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Was bedeutete Ende des 19. Jahrhunderts altbürgerliche Do-minanz? Welche Funktion hatten zu diesem Zeitpunkt die altbürgerlichen Ehen? Wie verhielt sich die in der LG fest-gestellte altbürgerliche Vormacht zu ihrem Kontext? Zur Beantwortung dieser Fragen muss Philipp Sarasins Studie

„Stadt der Bürger“, genauer gesagt seine Auswertung des Da-tensamples DbGB, hinzugezogen werden.

Sarasin stellt in Bezug auf die einkommensstärksten EinwohnerInnen Basels des Jahres 1895 (siehe Kap. 2.3.2.2.) fest, dass es sich grösstenteils um Altbürger handelte, die mit Altbürgerinnen verehelicht waren. Er spricht von „so-zialer Endogamie“ und entdeckt in der von ihm benannten

„patrizischen Struktur“ die Ursache dafür, weshalb sich Alt-bürgerInnen noch Ende des 19. Jahrhunderts ihre Heirats-partnerInnen vorwiegend aus der gleichen sozialen Schicht wählten. Was versteht er unter „sozialer Endogamie“ und unter „patrizischer Struktur“?933

Im Sample DbGB verzeichnet Sarasin 539 Zensiten mit einem Einkommen über 20 000 Franken im Jahr 1895. Zu diesen Personen hatte er sozialstrukturelle Daten gesam-melt und ausgewertet, unter anderem den Bürgerrechtsta-tus der ZensitIn und, falls vorhanden, des männlichen oder weiblichen Ehepartners. Der mit Abstand am häufigsten

932 Ebd., p. 118.

933 Zum Folgenden siehe Philipp Sarasin, Stadt der Bürger, pp. 266–280.

vorkommende Status bei sämtlichen Männern und Frauen trägt bei Sarasin das Zeichen j+, diese Kennzeichnung be-deutet, dass die Person als AltbürgerIn in patrilinearer Ab-stammung vor 1800 im Bürgerrecht stand; das j+-Zeichen entspricht im Wesentlichen dem hier für AltbürgerInnen verwendeten Zeichen „a“ Geborene:934 256 aller Männer und 236 der Frauen, die als ZensitInnen oder deren EhegattInnen verzeichnet sind, waren AltbürgerInnen. Von den 25 mögli-chen Heiratskombinationen, die sich aus den 5 von Sarasin definierten Status ergeben, ist die j+ / j+-Kombination wie-derum mit Abstand die häufigste: 183 oder 37,2 % der 492 im Sample vorkommenden Ehepaare waren durch die Frau oder den Mann altbürgerlich. 71,5 % sämtlicher Altbürger heirateten Altürgerinnen, und umgekehrt heirateten 77,5 % aller Altbürgerinnen Männer aus altbürgerlichen Familien.

Söhne und Töchter aus altbürgerlichen Familien heirateten also vornehmlich untereinander und bewahrten damit die soziale Kohärenz ihrer Gruppe. Sarasin spricht diesbezüg-lich von sozialer Endogamie.

Mit Blick auf den relativ geringen Prozentsatz von 22,5 %, der die neu- oder nichtbaslerischen Gatten von Altbürge-rinnen beziffert, zieht Sarasin den Schluss, dass die Heirats-möglichkeiten für altbürgerliche Frauen ausserhalb ihrer sozialen Schicht begrenzt waren, und umgekehrt auch die Chance, durch Heirat in den Kreis der altbürgerlichen Fa-milien aufgenommen zu werden, relativ gering war. Diese Möglichkeit bestand nur für jene Männer, die „Besonderes“

zu bieten hatten (etwa die von Georg Beseler erwähnten Karl Gustav Jung (d. Ä.) oder Wilhelm Wackernagel, Kap. 2.6.1.).

