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3. Curriculumentwicklung

3.4. Curriculumentwicklung in der pflegeberuflichen Bildung 1. Historische Ursprünge

3.4.2. Strukturierung der Inhalte

Vor dem Hintergrund der beschriebenen Entwicklung curricularer Vorgaben wird deutlich, dass sich die Ausbildungsinhalte der Krankenpflegeausbildung traditionell am Fächerprinzip orientieren, auch wenn es sich dabei, bis auf einige naturwissen-schaftliche Anteile wie Chemie und Physik, nie um Schulfächer handelt. Die Veror-tung der Krankenpflegeausbildung außerhalb des allgemeinen berufsbildenden Sys-tems führt dazu, dass allgemeinbildende Anteile, wie sie in den Curricula für Berufs-schulen verbindlich sind, in diesem Ausbildungsbereich nicht vorgesehen sind. Zur theoretischen Ausbildung werden ausschließlich medizinisch-pflegerische Fachinhal-te vorgegeben, die sich curricular an die FachsysFachinhal-tematik und Sequenzierung der Arztausbildung anlehnen. Folglich werden naturwissenschaftliche Grundlagen vorge-geben, die der Themenstruktur des Physikums ähneln, worauf aufbauend Grundsät-ze der Pathophysiologie nach ärztlichen Fachrichtungen gegliedert folgen. Kranken-pflege als berufskundliches Fachgebiet wird inhaltlich analog, in allgemein Kranken- pflegeri-sche und nach ärztlichen Fachrichtungen gegliederte Spezialgebiete differenziert.

Der in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts in Deutschland begonnene Prozess wissenschaftlicher Fundierung der Pflege wirkt sich maßgeblich auf die curriculare Entwicklung der Ausbildung aus. Insbesondere die so genanten Bedürfnis-Modelle100, die auf die Arbeiten von Henderson zurückgehen, gewinnen im deutschsprachigen Raum an Bedeutung. Hendersons entwirft eine Definition von Pflege, die den Schwerpunkt von der medizinischen Therapie weg und hin zu einem spezifischen Gegenstandsbereich verlagert.101 Der Fokus richtet sich damit:

„auf Menschen, die in der autonomen Ausübung ihrer Lebensaktivitäten ge-fährdet oder eingeschränkt sind und diesen so wie ihren Bedürfnissen (needs) nicht mehr in geeigneter Form nachgehen können, sowie auf die zum

99 vgl. Mischo-Kelling, 1992, S. 9; Bögemann-Großheim, 2002, S. 165

100 vgl. Meleis, 1991

101 vgl. Marriner-Thomey, 1992, S. 136 ff.

Ausgleich dieser Defizite erforderlichen kompensatorischen Handlungen der Pflege.“102

Trotz der Passungsprobleme amerikanischer Pflegetheorien in die deutsche Pflege-wirklichkeit und deren bestimmende Bezugssysteme liegen die Gründe für die Ak-zeptanz diese Ansatzes zum einen in seiner theoretischen und sprachlichen Unkom-pliziertheit sowie zum anderen in der Anschlussfähigkeit an die defizitorientierten medizinischen Modelle.103 Das modifizierte Pflegemodell von Roper, Logan und Tier-ney dient beispielsweise zur theoretischen Fundierung und Strukturierung fächerin-tegrativer Ausbildungscurricula.104 So ist das Hessische Curriculum für Krankenpflege aus den Jahren 1990 und 1991 sowie die entsprechende Vorgabe für die Kinder-krankenpflegeausbildung in Unterrichtseinheiten gegliedert, die sich fast wörtlich an das Konzept der „Lebensaktivitäten“ aus dem Lebens- und Pflegemodell von Roper, Logan und Tierney anlehnen.105 Auch die 4. Auflage des Krankenpflegelehrbuchs von Juchli aus dem Jahr 1983 strukturiert die für die Pflegearbeit wichtigen Wissensbe-stände erstmals fächerübergreifend an Hand von „Aktivitäten des täglichen Le-bens“.106

Somit gehen von der Rezeption amerikanischer und britischer Pflegetheorien curricu-lare Impulse aus, die erste Ansätze für eine eigene Fachsystematik pflegeberuflichen Wissens bilden. Darüber hinaus gewinnen Erkenntnisse aus anderen Bereichen der Pflegeforschung an Bedeutung, sodass die Forderung nach Evidenz basierter Pflege zu einer der Leitideen der weiteren curricularen Entwicklung wird.107

