Verwaltung gehörten: Soldaten, die militärischer Befehlsgewalt unterstanden, Richter, die an das Weisungsrecht vorgesetzter Amtsträger gebunden waren, sowie Pfarrer, die als kirchliche Amtsträger der Kir-chgemeinde und der staatskirchlichen, später der landes-kirchlichen Kirchenleitung gegenüber verantwortlich wa-ren. Auch Lehrkräfte an Schulen und Hochschulen waren in der Regel Angestellte des Staats und als Beamte an die Schul- oder Universitätsgesetze und die behördlichen Erlasse ge-bunden und den Rektoraten unterstellt. Da Lehrberufe im Bürgertum als Vermittler von Wissen und Bildung eine zen-trale Rolle spielten,345 bilde ich für sie die Untergruppe „Be-rufsgelehrte“.346 Professoren, Gymnasial- und

Volksschul-344 Ebd., pp. 119 f. Obwohl bei Tanner das Konzept der „Bourgeoisie des talents“

die Entwicklung in der Schweiz repräsentiert, vermeidet er den Begriff „Bil-dungsbürgertum“ keineswegs.

345 Vgl. Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur, p. 11.

346 Die Bezeichnung „Berufsgelehrte“ entlehne ich Andreas Schulz. Er

ver-ten, Händler und Finanziers von Waren standen sie in en-gen Funktionszusammenhänen-gen. In Wirtschaftszentren formierte sich europaweit eine Grossbourgeoisie, in welcher die Grenzen zwischen den angestammten Tätigkeitsfeldern verschwammen.

Firmengründungen zum Auf- und Ausbau bestehender oder neuer Industriezweige, zur Rohstoffgewinnung, für den Bau von Infrastruktur in den Bereichen Waren- und Personenverkehr, Energie und Kommunikation oder für Fi-nanzierung und Versicherung wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend nicht mehr von unterneh-merischen Einzelkämpfern gewagt, sondern von Kapitalge-sellschaften vorgenommen. In der Literatur wird deshalb heute zwischen Eigentümer-Unternehmern und beauftrag-ten Unternehmern unterschieden.337 Der Eigentümer und Geschäftsführer in Personalunion wurde zunehmend vom mit Verfügungsmacht ausgestatteten „leitenden Angestell-ten“, dem „Manager“, verdrängt.

In der Bürgertumsforschung wird als das verbin-den de Merkmal des Wirtschaftsbürgertums die familiäre Herkunft aus vorwiegend etabliertem Handelsstand ge-nannt.338 Je nach Industriezweig und Region scheinen je-doch erhebliche Unterschiede bestanden zu haben. In der Maschinen- und Werkzeugindustrie beispielsweise erwuch-sen Fabriken oft aus Handwerksbetrieben. Für Industrien, die viel Startkapital benötigten, wie zum Beispiel die Tex-tilindustrie, verengte sich das Herkunftsprofil tendenziell auf bereits wirtschaftsbürgerliche Schichten traditioneller Art, das heisst des Grosshandels und Privatbankenwesens.

Diese Familien konnten ihren Söhnen nicht nur ökonomi-sches, sondern auch soziales und kulturelles Kapital verma-chen, das für die Etablierung oder Weiterführung eines Be-triebes unabdingbar war. Auch für Unternehmer im Gross- und Fernhandel und im Bankengeschäft wird mehrheitlich von kaufmännischen Herkunftsmilieus ausgegangen: Wo Waren und Geld über grosse Entfernungen ausgetauscht wurden, war die Einbindung in gewachsene und beständige kaufmännische Netzwerke für den unternehmerischen Er-folg besonders wichtig.

Neben den Unternehmern wuchs im Verlauf des Jahr-hunderts eine Besitzklasse heran, die aus ihrem Vermögen ein Einkommen generierte, das sie von der Notwendigkeit entband, einer Erwerbsarbeit nachzugehen. Grossaktionäre, Industrielle und Kaufleute, die ihr Geschäft verkauft hat-ten, Teilhaber von Familienunternehmen, darunter viele

337 Soziologie-Lexikon, Gerd Reinhold (Hg.), Eintrag Unternehmer, p. 693.

Zum folgenden siehe Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums, pp. 82–88, Youssef Cassis, Wirtschaftselite und Bürgertum, pp. 9–34 und Gunilla Budde, Blütezeit des Bürgertums, pp. 10–12.

