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4 Selbstverortungen und Verortungen von Netti Boleslav und Jenny Aloni

4.2 Sprachkämpfe – Boleslavs und Alonis Verhältnis zur Sprache

„Aus einem Land kann man auswandern, aus einer Sprache nicht.“162 Diese bereits zuvor genannte, griffige Aussage von Schalom Ben-Chorin ist zu einer häufig zitierten Zusammenfassung für das Dilemma emigrierter Schriftsteller_innen geworden, die von der Arbeit mit der Sprache leben und sich mit der Frage nach der Sprache ihrer Literatur konfrontiert sehen. Sie kratzt allerdings nur an der Spitze des Eisberges. Die einzelnen Sprachen sind Teil einer komplexen Tektonik, die die Fundamente für die Konstruktion von Identitäten darstellt. Die Bewegungen von Aloni und Boleslav innerhalb der Sprachtektonik sind grundlegend für die Interpretationen und Analysen ihrer Literatur.

Netti Boleslav und ihre Sprache(n)

Netti Boleslav wuchs in ihrer Kindheit und Jugend in Böhmen mit zwei Sprachen auf, mit ihren Eltern sprach sie Deutsch, im außerfamiliären Bereich, etwa in der Schule, Tschechisch.163 Mit ihrer Immigration nach Palästina trat für sie die hebräische Sprache hinzu. In einem Manuskript mit der Überschrift Ich spreche ungern über mich finden sich Reflexionen zu ihrer Sprachsituation:

„Ich hatte mit drei Sprachen zu kämpfen, der tschechischen, deutschen und der hebräischen, davon mir die liebste und unmittelbarste die deutsche Sprache blieb, in der mich mein Vater erzogen und gelehrt hatte.“164

Boleslav bezeichnet hier den Umgang mit Sprache als „Kampf“ – als Ringen um Sprache und Identität.

In einem Manuskript im Nachlass Boleslavs findet sich die Äußerung, dass Boleslav sich die deutsche Sprache nicht eigentlich gewählt habe, sondern sie sich ihr „zugewandt“ habe:

„Unter dutzenden Besprechungen, Kritiken […] schien mir der Richtigste von Michael Winkler:

„Geraubte Sprache“. Diese zwei Worte gaben mir zu Denken, nachzudenken. Und heute, 3 Jahre danach, habe ich mir in meinem Hause einen Beichtstuhl errichtet, in dem ich an einem heissen, schwülen [Tag, Hinzuf. J. P.], von feuchter Luft verklemmt auf meiner Terrasse sitze und niederschrieben zu versuche, wie mein Leben sich gestaltete, wie ich mich entwickelt habe, oder nicht entwickelt und wie ich auf der Suche, ganz unbewusst nach einer Sprache tastete und die deutsche Sprache sich eigentlich mir „zuwandte“. Ich habe sie mir, von meinen vier Sprachen, die ich beherrsche, nicht gewählt –“165

Um den Hintergrund dieser „Zuwendung“ der deutschen Sprache zu Boleslav zu verstehen und ihr Gefühl des Kampfes mit Sprache möchte ich auf die Analyse Deleuze/Guattaris in ihrer philosophischen Abhandlung Kafka. Für eine kleine Literatur zurückgreifen. Sie betrachten in darin die

162 Ben-Chorin, 1988, S. 6

163 In ihrem Entwurf zur Rede anlässlich des Kogge-Preises schreibt sie: „In meiner Kindheit dachte und fühlte ich in zwei Muttersprachen, der deutschen, der Sprache meine Eltern, der tschechischen, der Sprache meiner Mitschüler. Nun sitze ich seit Jahren, einsam, der einsam bei meinem Schreibtisch in Tel-Aviv, eine Gerettete der gepeinigsten, verschmähtesten Generationen, denke und lebe in drei Sprachen, schreibe aber in der deutschen Sprache.“ (Boleslav, o.J.b)

164 Boleslav, o.J.e

165 Boleslav, o.J.j

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Sprachsituation der deutschsprachigen Juden in Prag und beziehen sich dabei auf Henri Gobards Vier-Sprachen-Modell. Gobard schreibt Sprachen hierbei vier verschiedene Funktionen zu und trennt in:

„1. Die ‚vernakulare‘, bodenständige, territoriale oder Mutter-Sprache, d.h. die Sprache der ländlichen Gemeinschaft oder ländlichen Ursprungs; 2. Die ‚vehikulare‘, vermittelnde, städtische, Staats- oder gar Weltsprache, die Sprache der Gesellschaft, des Handels, der bürokratischen Transmission etc., d.h. die Sprache der primären Deterritorialisierung; 3. Die ‚referentielle‘

Maßstäbe setzende Sprache, d.h. die Sprache des Sinns und der Kultur, die eine kulturelle Reterritorialisierung betreibt; 4. Die ‚mythische‘ Sprache am Horizont der Kulturen, d.h. die Sprache der geistigen oder religiösen Reterritorialisierung.“166

Deleuze/Guattari ergänzen diese Einteilung um eine Einbettung in Raum-Zeit-Kategorien:

„Die ‚vernakulare‘ Sprache ist hier, die ‚vehikulare‘ überall, die ‚referentiale‘ dort und die

‚mythische‘ dahinter.“167

Anhand dieses Vier-Sprachen-Modells analysieren Deleuze/Guattari nun die Sprache der Prager Juden:

„Wie steht es mit den ‚vier Sprachen‘ bei den Prager Juden? Als vernakulare Sprache haben sie, die ja vom Lande stammen, das Tschechische; doch es wird allmählich vergessen oder verdrängt.

Das Jiddische wird oft verachtet oder gefürchtet; es macht Angst, wie Kafka sagt. Das Deutsche ist die vehikulare Sprache der Städte, die bürokratische Staats- und kommerzielle Handelssprache (während bereits das Englische dafür unverzichtbar zu werden beginnt). Wiederum das Deutsche, diesmal aber die Sprache Goethes, erfüllt eine kulturelle und referentiale Funktion (dazu sekundär das Französische). Schließlich das Hebräische als mythische Sprache, die mit dem Aufkommen des Zionismus, noch im Zustand des aktiven Traums, an Bedeutung gewinnt.“168

Diese Analyse lässt sich auch auf Boleslavs sprachtektonische Grundlage ihrer Kindheit und Jugend in Böhmen und Prag übertragen. Während das Tschechische hier als die vernakulare begriffen werden kann, stellte das Deutsche für sie sowohl die vehikulare, genauso aber ihre Kultursprache dar. Mit der Emigration und Immigration nach Palästina/Israel verschob sich nicht nur physisch und ideologisch die Autorin Boleslav – mit dem Transfer verschoben sich auch die jeweiligen Funktionen der Sprachen.

Das Tschechische, in Böhmen vernakulare Sprache für Boleslav – in den Worten Deleuze/Guattari die Sprache des „Hier“ – verliert mit der Immigration nach Palästina seinen Ort. So lässt sich auch erklären, dass für Boleslav das Tschechische nur noch in Momenten äußerster Privatheit und nur in den ersten Jahren ihrer Zeit in Palästina zum Zuge kommt; Teile des Tagebuchs sind beispielsweise auf Tschechisch verfasst.169 Das Deutsche, in Böhmen Kultursprache und vehikulare Sprache, übernahm

166 Deleuze & Guattari, 2012, S. 34

167 Ebd.

168 Ebd., S. 36

169 Vom 14. September 1939 bis zum 25. Oktober 1942 führte Boleslav ihr Tagebuch auf Tschechisch. Ihre späteren Tagebuchaufzeichnungen sind zum größten Teil auf Deutsch verfasst, einige Stellen sind auch dort noch auf Tschechisch geschrieben.