Mit der Orientierung an der neuen Disziplin „Pflegewissenschaft“ verbinden sich so-wohl implizit als auch explizit emanzipatorische Professionalisierungserwartungen, deren Einlösung allerdings vor Problemen steht. In Bezug auf curriculare Entwick-lungsprozesse wirkt sich der noch relativ begrenzte deutschsprachige Wissensbe-stand hemmend aus, auch wirft er bisher unzureichend geklärte Fragen nach der neu zu bestimmenden curricularen Relevanz der so genannten Bezugswissenschaften, wie z. B. der Medizin auf. Keuchel schränkt deshalb die professionellen Profilie-rungserwartungen im Zusammenhang mit der Wissenschaftsorientierung wie folgt ein:

102 Schaeffer / Moers / Steppe, 1997, S. 39

103 vgl. Moers / Schaeffer, 2000, S. 35 ff.;Schaeffer / Moers / Steppe, 1997, S. 39 ff.

104 Roper / Logan / Tierney, 1993. Für die Altenpflegeausbildung entwirft Krohwinkel ein ähnlich strukturiertes Curriculum, dessen Inhalte in „Aktivitäten und Elemente des täglichen Lebens“ gegliedert sind. Vgl. Krohwinkel, 1993.

105 vgl. Hessisches Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1990; Hessisches Ministerium für Jugend, Familie und Gesundheit 1991

106 vgl. Juchli, 1983

107 vgl. Zegelin-Abt, 2002, S. 84

„Solange aber die Inhaltsfrage ungeklärt ist, wird ein Eigenprofil der Pflege als Profession und damit ein eigenständiger Kompetenz- und Verantwortungsbe-reich der Pflege als Beruf kaum durchsetzungsfähig sein und ist die Forderung pflegeberuflicher Handlungskompetenz als pädagogische Ausgabe nur schwer zu realisieren.“108

Obwohl dem Wissenschaftsprinzip bei der Strukturierung von Curricula in der berufli-chen Bildung entgegengehalten wird, dass es zu wenig an der berufliberufli-chen Hand-lungswirklichkeit orientiert ist, richten sich die Erwartungen im Zusammenhang mit der pflegepädagogischen Debatte darauf, dass von der pflegewissenschaftlichen Orientierung der Ausbildung Impulse auf das berufliche Handeln ausgehen.109

Die aktuelle Neuregelung der Krankenpflegeausbildung aus dem Jahr 2004 gliedert die Inhalte in Themenbereiche und folgt damit dem allgemeinen Berufsbildungstrend der Situationsorientierung als curriculares Strukturierungsprinzip. Obwohl die lern-feldorientierten Vorgaben der KMK keine Relevanz für die Lehrplangestaltung pfle-geberuflicher Ausbildungen haben, entstand dennoch ein breiter pflegepädagogi-scher Diskurs zum Lernfeldkonzept.110 Die bereits weiter oben problematisierte Un-klarheit originär pflegerischer Funktionen muss sich jedoch besonders unter diesem Strukturierungsprinzip auswirken, das Arbeits- und Geschäftsprozesse als zentrale curriculare Legitimationsgrundlagen betrachtet.

„Allerdings besteht derzeit kein fachlicher, politischer, pädagogischer oder gar empirisch abgesicherter Konsens darüber, was heute und zukünftig als Kern-bereiche pflegerischen Wissens zu vermitteln ist und worin die konkrete pflegerische Handlungsqualität ihren Ausdruck findet.“111

Dennoch gibt es verschiedene Ansätze zur Beschreibung pflegerischer Handlungssi-tuationen. Wittneben fordert z. B. im Zusammenhang mit der Lernfelddebatte die Konzepte „Arbeitsprozess“ und „Geschäftsprozesse“ um den Begriff des „Pflege- und Beziehungsprozesses“ zu ergänzen, damit die Kerngegenstände der Pflegepädago-gik in den Blick beruflicher Curriculumentwicklung genommen werden können. Diese Differenzierung ist nötig, da Arbeitsprozesse an den Strukturen

gewerblich-technischer Berufe und Geschäftsprozesse an kaufmännischen Berufen orientiert sind.112 Becker vertritt die gegenteilige Meinung, indem er die Arbeitsprozessorientie-rung als geeignetes Mittel zur VerhindeArbeitsprozessorientie-rung einer verkürzten Sicht auf ausschließlich pflegerische Aufgaben in modernen Organisationen des Gesundheitswesens

108 Keuchel, 2005, S. 137

109 vgl. Bögemann-Großheim, 2002, S. 181 ff.

