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Der Kompetenzbegriff in der pflegeberuflichen Bildung

4. Berufliche Handlungskompetenz als Leitziel pflegeberuflicher Bildung

4.4. Der Kompetenzbegriff in der pflegeberuflichen Bildung

und praktischen Unterrichts aufgeführt werden.63 So lautet der erste Themenbereich:

„Pflegesituationen bei Menschen aller Altersgruppen erkennen, erfassen und bewer-ten“. In der weiteren Konkretisierung durch Zielformulierungen heißt es u. a. weiter:

„Die Schülerinnen und Schüler sind zu befähigen, ihr Pflegehandeln nach dem Pfle-geprozess zu gestalten.“64 Der zweite Themenbereich lautet allerdings im Folgenden:

„Pflegemaßnahmen auswählen, durchführen und auswerten“. Diese aus pflegetheo-retischer Sicht inkohärente Strukturierung pflegerischen Handelns könnte auf den folgenden Ebenen curricularer Auslegung beispielsweise durch Ländercurricula oder Schulcurricula kompensiert werden. Die Vorgaben zur Gestaltung der schriftlichen Abschlussprüfung sehen jedoch getrennte Aufsichtsarbeiten an zwei Prüfungstagen für jeden der beiden Themenbereiche vor und manifestieren damit die curriculare Trennung der Elemente des Pflegeprozesses zusätzlich.65 Die bundeseinheitlichen Ausbildungsvorgaben für die Gesundheits- und Krankenpflegerin sind somit sowohl in Bezug auf die Prinzipien vollständiger beruflicher Handlung als auch in Bezug auf das Prinzip des systematischen Pflegehandelns nach dem Pflegeprozess uneindeu-tig.

Nach der Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Strukturen und kognitiven Voraussetzungen beruflichen Handelns als Determinanten zur Gestaltung hand-lungskompetenzorientierter, ausbildungsrelevanter Lehrpläne, wird im Weiteren dar-gestellt, welche Deutungen des Kompetenzbegriffs in pflegeberuflichen Zusammen-hängen entstanden sind.

Die individuelle Entwicklung pflegerischer Kompetenz vollzieht sich nach Benner in den folgenden fünf Stufen:67

1. Neuling

2. fortgeschrittene Anfängerin 3. kompetente Pflegende 4. erfahrene Pflegende 5. Pflegeexpertin

Benner charakterisiert wesentliche Merkmale jeder Kompetenzstufe und veranschau-licht diese an Hand von Beispielen, so dass deren Identifikation und Abgrenzung möglich sind. Dabei wird herausgestellt, dass kompetentes Handeln auf einer der Stufen von der Vertrautheit mit derjenigen Anforderungssituation abhängt, in der kompetent gehandelt werden soll. Aufgrund dieser Situationsabhängigkeit ist es möglich, dass eine Pflegekraft in einer beruflichen Handlungssituation als Expertin und gleichzeitig in einer anderen Situation auf einer niedrigeren Stufe einzuordnen ist. Ausschlaggebend für die Verortung auf einer der Stufen ist dabei weniger die in-haltliche Anforderung der beruflichen Handlung, sondern vielmehr die individuelle Art der Situationswahrnehmung durch die Pflegekraft und die resultierende Qualität der Handlung. Neben diesem Potential einer situationsabhängigen Einstufung von kom-petentem Pflegehandeln, lassen die identifizierten Wesensmerkmale einer jeweiligen Kompetenzstufe auch Rückschlüsse auf deren Erwerb zu.68 So kann in Bezug auf die Ausbildung davon ausgegangen werden, dass vor allem die Stufen vom Neuling bis zur kompetent Pflegenden didaktisch relevant sind.69 In der Regel beginnen Auszu-bildende ihre Ausbildung auf der Stufe des Neulings. Sie haben nur selten berufliche Erfahrungen mit Situationen, in denen sie kompetent handeln sollen und sind des-halb zunächst auf kontextfreie Regeln angewiesen, an denen sie ihr Handeln aus-richten können. Im Prozess des Kompetenzerwerbs werden im weiteren Verlauf im-mer mehr Situationen bewältigt, so dass sich die Lernenden unter Anleitung und spä-ter alleine der wiederkehrenden bedeutungsvollen situativen Bestandteile der Hand-lungsanforderungen bewusst werden. Hieraus leitet sich die Bedeutung sowohl der theoretischen als auch der praktischen Ausbildungsanteile ab. Gemäß Benners Cha-rakterisierung der Situationsbewältigung als „kompetent Pflegender“, kann die dritte

67 vgl. Benner, 1995, S. 26

68 vgl. Benner, 1995, S. 35 ff.