338 Hartmut Berhoff beispielsweise stellt fest, dass um 1860 in Deutschland, England, Frankreich und den USA nicht wesentlich mehr als 2/3 der Unterneh-mer aus den Unterschichten stammten; Englische UnternehUnterneh-mer, pp. 75 ff.

Unternehmerwitwen und erbende Töchter, konnten ein Le-ben als Rentiers oder Rentières führen. Für Max Weber wa-ren die RentnerInnen typisch für positiv privilegierte Be-sitzklassen. Als typisch positiv privilegierte Erwerbsklasse galten ihm Unternehmer wie Fabrikanten, Grosskaufleute und Bankiers.339 Zu ihnen zählte er aber auch diejenigen Be-rufe, welche durch die Verwertung akademischer Qualifi-kationen vergleichsweise hohe Einkommen beanspruchten und erzielten: staatliche oder kommunale Verwaltungsbe-amte, Schul- und Hochschullehrer, Geistliche im Kirchen-dienst, Mediziner, Juristen, Ingenieure oder Architekten, sowohl in angestellter oder verbeamteter Position als auch freiberuflich tätig. Der Ausdruck Bildungsbürger bezieht sich auf genau diese heterogenen Berufsgruppen.

Im Sinne Webers bezeichnet „Klasse“ eine Gruppe von Menschen, die sich in einer gleichen „Klassenlage“ befindet, also eine bestimmte Menge und eine bestimmte Art von Gü-tern besitzt oder über Qualifikationen verfügt, aus denen sie Einkommen erzielt. Das Bürgertum setzte sich demnach vornehmlich aus Klassen zusammen, die durch ihren Er-werb und / oder Besitz privilegiert waren.340

Der Aufstieg des Bildungsbürgertums setzte noch im späten 18. Jahrhundert ein. Während die Gelehrten im An-cien Régime gegenüber den städtischen Kaufleuten noch eine marginale Rolle spielten, änderte sich dies in den ers-ten Jahrzehners-ten des 19. Jahrhunderts, und Vertreter des Bil-dungsbürgertums erlangten vor allem im deutschsprachi-gen Europa ein zumindest gleichrangiges, wenn nicht hö-heres Prestige als das Wirtschaftsbürgertum. Mit der Ver-standesideologie der Aufklärung und gesteigertem und verbreitertem Lesen in den letzten Dezennien des 18. Jahr-hunderts hatte das Ideal individueller Bildung enorm an Bedeutung gewonnen. Nicht ein religiöses Verständnis von Bildung stand dabei im Vordergrund, sondern ein realisti-sches Bildungskonzept, das Nützlichkeit und Verwendbar-keit von Wissen betonte und an der Gegenwart orientiert war. Sich im aufgeklärten Sinn zu bilden, wurde zur wich-tigsten Motivation des reformorientierten Bürgertums, und Bildung zum zentralen Merkmal bürgerlicher Identität.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte sich ausgehend vom Norden Deutschlands das neuhumanistische Bildungsideal durch und wurde im Schul- und Universitätswesen füh-rend. Mit der erneuten Hinwendung zum klassischen Al-tertum hob diese Strömung im Bildungskanon besonders die alten Sprachen und die klassische Philologie hervor.

339 Als typischerweise negativ privilegierte Erwerbsklassen bezeichnet We-ber Arbeiter in ihren verschiedenen qualitativ besonderen Arten (gelernt, an-gelernt, ungelernt); siehe Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Stände und Klassen; in §§ 1 und 2 definiert Weber die soziologischen Grundbegriffe Klas-senlage, Klasse, Erwerbsklasse und Besitzklasse, pp. 592 ff.

340 Vgl. die Begriffe „Klassenlage“ und „Klasse“, ebd.; Michael Schäfer, Ge-schichte des Bürgertums, p. 79; Albert Tanner, Patrioten, p. 89.