Sarasin wirft die Frage nach dem Sinn der sozialen En-dogamie für die Gruppe der reichsten Altbürger auf und fokussiert die Gruppe der altbürgerlichen Seidenfabrikan-ten seines Samples, genauer ihr nuptiales VerhalSeidenfabrikan-ten sowie dasjenige ihrer Schwestern, Brüder und Schwäger, die eben-falls in DbGB figurieren. Der Befund für die Frauen lautet, dass auf ihnen die Aufgabe lastete, in einer weniger den in-dividuellen Neigungen entsprechenden als mit Standesbe-wusstsein eingegangenen Heirat die verschiedenen Grup-pen des Grossbürgertums verwandtschaftlich miteinander zu verbinden. Die Männer dagegen waren mit ihrem Beruf für die intergenerationelle Kontinuität des ökonomischen und sozialen Status der Familie verantwortlich, indem sie grösstenteils die Unternehmen der Väter weiterführten.

Die gezielte Wahl der EhepartnerIn aus der gleichen sozia-len Gruppe ist das bestimmende Merkmal der „patrizischen Struktur“ Sarasins.

Die Dichte und Festigkeit dieser „patrizischen Struktur“

verdankte sich der Doppelung von j+-Endogamie und

Be-934 Genauer: In patrilinearer Abstammung vor 1800 im Bürgerrecht; das j+-Zeichen entspricht im Wesentlichen dem hier für AltbürgerInnen verwen-deten Zeichen „a“.

2.6. Alt-, Neu- und Nichtbürger

188 2.6.4. Bürgerrechtsstatus und verwandtschaftliche Vernetzung der Kommissionsmitglieder 189

und im Grossbürgertum fanden alter und neuer Reichtum zusammen.939

Wie korrespondieren die Befunde zu Mitgliedschaft und Kommission mit Tanners These? Bei der in Betracht stehenden bürgerlichen Teilgruppe handelte es sich um eine zur Oberschicht gehörige Gruppierung: Einerseits be-stand sie fast ausschliesslich aus privilegierten Besitz- und Erwerbsklassen und andererseits ging sie massgeblich aus dem alten Stadtbürgertum hervor, bei guter Mitbeteiligung des Patriziats. Die Nachkommen des Stadtbürgertums des Ancien Régime blieben im Untersuchungszeitraum die do-minierende Kraft in der LG. Diese Konstellation ergab sich nicht zuletzt deshalb, weil in der vorrevolutionären Basler Kaufleuterepublik der wirtschaftliche Erfolg ein entschei-dendes Kriterium für die Zugehörigkeit zu Oberschicht und Patriziat war, damit einhergehender sozialer Auf- und Ab-stieg theoretisch möglich war und in der Praxis sehr ver-einzelt auch vorkam. Mit der Ausrichtung auf Leistung und Wettbewerb war die Gesinnung des Stadtbürgertums und der Handels- und Fabrikantenaristokratie bereits im An-cien Régime bis zu einem gewissen Grad bürgerlich, was im 19. Jahrhundert die Integration in das neue, sozial breiter abgestützte Bürgertum vereinfachte.940 Zum andern weiss man aus der neueren deutschen Literatur, dass sich das mo-derne Bürgertum generell aus dem alten Stadtbürgertum heraus entwickelte und die Entwicklung in Basel und der LG nicht untypisch war.941

Auch wenn sich das Basler Bürgertum aus aufkläreri-schen, patriotischen und frühliberalen Impulsen heraus-bildete, hielt es partiell altständische Traditionen und Nor-men aufrecht. Bürgerlichkeit und aristokratischer Lebens-stil vermengten sich: Isaak Iselin, Bildungsbürger der ersten Stunde, wichtigster Theoretiker der Bürgerlichen Gesell-schaft in der Schweiz und Galionsfigur des Basler Bürger-tums im 19. Jahrhundert, entstammte ja selbst altem Adel und der Basler Kaufleuteoligarchie. Tanner betont mit Blick auf die sich ins Berner und Zürcher Bürgertum integrieren-den Radikalen und Demokraten und integrieren-den bäuerlich-gewerb-lichen Mittelstand den für die Mittelschicht typischen Cha-rakter des Schweizer Bürgertums. Als oberschichtspezifi-sche Konfiguration herrschte im Basler Bürgertum seit der Aufklärung und Revolutionszeit Traditionsverbundenheit und ein herrschaftliches Bewusstsein mit seigneuraler Le-bensart, wie schon allein das stattliche Gebäude der LG am Münsterplatz – dem alten Hauptplatz des noblen Kaufleu-tequartiers auf dem Münsterhügel und zu St. Alban – sinn-fällig macht. Zugezogene, Neubürger und soziale Aufsteiger