Sprachkämpfe – Boleslavs und Alonis Verhältnis zur Sprache

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zur Zeit der Immigration Boleslavs, wie weiter oben ausgeführt, in Palästina/Israel eine höchst ambivalente Funktion: Sie blieb Sprache der Kultur und wurde gleichzeitig zur verpönten Sprache der Täter. Das Hebräische wiederum, das für die Prager Juden die mythische Sprache des „Dahinter“

darstellte, wurde in Palästina/Israel für Boleslav zur vernakularen Sprache, wenngleich auf prekärer Basis in zweierlei Hinsicht: Zum einen musste sich das Hebräische seiner selbst noch vergewissern und wurde umso heftiger gegen das Deutsche und Jiddische verteidigt. Zum anderen wurde für Boleslav diese Sprache erst langsam zur Sprache des „Hier“, zur vernakularen Sprache. Boleslavs Beherrschung des Hebräischen reichte – vor allem zu Beginn ihres Lebens in Palästina – kaum aus, um in ihr virtuos Gedanken zu entwickeln und auszudrücken. Die Anfangszeit mit der Sprache des Hebräischen hat sich für sie wohl dargestellt wie in einem ihrer Gedichte beschrieben: „Ich bin nackt / wie die Banane ohne Schale, / und zeichne am Abend Buchstaben / in unverständlicher Sprache.“170

Gleichzeitig blieben und bleiben aufgrund des langen Gebrauchs des Hebräischen ausschließlich im religiösen Bereich im Hebräischen mythische Elemente enthalten.171 In Boleslavs Gedichten kommen die mythischen Elemente in den Jerusalem-Gedichten zum Tragen, in denen – als einziges hebräisches Wort in ihrer deutschsprachigen Lyrik überhaupt – das Wort „Jeruschalajim“ auf ein „Dahinter“

verweist.

Vor diesen sich verändernden Bedingungen lässt sich erklären, dass Boleslav das Deutsche als ihre Kultursprache der Kindheit und als zerrissen-ambivalente Kultursprache in Palästina/Israel, von Böhmen und Prag nach Palästina transferierte und zur Sprache ihrer Literatur machte. Wenn sie sagt, dass sie sich diese Sprache nicht gewählt hat, sondern sie sich ihr „zuwandte“, so ist dies vor diesem Hintergrund dieser sich verschiebenden Sprachfunktionen zu verstehen. Gleichzeitig schwebt über dieser Wahl ein permanenter Zweifel, der auf den Lesereisen durch Deutschland besonders präsent wurde. Auf einer dieser Reisen notierte sie:

„Was fängt eine israelische deutschschreibende Autorin an, wenn ihr Denken in eine Sackgasse gerät, die Vergangenheit mit den Mordtaten aus der Hitlerzeit auf´s neue in ihr entsteht?“172

Vor diesem Hintergrund ist Boleslavs Äußerung vom Kampf mit der Sprache zu verstehen – ein Kampf, dem sie in dem Dreieck Böhmen/Prag (Alte Heimat), Palästina/Israel (Neue Heimat) und Deutschland auf unterschiedliche Weisen begegnen musste. 1978 schrieb Boleslav resigniert an ihren Freund Klaus Kowatsch: „Ich finde mich nicht, werde mich in keiner Sprache mehr finden, damit habe ich mich abgefunden“173. Die Zerrissenheit in der Sprache begleitete sie bis zum Schluss.

170 Boleslav, 1965, S. 17

171 Vgl. Sáenz-Badillos, 1993, S. 267ff.

172 Boleslav, o.J.a

173 Boleslav, 25.9.1978

49 Jenny Aloni und ihre Sprache(n)

Überträgt man das Vier-Sprachen-Modell auf Alonis Sprachfrage, so zeigt sich, dass das Deutsche in Alonis Kindheit und Jugend in Paderborn und anderen Orten in Deutschland die ersten drei Funktionen des Modells erfüllt: die deutsche Sprache war für die noch in Deutschland lebende Rosenbaum vernikulare, vehikulare und referentielle Maßstäbe setzende Sprache in Einem. Das Hebräische übernahm von Deutschland aus – anders als für die Prager Juden und auch für Boleslav im böhmischen Kontext – für Aloni keine mythisierende Funktion, sondern war für Aloni, die sich bereits früh sowohl mit sozialistischen Ideen als auch mit einer möglichen Alija nach Erez Israel beschäftigte, eher die Sprache des politischen Zionismus.