69 vgl. Storz, 2005, S. 95; Benner, 1995, S. 176

Stufe als Kompetenzstufe am Ende der Ausbildung und Eintritt in den Beruf interpre-tiert werden.

„Kompetenz, so wie sie bei Pflegenden anzutreffen ist, die etwa zwei bis drei Jahre im gleichen oder in einem ähnlichen Berufsfeld tätig sind, entwickelt sich, wenn sie anfangen, ihre Handlungen auf längerfristige Ziele oder Pläne auszurichten, über deren Bedeutung sie sich bewusst sind. Diese Pläne ge-ben vor, welche Attribute und Aspekte der gegenwärtigen und möglicherweise zukünftigen Situationen Vorrang haben und welche vernachlässigt werden können. Damit ergibt sich … eine Perspektive für die Situation, und die Grund-lage des Plans ist eine ziemlich bewusste, abstrakt und analytische

Betrachtung der Problemlage.“70

Im Rahmen curricularer Entscheidungsprozesse muss vor diesem Hintergrund fest-gelegt werden, an Hand welcher kompetent bewältigter Situationen das Erreichen der dritten Stufe festgelegt werden soll.

Das Dreyfus-Modell endet nicht mit dem Stand der Abschlussprüfung einer Be-rufsausbildung, sondern umfasst den weiteren Prozess des Kompetenzerwerbs, in dessen Verlauf das ursprünglich hilfreiche explizite Regelwissen immer stärker an Bedeutung verliert. Wird die höchste Stufe der Pflegekompetenz erreicht, ist die Pfle-geexpertin zu kompetentem Handeln, das auf intuitiver Situationserfassung und Ent-scheidung gründet in der Lage. Die Handlung kann jedoch retrospektiv operational expliziert werden, was zur Gestaltung didaktischer Prozesse der beruflichen Weiter-bildung relevant ist. Obwohl explizitem Wissen auf der höchsten Kompetenzstufe im Rahmen dieses Modells also ein niedrigerer Stellenwert als zu Anfang des Kompe-tenzerwerbs zukommt, kann diese nur erreicht werden, indem die niedrigeren Stufen unter Zuhilfenahme solcher Wissensarten durchlaufen werden. Durch die Situations-gebundenheit der Kompetenzstufen ist regelhaftes und analytisches Vorgehen in be-ruflichen Handlungsanforderungen allerdings auch nach der Ausbildung immer dann erforderlich, wenn sich eine Pflegekraft vor eine neue, unübersichtliche oder riskante Situation gestellt sieht. Benner hebt hervor, dass genau solche häufige Unvorher-sehbarkeit ein Wesensmerkmal pflegeberuflicher Handlungssituationen ist.71 Obwohl der Begriff der „Pflegeexpertin“ in die deutsche Pflegefachsprache integriert ist, hat Benners Stufenmodell des Kompetenzerwerbs kaum Auswirkungen auf didaktische Überlegungen zur Aus- und Weiterbildung in den Pflegeberufen.

Vielmehr sind im deutschsprachigen Raum neue Konzeptualisierungen von kompe-tentem Pflegehandeln entstanden. So geht Olbrich beispielsweise davon aus, dass

70 Benner, 1995, S. 45

71 vgl. Benner, 1995, S. 172 ff.

Pflegesituationen derart einzigartig sind, dass ihre kompetente Bewältigung lediglich indirekt durch das Zusammenwirken derjenigen Prozesse beschrieben werden kann, die Kompetenz bewirken. Pflegekompetenz entfaltet sich im Rahmen dieses Ansat-zes in den Dimensionen:

• denken – reflektieren;

• emotionale Leistungen – fühlen, emphatisch sein;

• aktionale Leistungen – regelgeleitetes routinemäßiges Handeln;

• wertegeleitetes Handeln, personal stark sein.72

Mit dem Hinweis auf den großen Allgemeinheitsgrad dieser Definition und der damit verbundenen Unklarheit in Bezug auf die Fundierung didaktischer Entscheidungen entwirft Ertl-Schmuck73 ein Konzept subjektorientierten Handelns in der Pflege, das der Charakteristik der Unvorhersehbarkeit pflegerischer Situationen gerecht werden soll.