939 Albert Tanner, Bürgertum und Bürgerlichkeit, pp. 199–220.

940 Vgl. Katharina Simon-Muscheid, Bürgertum; in: HLS, http: / / www.hls-dhs-dss.ch / textes / d / D16379.php, Version vom 9. 10. 2006.

941 Kap. 2.6.1.

mussten schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts kulturelle und normative Anpassungsleistungen erbringen, wollten sie sich ins Bürgertum integrieren. Dass das Bürgertum trotz exklusiver Standards und scharfer Grenzziehungen für neue soziale Identitäten durchlässig blieb, zeigte die zu-nehmende Vermengung von Alt- und Neubürgertum zuerst in der Mitgliedschaft und nach 1875 allmählich auch in der Leitung der Gesellschaft. Die bürgerliche Teilgruppe hielt im letzten Viertel des Jahrhunderts dennoch an ihren alt-bürgerlichen Traditionen und Werten und den hegemonia-lem Ansprüchen fest, was die Perpetuierung der von Sarasin beschriebenen „patrizischen Struktur“ innerhalb der Kom-mission, aber auch der Abschliessungsprozess innerhalb der Sozietät in den 1870er-Jahren belegt. Dass am Ende des Jahr-hunderts in der Lesegesellschaft und besonders auch unter ihren neubürgerlichen Mitgliedern ein Hang zu aristokra-tischem Lebensstil und Auftreten zu beobachten war, ver-mögen für unseren Zusammenhang wohl nichts besser als die Biographie und der Lebenswandel des Kommissionsmit-gliedes Rudolf Brüderlin-Ronus (84) zu veranschaulichen.

Philipp Sarasin unterzog neben der biographischen Re-cherche zu Rudolf Brüderlin dessen Souvenir-Album einer Analyse und verfasste dazu das längste Kapitel seiner Dis-sertation. Brüderlin erscheint bei Sarasin als typischer neu-bürgerlicher Aufsteiger, als Parvenü: Aus neubürgerlichem und mittelständischem Milieu stammend, schaffte Brüder-lin den Karrieresprung ins Wirtschaftsbürgertum, wurde Bankier und zog als solcher in das „über die Schweiz hinaus einflussreiche Machtzentrum des Basler Finanzkapitals“ ein;

das heisst, er gelangte in den engeren Ausschuss des Bank-vereins.942 In die Kommission der Lesegesellschaft wurde Brüderlin 1888 gewählt und verblieb dort als Beisitzer bis 1900, dem Jahr seiner Heirat mit der Altbaslerin Emma Ro-nus. In der Kommission war er keine besonders auffällige oder innovative Figur. Nur wenige seiner Voten wurden zu Protokoll geschlagen.

Nicht nur in der Lesegesellschaft verkehrte Brüderlin vornehmlich in gross- und altbürgerlichen Kreisen. Als Ge-genleistung dafür, dass er sich mit seiner Arbeit der reichen Seidenband- und Handelsbourgeoisie „mimetisch anglich, indem er ihr diente“ wurde er in ihre Geschäfts-, Verkehrs- und Heiratskreise aufgenommen und der „rauschenden Festlichkeit“ grossbürgerlicher Geselligkeit teilhaftig.943 Ein von Sarasin detailliert geschildertes Beispiel eines glänzen-den und luxuriösen gesellschaftlichen Anlasses aus dem Souvenir-Album Brüdelins beschreibt einen Ausflug in die Badische Umgebung im Winter des Jahres 1878: Ein Zug von etwa fünfundzwanzig Schlitten, begleitet von einer An-zahl kostümierter Vorreiter zog nach dem Mittagessen im