2.3. Berufe: Wirtschaftsbürger, Bildungsbürger, alter und neuer Mittelstand

80 2.3.2. Mitglieder 81

gleich als Doktoren und ein Pfarrer als Dr. Prof. ausgewie-sen. Alle Träger dieser Mehrfachauszeichnungen habe ich jeweils nur mit der in unserem Zusammenhang wichtige-ren beziehungsweise mit der gesellschaftlich höher bewer-teten Auszeichnung berücksichtigt. Bis 1858 erscheinen die Doktortitel mit den Fakultätszuordnungen. Die bis dahin auftauchenden „Dr. med.“ sind in der Rubrik „Ärzte“ ge-zählt. Ab 1878 finden sich bei den Doktortiteln nur noch die Bezeichnungen „Dr.“ und „J.U.D.“, die Abkürzung für „Juris Utriusque Doctor“ für Doktor beider Rechte, des weltlichen Zivilrechts und des kanonischen Kirchenrechts. Tabelle 7 enthält die Summen aller Arten an vergebenen Zusätzen, bezogen auf Berufe, akademische Grade oder politische Funktionen, Tabelle 8 die Aufschlüsselung nach Berufen, soweit eruierbar.

Mit überwiegender Mehrheit werden bildungsbürgerli-che Berufe angeführt, das heisst freie Berufe, Beamte und Berufsgelehrte. Bis 1858 weisen die Beamten einen Vor-sprung gegenüber den freien Berufen und den Berufsge-lehrten auf: Ihr prozentualer Anteil beträgt in dieser Phase durchschnittlich 46 %, derjenige der freien Berufe 30 % und der der Berufsgelehrten 24 %. Nach 1858 überholen die rufsgelehrten (∅ 66 %) die Beamten (∅ 27 %). Die freien Be-rufe verschwinden ganz (5 %–0 %).

Ab 1878 wurden nur noch für Professoren, Pfarrer und Offiziere kontinuierlich Zusätze vergeben (Tabelle 8, Zei-len 2, 4 und 6). Ab dem gleichen Jahr erscheinen in den Lis-ten dafür bedeuLis-tend mehr Promovierte (siehe Tabelle 21, Kap. 2.4.1.2.). Die Lehrer, freien Berufe und die privatwirt-schaftlichen und staatlichen Funktionsträger sind kaum aus der LG verschwunden, sondern dürften unter den Pro-movierten subsumiert sein.

Die meisten Verwaltungsbeamten (Tabelle 8, Zeile 5) wer-den in Basel als „Schreiber“ geführt; im Ratsherrenregiment wurde dieser Terminus für die höheren Angestellten der kantonalen Staatskanzlei, der Stadtkanzlei, für die Sekretäre der Regierungsbeamten der Landbezirke und die

Gerichts-schreiber352 verwendet. Die Staatskanzlei war schon im An-cien Régime das Kernstück der kantonalen Verwaltung353 und blieb es auch nach 1803. Ihr Kader, zusammengesetzt aus Staats- und Ratsschreiber, dem Archivar und den Kanz-listen, bestand in der Regel aus Juristen. Sie wurden von An-gestellten assistiert, die keine Juristen waren und die man als „Sekretäre“ bezeichnete.354 Der Stadtkanzlei stand der Stadtschreiber vor. Er wurde von einem „zweiten Schrei-ber“, einem Kanzlisten und einem Sekretär assistiert.355 Wie in den meisten Kantonen und Gemeinden der Schweiz be-ruhten in Basel die Verwaltungen von Staat und Stadt zum grossen Teil auf neben- und ehrenamtlicher Mitarbeit der Bürger. Regierungs- und Ratsarbeit sowie Arbeit in den Ge-richten wurde sehr bescheiden entgolten. Die etlichen Kom-missionen, Kollegien, Kammern, Direktionen, Komitees, In-spektionen, Anstalten und Verwaltungen, wie die Milizgre-mien teils hiessen, bestanden in der Regel aus Abgeordneten der Regierungen, Räten und Vertretern der Bürgerschaft.