„In einer gegebenen pflegerischen Situation kompetent zu handeln heißt, die Situation vor dem pflegerisch fachlichen Hintergrundwissen richtig einzuschät-zen und auf die spezifischen Anforderungen durch Abwägen von Alternativen zu reagieren und gemeinsam mit dem Patienten Pflegeziele jeweils neu zu bestimmen. Die Pflegearbeit lässt sich somit nicht als vollständig zweckratio-nales Handeln abbilden, sondern diese muss erweitert werden um Verabre-dungen und EntscheiVerabre-dungen auf der situativen bzw. subjektorientierten Hand-lungsebene.“74

Während die funktional-zweckrationale Seite des Pflegehandelns routinisierbar sei und in Form von Standard abgebildet werden könne, seien zur Bewältigung der nichtroutinisierbaren, subjektorientierten Anteile folgende Fähigkeiten grundlegend:

• die Fähigkeit zur bewussten sinnlichen Wahrnehmung (akustische, optische, ol-faktorische, taktile und kinästhetische Wahrnehmung) als Grundlage der Arbeits-orientierung;

• die Fähigkeit, die individuelle Patientensituation zu erkennen, zu formulieren und zu verstehen;

• die Fähigkeit zur dialogischen Entwicklung des Pflegegeschehens, wobei objekti-ve Pflegeanforderungen mit den subjektiobjekti-ven Bedürfnissen und Möglichkeiten des zu Pflegenden ausbalanciert werden. Dies setzt kommunikative Fähigkeiten, so-wie Interpretations- und Deutungskompetenz voraus;

72 vgl. Olbrich, 1999, S. 104

73 vgl. Ertl-Schmuck, 2000

74 Ertl-Schmuck, 2000, S. 164

• die Fähigkeit zur Empathie;

• die Fähigkeit zur Kritik;

• die Fähigkeit Problemlösungsmethoden sinnvoll einzusetzen;

• Toleranzbereitschaft, um Differenzerfahrungen und Fremdheit aushalten zu kön-nen;

• die Fähigkeit zu Toleranz und Abstimmung mit anderen an der Pflege beteiligten Berufsgruppen und Bezugspersonen;

• die Fähigkeit Nähe und Distanz ausbalancieren zu können sowie Grenzen zu for-mulieren;

• die Fähigkeit zu moralischem Handeln;

• die Fähigkeit den Pflegeverlauf zu beurteilen und zu bewerten;

• die Fähigkeit innere Konflikte und Fragen zu erkennen und zu formulieren, die sich aus erlebten Situationen ergeben;

• die Fähigkeit repressive Pflegestrukturen zu erkennen und Lösungsansätze zu entwickeln.75

Bezüglich der Auswahl und Legitimationsentscheidungen im Rahmen pflegeberufli-cher Lehrplanarbeit stellt sich allerdings die Frage, auf welche Weise routinisierbare und nicht routinisierbare Handlungsanforderungen in Form von Ausbildungszielen zusammengeführt werden können.

Der Kompetenzdiskurs in der pflegeberuflichen Bildung wird in jüngster Zeit eher von der Neuregelung des Krankenpflegegesetzes und der damit verbundenen Einführung des Leitziels beruflicher Handlungskompetenz belebt.76 Vor diesem Hintergrund un-terzieht Hundenborn die Ausbildungsgesetze der Alten- und der Krankenpflege (KrPflG, AltPflG) sowie deren Rechtsverordnungen (KrPflAPrV, AltPflAPrV) einer in-terpretierenden Analyse im Hinblick auf den zugrunde liegenden Kompetenzbegriff und kommt zu folgendem Ergebnis:

„Kompetenzen sind nicht statisch zu verstehen, sondern als dynamischer Pro-zess. Sie unterliegen nicht nur im Ausbildungsverlauf, sondern auch im späte-ren Berufsleben einer Weitespäte-rentwicklung. In organisierten Bildungsprozessen ist es deshalb auch von Bedeutung, die Lernenden in der Selbsteinschätzung ihrer eigenen Kompetenz zu fördern.

Kompetenzen werden nicht als abstrakte, allgemeine Befähigungen verstan-den. Sie sind vielmehr auf konkrete Situationen - auf Pflege- und Lebenssitua-tionen - bezogen. Kompetenz und Kompetenzentwicklung sind gebunden an

75 vgl. Ertl-Schmuck, 2000, S. 165 ff.

76 Wittneben, 2003, S. 124 ff.; Hundenborn, 2007, S. 144 ff.; Kaufhold, 2007, S. 18 ff.

den Handlungsvollzug, an das Tätig werden, sowie an die damit einhergehen-den Erfahrungen im Sinne reflektierten Handelns. Die Förderung und Entwick-lung von HandEntwick-lungskompetenzen nur am Lernort Schule oder nur am Lernort Praxis ist somit ausgeschlossen. Lernprozesse in der Schule und in der be-trieblichen Praxis sind im Interesse von Kompetenzentwicklung systematisch aufeinander zu beziehen und miteinander zu verzahnen.