942 Philipp Sarasin, Stadt der Bürger, pp. 204 und 207.

943 Ebd., pp. 197 und 226.

2 Abonnenten, die ich einfachheitshalber aber nicht weiter unterscheide. Von der Schnittmenge waren 130 AltbürgerIn-nen und 59 Neu- oder NichtbürgerInAltbürgerIn-nen. 183 waren verhei-ratet, 92 in einer aa-Ehe (50,3 %); das heisst, die Hälfte dieser reichsten „Patrizier“ gehörten zur LG. Durch den Mann oder die Frau oder beide mit dem Altbürgertum verbunden wa-ren insgesamt 144 der 183 Ehen (72 %), und 21,4 % wawa-ren neu-baslerische Ehen (39). Für die mit dem Altbürgertum verwo-benen insgesamt 151 TeilnehmerInnen / ZensitInnen kann Sarasins ermittelter fi-Wert von 2,8 Verwandten übernom-men werden (durchschnittliche Anzahl Verwandter inner-halb des Samples), und für die 48 neu- oder nichtbürgerli-chen TeilnehmerInnen mit neu- oder nichtbürgerlinichtbürgerli-chen Ehepartnern der fi-Wert von 0,5.935 Für die Mitgliedergruppe des Jahres 1895 bedeutet dies, dass sie zu 32 % aus Personen bestand, die als Bestverdiener durch Geburt oder Heirat mit dem Altbürgertum liiert waren und nahezu 3 Verwandte im städtischen Geldadel hatten. Soziale Endogamie und „pat-rizische Struktur“ lassen sich somit als soziale Praxen der Abgrenzung und des gesellschaftlichen Machterhaltes in hohem Mass auf die LG und auf das Bürgertum als sozio-kulturelle Formation, welches sie betrieb, übertragen. Das Bürgertum war nicht einfach ein Konglomerat der Reichs-ten, obschon, wie hier klar gezeigt wurde, die Reichen und die Altpatrizier darin eine dominante Rolle spielten. Bei den Bestverdienenden tritt klar zutage, dass das Bürgertum, als soziales Netz, auf innerbürgerlichen Ehen und einem ausge-dehnten Verwandtschaftsnetz basierte. Die Strategien der reichsten Bürger lassen sich partiell auch für weniger wohl-habende Bürger reklamieren.

2 6 4 4 . Albert.Tanners.

Aristokratisierungsthese.und.die.

Lesegesellschaft

Im Zug der politischen Richtungskämpfe verschoben sich in der Schweiz die Grenzen zwischen den sozialen Klassen mehrfach nach unten.936 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts festigte sich in Abgrenzung zur Arbeiterbewegung der Zu-sammenhalt der verschiedenen Fraktionen des Bürgertums.

Im Verlauf der 1890er-Jahre begann sich die Arbeiterschaft aus der freisinnigen Grossfamilie zu lösen und emanzi-pierte sich von der Bevormundung durch Linksradikale. Sie verabschiedete sich von der Grundüberzeugung, die soziale Frage sei innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und durch die Ausweitung der demokratischen Mitwirkungsrechte zu bewältigen, und schwenkte (in ihrer Selbstwahrnehmung)

935 Philipp Sarasin, Stadt der Bürger, p. 293.

936 Albert Tanner, Bürgertum und Bürgerlichkeit, p. 227; vgl. auch Manfred Hettling, Politische Bürgerlichkeit, p. 260.

auf klassenkämpferische Positionen ein. Bald nach der Fu-sion des Grütlivereins mit der Sozialdemokratischen Partei im Jahr 1901, der sogenannten Solothurner Hochzeit, nahm die Bewegung ein marxistisches Programm an.937