Mit Einführung der Gewaltentrennung und der Rechts-gleichheit in der Verfassung von 1831 wurden sämtliche Richterstellen aus der Ehrenamtlichkeit ausgeschieden und besoldet; die 13 Mitglieder des höchsten Gerichtes wurden auf Lebenszeit gewählt, durften keine anderen besoldeten Stellen versehen und mussten entweder das Examen zum Candidatus Juris (Erstes Staatsexamen) bestanden oder vier Jahre an einem anderen Gericht Basels gearbeitet haben.356 Bei Kanzlisten und Richtern lässt sich nachvollziehen, was Albert Tanner für die Schweiz feststellt: Das Rechtsstudium gewann mit der Einführung der Rechtsgleichheit an

Attrak-352 Verzeichnisse der Behörden und Beamten des Kantons Basel-Stadt (sog.

Regimentsbüchlein) der Jahre zwischen 1838–1916; StABS DS BS 7.

353 Die zentrale Stellung der Kanzlei hat sich im Spätmittelalter herausgebil-det; siehe Martin Alioth, Politisches System bis 1833, p. 26.

354 Regimentsbüchlein der Jahre zwischen 1838 und 1915.

355 Ebd. 1838–1875.

356 Verfassung von 1831, §§ 24 und 41 ii und iii.

lehrer, Museums-, Bibliotheks- und Archivleiter fallen vor-wiegend unter diese Gruppe. In der Regel waren alle diese Berufe verbeamtet, was insbesondere Hochschullehrern eine verfassungsmässig garantierte Freiheit von Lehre und Forschung sicherte und ihnen damit eine Sphäre freischaf-fenden Wirkens eröffnete.

Ausgehend vom preussischen Staat, wurden im 19. Jahr-hundert auch anderswo der Besuch des Gymnasiums und ein Universitätsstudium zur Voraussetzung für die höhere Beamtenlaufbahn. Leitende Stellen in Verwaltung und Jus-tiz wurden vornehmlich mit Juristen besetzt.347 Das beson-dere Verhältnis zum Staat bedeutete für diese Beamten eine berufsrechtliche Sonderstellung, vor allem die unbefristete und unkündbare Anstellung sowie der Anspruch auf Pensi-onen und die Hinterbliebenenvorsorge. In der Schweiz gin-gen die Bestrebungin-gen vom Bund und den grösseren Kanto-nen dahin, zu vermeiden, dass sich eine privilegierte und politisch einflussreiche Gruppe von Amtsträgern und an-derer Staatsangestellter bilde. Die Privilegien, welche Be-amte in anderen Ländern genossen, bestanden hier nur in geringem Umfang. Beamte hoben sich rechtlich und sozial kaum von anderen sozialen Gruppen ab. Ihr Gewicht bei po-litischen Aufgaben und Entscheiden war geringer als in an-deren Staaten, hauptsächlich weil sich die Bürger der

Ausgehend vom preussischen Staat, wurden im 19. Jahr-hundert auch anderswo der Besuch des Gymnasiums und ein Universitätsstudium zur Voraussetzung für die höhere Beamtenlaufbahn. Leitende Stellen in Verwaltung und Jus-tiz wurden vornehmlich mit Juristen besetzt.347 Das beson-dere Verhältnis zum Staat bedeutete für diese Beamten eine berufsrechtliche Sonderstellung, vor allem die unbefristete und unkündbare Anstellung sowie der Anspruch auf Pensi-onen und die Hinterbliebenenvorsorge. In der Schweiz gin-gen die Bestrebungin-gen vom Bund und den grösseren Kanto-nen dahin, zu vermeiden, dass sich eine privilegierte und politisch einflussreiche Gruppe von Amtsträgern und an-derer Staatsangestellter bilde. Die Privilegien, welche Be-amte in anderen Ländern genossen, bestanden hier nur in geringem Umfang. Beamte hoben sich rechtlich und sozial kaum von anderen sozialen Gruppen ab. Ihr Gewicht bei po-litischen Aufgaben und Entscheiden war geringer als in an-deren Staaten, hauptsächlich weil sich die Bürger der