Kompetenz und Performanz als beobachtbarer Ausdruck von Kompetenz sind nicht nur abhängig von Einzelnen. Vielmehr spielen für die Kompetenzentwick-lung und Kompetenznutzung in Situationen die HandKompetenzentwick-lungserwartungen und Handlungsressourcen der Umwelt und damit die generellen und situativen Rahmenbedingungen, unter denen das Handeln erfolgt, eine entscheidende Rolle.“77

Hierin kommt vor allem zum Ausdruck, dass der Entwicklung von Handlungsfähigkeit in beruflichen Situationen ein hoher Stellenwert zukommt. Die Qualität der Situati-onsbewältigung wird jedoch neben der individuellen Kompetenz der handelnden Pflegekraft auch von den Strukturbedingungen der Situation abhängig gemacht.

Neben solchen Definitionsansätzen pflegerischer Kompetenz wird auch im Bereich der Pflegepädagogik der Versuch unternommen, eine Konzeptualisierung beruflicher Handlungskompetenz durch ihre Differenzierung in Teilkompetenzen zu erreichen.

Das in Kapitel 4.2. dieser Arbeit beschriebene heterogene Spektrum solcher Teil-kompetenzen wird dadurch um weitere Varianten erweitert. Schewior-Popp benennt beispielsweise Fach-, Methoden-, Sozial- und Persönlichkeitskompetenz als Rahmen einer kompetenzorientierten Pflegedidaktik.78 Im Kontext der Curriculumentwicklung fordern Tippelt und Edelmann eine Differenzierung in Fach-, Methoden-, Sozial- und Selbstkompetenz, um die Komplexität pflegerischen Handelns zu erfassen.79

Mit dem Ziel einer leichteren Messung von Pflegekompetenz entwerfen Müller et al.

die Teilkompetenzen: Fachkompetenz, soziale Kompetenz, kommunikative Kompe-tenz, methodische KompeKompe-tenz, personale Kompetenz und Lernkompetenz.80 Der formal bedeutsamste Ansatz ist in der Neuregelung des KrPflG aus dem Jahr 2004 enthalten. Hierin wird eine Differenzierung in fachliche, personale, soziale und methodische Kompetenz vorgenommen, die an die Vorgaben der KMK angelehnt ist.81

77 Hundenborn, 2007, S. 143

78 vgl. Schewior-Popp, 1998, S. 8

79 vgl. Tippelt / Edelmann, 2003, S. 342 f.

80 vgl. Müller et al., 2008, S. 42

81 vgl. Storsberg / Neumann / Neiheiser, 2006, S. 12 f

Auch für diesen Berufsbildungsbereich kann jedoch konstatiert werden, dass aus der Identifizierung von Teildimensionen beruflicher Handlungskompetenz kaum konzep-tionelle Klarheit sondern weiterer Klärungsbedarf entsteht.

Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass mit dem Konzept beruflicher Handlungskompetenz eine diskursiv heterogene und abstrakte Zieldimension einge-führt ist, die zur Deduktion konkreter didaktischer bzw. curricularer Entscheidungen nicht herangezogen werden kann. Es lassen sich jedoch struktur- und kognitionsthe-oretisch fundierte Kriterien für curriculare Entscheidungen identifizieren, die unter diesem Leitziel getroffen werden sollen.

So erhält das berufliche Handeln als inhaltlicher Bezugsrahmen und empirischer Kristallisationspunkt eine zentrale Orientierungsfunktion. Aus seinen Strukturmerk-malen und kognitiven Voraussetzungen lassen sich legitimierende Gestaltungsprinzi-pien für die Entwicklung ausbildungsrelevanter Curricula ableiten. Insbesondere für den Bezug auf den pflegepädagogischen Diskurs bietet die strukturtheoretische Per-spektive Überschneidungen mit pflegetheoretischen Ansätzen.

Die Fokussierung der Handlungsstruktur lässt allerdings die Frage nach den Hand-lungsinhalten und damit nach der Auswahl ausbildungsrelevanter Handlungssituatio-nen offen. Diese Entscheidungen könHandlungssituatio-nen und sollen nicht im Rahmen dieser Arbeit getroffen werden, sondern müssen im Kontext der Lehrplanarbeit von den beteiligten Akteuren ausgehandelt werden. Viel mehr wird hier davon ausgegangen, dass die curricular vereinbarten Wissensanteile das strukturelle Merkmal der Handlungsför-derlichkeit erfüllen müssen.

In Ausbildungscurricula unter dem Leitziel beruflicher Handlungskompetenz müssen somit sowohl die zugrunde gelegte Handlungsstruktur als auch die kognitiven Vor-aussetzungen kompetenten Handelns klar zum Ausdruck kommen.

5. Die Formulierung outcomeorientierter Lernziele