Für Länder wie Frankreich, England und Italien weiss man seit den 1990er-Jahren, dass gegen Ende des 19. Jahr-hunderts, als sich bürgerliche und sozialistische Kräfte po-larisierten, auch die Distanz zwischen Adel und Bürgertum schrumpfte, sich die Verflechtung von Teilen des Adels mit Teilen des Grossbürgertums zu einer neuen Elite verstärkte, und reiche Bürger gewisse „feudale“ Elemente des Lebens-stils übernahmen.938 Albert Tanner entwickelte in seiner in den 1990er-Jahren entstandenen Habilitation die These, dass auch in der Schweiz eine Aristokratisierung des Bürger-tums stattfand. Prägnant findet man die These formuliert in seinem Aufsatz „Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz. Die „Mittelklassen“ an der Macht“ im von Jürgen Kocka herausgegebenen Sammelband zum europäischen Bürgertum im 19. Jahrhundert:

Gegensätze und Unterschiede zwischen „neuem Bür-gertum“ und der „aristokratischen Bourgeoisie“ erschei-nen verwischt und weitgehend eingeebnet, die „neue Bou-r geoisie“ hat sich deBou-r „alten HeBou-rBou-renschicht“ angenäheBou-rt. Im

„Grossbürgertum“ zeigte sich ein Hang zu aristokratischem Lebensstil und Auftreten. Vor allem die zweite und dritte bürgerliche Generation, die meist eine umfassendere Aus-bildung mit Gymnasium und zum Teil auch Studium, Bil-dungsreisen und Auslandsaufenthalten genossen hatten, verfeinerten ihren Lebensstil, besonders auch die Wohn-kultur, und legten mehr Wert auf äussere Repräsentation und symbolische Abgrenzung gegenüber den unteren Klas-sen. Ganz besonders gut gelang es dem wirtschaftsbürger-lichen Unternehmertum, die Distanz zu den „reichen aris-tokratischen Familien“, in deren Heiratskreise es eintrat, zu überwinden. Dabei galten Verbindungen mit Töchtern und Söhnen aus Akademiker- und besitzbürgerlichen Honorati-orenfamilien durchaus als standesgemäss. Die Exklusivität der grossbürgerlichen Verkehrskreise nahm zu, und der Le-bensstil erhielt, orientiert an französischen und englischen Vorbildern, vornehmeren Charakter. Allerdings wich man nicht im Geringsten vom bürgerlichen Kern und Charakter ab. Solide Bürgerlichkeit behielt ihre soziokulturelle Domi-nanz.

Auf der anderen Seite vollzogen auch die „alten Füh-rungsschichten“ wirtschaftlich und politisch, aber auch in Lebensstil und Werten einen Prozess der Verbürgerlichung,

937 Ders. Patrioten, pp. 694 ff. und Direkte Demokratie, p. 200.

938 Michael Schäfer, Geschichte des Bürgertums, pp. 176 ff. und Gunilla Budde, Blütezeit des Bürgertums, pp. 92 f.

2.6. Alt-, Neu- und Nichtbürger

190 2.6.5. Fazit 191

gesellschaft“ liessen sich Traditionen feststellen, die ins 18. Jahrhundert und noch weiter zurück reichten. Der Pro-zess der Herausbildung des neuen Bürgertums ging aus der Perspektive der LG klar unter der Führung des alten Stadt-bürgertums vonstatten. Bei der grössten und zentralen Gruppe, den Mitgliedern, überwog bis ca. 1900 eine altbür-gerliche Mehrheit; ebenso im leitenden Komitee. Anhand des leitenden Komitees und seiner Mitglieder konnte fer-ner nachgewiesen werden, dass Nachkommen der Patrizier-geschlechter des Ancien Régime, genauso wie in der Politik des Kantons bis 1914, in der LG ein gewichtiges Wort mitre-deten: Fast die Hälfte der KMG waren Altpatrizier. Bei den Altbürgern konnte ausserdem dargestellt werden, dass in die Kommission deutlich hineinwirkte, was Philipp Sarasin als „soziale Endogamie“ und „patrizische Struktur“ bezeich-net und als soziale Verhaltensweisen und Grundmuster für den reichsten Teils des Altbürgertums festgestellt hat. Ein Vergleich der einkommensstärksten Einwohner Basels mit dem Teilnehmerkreis der LG hat bestätigt, dass jene Praxen hochgradig auch die Teilnahme in der LG mitstrukturier-ten und teilweise auch als Grenzen gegen aussen und unmitstrukturier-ten wirkten. Aus dem Vergleich ging zusätzlich hervor, ein nam-hafter Teil der Mitgliedschaft war über Verwandtschaften im sozialen Netz der reichen und bürgerlichen Schichten eingebunden.