110 vgl. z. B.: Darmann / Wittneben 2002; Bischoff-Wanner, 2003; Ertl-Schmuck 2003; Falk / Kerres, 2006;

111 Keuchel, 2005, S. 229; vgl. Walter, 2006, S. 391

112 vgl. Wittneben, 2003, S. 129

erachtet.113 Die Spezifik pflegeberuflicher Aufgaben wird von den meisten Autoren114 in der Beziehungsdimension gesehen:

„In dieser Dimension pflegeberuflichen Handelns – Pflege als Beziehungsar-beit; Pflege als Interpretationsprozess – kommt die besondere Bedeutung der Fähigkeit von Pflegenden zu diagnostisch situativem Sinnverstehen im Sinne hermeneutischer bzw. interpretativer Kompetenz zum Tragen.“115

Das Kompetenzprofil der Pflegenden sei deshalb von einer doppelten Handlungs- logik bestimmt, die in einem Implikationszusammenhang von zweck- und sinnrationa-lem Handeln beschrieben werden kann. In Abgrenzung zu anderen personenbezo-genen Dienstleistungen besteht die Besonderheit pflegerischer Handlungen zudem in der Nähe zur Körperlichkeit.116

Konkretere Anhaltspunkte zur Identifikation genuin pflegerischer Handlungsanforde-rungen bietet ein Modell von Hundenborn. 117 Unter der Prämisse, dass pflegeberufli-ches Handeln eine besondere Form des sozialen Beziehungshandelns sei, konzep-tualisieren die Autorin den Begriff der „Pflegesituation“ unter Bezugnahme systemi-scher Annahmen:

„Dabei wird das Handeln nicht nur durch die Einstellungen, Beweggründe und Interessen der beteiligten Personen bestimmt, sondern auch durch die Situati-on selbst sowie durch ihre kSituati-ontextuelle Einbettung, etwa in die Bedingungen des Arbeitsplatzes oder der Institution.“118

Den übergeordneten Einflussrahmen bilden die gesellschaftlichen Erwartungen an die Angehörigen der Pflegeberufe, als Ausdruck gesundheitssystemrelevanter Wert-haltungen. Vor diesem Hintergrund entwickelt Hundenborn ein Modell, das aus den folgenden fünf konstitutiven Elementen einer Pflegesituation besteht:

• Pflegeanlässe: Erfordernisse, die berufliches Handeln notwendig machen;

• Erleben und Verarbeiten: subjektive Deutungen, Erlebensweisen und Zuschrei-bungen, Krankheits- und Krisenbewältigung;

• Interaktionsstruktur: neben der Zweierinteraktion sind auch die Interaktionsgefüge gemeint, in die beide, Pflegeperson und Patient, jeweils darüber hinaus eingebet-tet sind;

113 vgl. Becker, 2006, S. 96.

114 vgl. Olbrich, 1999; Remmers 2000; Friesacher 2001; Wittneben 2003

115 Keuchel, 2005, S. 137

116 vgl. Keuchel, 2005, S. 138

117 Hundenborn, 2007, S. 45 ff.

118 Hundenborn, 2007, S. 43

• institutioneller Kontext: Zielsetzungen, Prioritäten, Aufgabenschwerpunkte und Rahmenbedingungen können sich fördernd und hemmend auf Handlungsalterna-tiven auswirken;

• Pflegeprozess: bildet die formale Struktur des situativen Handelns.

Über die hierdurch identifizierbaren Pflegesituationen hinaus beschreibt die Autorin weitere berufsrelevante Situationen, in denen Pflegende handeln müssen, wie z. B.

bei der Repräsentation von berufsgruppenspezifischen Interessen durch berufspoliti-sches Engagement.119

Aus dem Strukturierungsprinzip der Situationsorientierung für Curricula erwächst wie dargestellt im Bereich der Pflegeberufe zunächst die Anforderung einer Klärung der Frage, was als Pflegesituation definiert werden soll. Dabei wird ein pflegetheoreti-scher Ansatz verfolgt, der dem Entwicklungsstand der Pflegewissenschaften in Deutschland entspricht. Allerdings wird deutlich, dass mit der Konzeptualisierung des Begriffs „Pflegesituation“ nicht unbedingt geklärt ist, worin die Gesamtheit beruflicher Handlungssituationen bestehet, die im übrigen Berufsbildungssystem zur curricularen Legitimations- und Entscheidungsgrundlage dient.