Auf die LG kann übertragen werden, was die Forschung in Bezug auf die bürgerliche Vergesellschaftung feststellte:

dass bei der Herausbildung eines modernen Bürgertums die Kontinuitäten bei weitem die Brüche überwogen; dass sein Kern aus Angehörigen der alten Oberschicht bestand, dem sich neue Gruppen anlagerten. Das städtische Bürgerrecht war auch für die Verbürgerlichung von zugezogenen Auf-steigern unerlässlich, denn das LG-Mitglied musste Basler Bürger sein. In der LG spielte das System „Bürgertum“ eine bedeutende Rolle, es ermöglichte den bürgerlichen Sozial-gruppen, die altständischen Privilegien nicht schlagartig preiszugeben, sondern unter meritokratischen Vorzeichen des Liberalkonservatismus teils fortzusetzen und sie auch über die politische Bruchlinie von 1875 hinaus zu transpor-tieren, um so in der städtischen Gesellschaft weiterhin ge-wichtige Akteurinnen zu bleiben.

Stadtcasino in Richtung Lörrach. „Der aufwendige Luxus der Schlittenfahrt, die glänzenden Fuhrwerke mit Familienwap-pen und dem geschnitzten WapFamilienwap-pentier, die Pferde mit den wehenden Federbüschen und die kostbaren Pelze der Teilneh-mer, der Tanz in Lörrach und der improvisierte Ball in einem Privathaus nach der Rückkehr zu nächtlicher Stunde war eine Sache der ausgesuchtesten Repräsentation grossbürgerlicher

„Lebensart““944 Neben dem pompösen Ereignis ortet Sarasin im Erinnerungsalbum des Grossbürgers eine endlose Kette an Diners und Banquets, Bällen, Pferderennen, Tanz- und Theateraufführungen, welche die feudale Ausgestaltung grossbürgerlicher Geselligkeit aufs Beste dokumentieren.

Der Aufsteiger Brüderlin verzeichnete mit Akribie alle sozialen Kontakte, die seine Zugehörigkeit zum Grossbür-gertum festigten. Die Perspektive des Albums verdeut-licht das dichte Netz des prächtigsten geselligen Verkehrs in dieser Klasse und führt zugleich dessen scharfe Abgren-zung gegenüber andern Teilen der Gesellschaft vor Augen.

Brüderlins Biographie zeigt exemplarisch die mögliche Assimilation alter und neuer Eliten im Rahmen der gross-bürgerlichen Geschäftstätigkeit, Geselligkeit und des Ver-einswesens und bestätigt Albert Tanners These der aristo-kratischen Tendenzen in Mentalität und Lebensstil des Bür-gertums am Ende des 19. Jahrhunderts.

2.6.5. Fazit

Der Blick auf die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um soziale Chancen und politische Partizipation im 19. und frühen 20. Jahrhundert hat eröffnet, dass die Unterschei-dung von Alt- und Neubürgern für Basler Zeitgenossen re-levant war und es gerechtfertigt ist, für das 19. Jahrhundert von altbaslerischen und neubaslerischen Identitäten zu sprechen. Dass das Reden von „Patriziat“ und „Geschlechter-herrschaft“ über die Umbrüche von 1831 und 1875 hinaus vor dem Hintergrund nicht nur kultureller und ökonomischer Hegemonie, sondern auch von deutlichen herrschaftlichen Kontinuitäten altpatrizischer Familien geschehen ist, hat die Darstellung von Geschlechtern in den Regierungen auf-zeigen können.

Die Vermessung von Bürgerrechtssedimenten in der Mitgliedschaft hat ergeben, dass seit Ende der 1850er-Jahre ein Rückgang der Altbürger in der Mitgliedschaft erfolgte, was durch Neubürger kompensiert wurde. Deren Aufnahme geschah dosiert, somit blieb das quantitative Niveau der ge-samten Mitgliedergruppe zwischen 1850 und bis Anfang der 1870er-Jahre in etwa konstant. Nachdem die

Bürger-944 Ebd., pp. 189 ff.

schaft ihre Alleinherrschaft in der Stadt verloren hatte, und im Kanton der von Neubürgern und Schweizern gestützte Freisinn an die Macht gekommen war, wurden in der LG die Schalter umgelegt und die neubürgerlichen Bestände nivel-liert Damit konnte verhindert werden, dass bei fortschrei-tender Abnahme der Altbürger die Neubürger die Majorität erlangten und so einer allfälligen „Palastrevolution“ analog zum Kontext in der alten „Privatrepublik“ des liberalkon-servativen Bürgertums vorgebeugt werden.

Altbürger überwogen mit Ausnahme von 1888 und 1915 in der Kommission. Im Zeitraum bis 1875 majorisierten sie die Kommission mit rund ¾ der KMG. Zugezogene Einge-bürgerte deckten das restliche ¼ ab. Es handelte sich in der Regel um Notabeln im Bildungswesen. Die altbürgerliche Dominanz unterstrichen die konnubialen Verbindungen:

eine altbürgerliche Gattin war weitgehend selbstverständ-lich, denn die meisten Altbürger und etliche der Eingebür-gerten hatten Frauen aus diesem Bürgerrechtssediment.

Im zweiten Zeitabschnitt wandelte sich die Linie Altbür-ger-Eingebürgerte grundlegend, und neue eheliche und bürgerrechtliche Kombinationen wurden möglich. Neue Erscheinungen waren die als Neubürger Geborenen und ge-gen Ende des Jahrhunderts die Schweizer Bürger. Gemischte und neubürgerliche Kombinationen verdrängten schritt-weise den standardmässigen, „patrizischen“ Typus der ers-ten Phase, und die Eingebürgerers-ten verschwanden respek-tive wurden von zugezogenen Schweizern abgelöst. Aus der Perspektive von Bürgerrechtsstatus und Heiratsverbindung verkörperten KMG, die als Neubürger geboren waren und keine Altbaslerin zur Ehefrau hatten, signifikant den neuar-tigen Typus in der Kommission der LG. Die in Gang gesetzte Transformation der Strukturen trug entscheidend zur Krise der LG 1887–89 bei. Es konnte gezeigt werden, dass es sich dabei um eine zeitlich verschobene Reaktion auf die statua-risch ermöglichte und effektiv erfolgte Restriktivierung der Aufnahme in die Mitgliedschaft von Neubürgern um 1875 handelte: Der seit 1868 andauernde Zuwachs von Neubas-lern in die Kommission führte unter neubürgerlichem

Im zweiten Zeitabschnitt wandelte sich die Linie Altbür-ger-Eingebürgerte grundlegend, und neue eheliche und bürgerrechtliche Kombinationen wurden möglich. Neue Erscheinungen waren die als Neubürger Geborenen und ge-gen Ende des Jahrhunderts die Schweizer Bürger. Gemischte und neubürgerliche Kombinationen verdrängten schritt-weise den standardmässigen, „patrizischen“ Typus der ers-ten Phase, und die Eingebürgerers-ten verschwanden respek-tive wurden von zugezogenen Schweizern abgelöst. Aus der Perspektive von Bürgerrechtsstatus und Heiratsverbindung verkörperten KMG, die als Neubürger geboren waren und keine Altbaslerin zur Ehefrau hatten, signifikant den neuar-tigen Typus in der Kommission der LG. Die in Gang gesetzte Transformation der Strukturen trug entscheidend zur Krise der LG 1887–89 bei. Es konnte gezeigt werden, dass es sich dabei um eine zeitlich verschobene Reaktion auf die statua-risch ermöglichte und effektiv erfolgte Restriktivierung der Aufnahme in die Mitgliedschaft von Neubürgern um 1875 handelte: Der seit 1868 andauernde Zuwachs von Neubas-lern in die Kommission führte unter neubürgerlichem