Mit Alonis Immigration nach Palästina verschob sich auch für Aloni die Tektonik der Sprachen, allerdings konnte und musste Aloni lediglich zwischen zwei Sprachen – Hebräisch oder Deutsch – eine Entscheidung treffen. In den Tagebüchern finden sich bis ins Jahr 1942 häufige Reflexionen über die Sprachwahl. Sie changieren zwischen einem Bekenntnis zum Hebräischen und der Erkenntnis, dass ein Aufgeben der deutschen Sprache zugunsten des Hebräischen nicht die Lösung des Sprachenkonfliktes zu sein scheint. Kurz nach ihrer Ankunft notierte Aloni ihr Vorhaben, von nun an ihre Tagebuchaufzeichnungen ausschließlich in hebräischer Sprache vorzunehmen. Am 25. Dezember 1939 schrieb sie:

„Von jetzt an und weiterhin werde ich meine persönlichen Aufzeichnungen in Hebräisch machen auch wenn ich anfangs sicherlich nicht alles ausdrücken kann. Alles ist klein.“174

Dieses Vorhaben gab sie in dieser Absolutheit bald auf. Am 25. Mai 1939 schrieb sie von ihrer Angst vor dem Hebräischen:

„denn ich bin ja keiner von den ganz Grossen, denen die Materia gefügsam sein muss, weil ihr Geist ihr die Form einprägt, wie er sie will. Dich gibt es wohl keine Möglichkeit, der Qual zu entfliehen, welche der Niederschrift jeder Zeile voranfließt.“175

Wenige Tage später präzisierte sie die „Qual, in zwei Sprachen besser, zwischen zwei Sprachen leben zu müssen“, wobei sie dankbar den Hinweis einer Freundin aufnahm: „auch diese Spannung kann fruchtbar werden.“176 Die Tagebücher verfasste sie bis Mitte 1941 zu einem Drittel auf Hebräisch, danach kehrte sie zu größten Teilen ins Deutsche zurück.177 Auch einige Zeitungsartikel verfasste sie auf Hebräisch, ebenso unternahm sie Versuche, Lyrik auf Hebräisch zu verfassen. Am 18. April 1954 schrieb sie in ihr Tagebuch:

174 Aloni, 2005, S. 168

175 Ebd., S. 152

176 Ebd., S. 153

177 Vgl. Steinecke, 2005, S. 22

Sprachkämpfe – Boleslavs und Alonis Verhältnis zur Sprache

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„Nach sehr langer Zeit ein Gedicht, schwerfällig als ob ich schon ungewohnt der Sprache, aber doch ein Wiederbeginn, so hoffe ich wenigstens. Ausserdem ein Gedicht in Hebr. Ob es was taugt.

Wer weiss?“178

Mitte der 1950er Jahre zog Aloni ein vorläufiges Resümee:

„Eine Zeitlang habe ich versucht Hebräisch zu schreiben. Es gab mir Genugtuung dass man meine Artikel annahm. (Dawar Hapoelet) einen sogar ‚Poesie in Prosa‘ nannte. Ich glaube aber es ist besser, mich zu bemühen wirklich etwas in Deutsch zu leisten als zweitrangige (vielleicht noch nicht einmal zweitrangige) Poesie in Hebräisch zu schreiben.“179

Auch für Aloni war die Sprache eng an die Konstruktion ihrer Identität gebunden. Wenn allerdings Selbstvorwürfe und Zweifel auftauchten, dann deswegen, weil sie der hebräischen Sprache nicht mächtig genug zu sein schien, um in ihr in aller Ausdrucksstärke schreiben zu können, und Aloni damit nicht ihrem eigenen zionistischen Ideal entsprach. Die Tatsache, dass sie weiterhin in der Sprache sprach und schrieb, die auch Sprache der nationalsozialistischen Täter_innen war, schien für sie kaum eine Rolle zu spielen. Die deutsche Sprache war für sie selbstverständlicher als für Boleslav, war für sie fester Bestandteil ihrer Identität, hatte sie doch in ihrer Kindheit und Jugend umfassende Funktionen übernommen (vernikulare, vehikulare und Kultursprache). Hinzu kommt, dass Sprache für Aloni wohl eine pragmatischere Funktion einnahm als für Boleslav. Aloni schrieb der Sprache im Allgemeinen eher die Funktion eines Mediums, eines Werkzeugs zu, das der Erfüllung verschiedener Zwecke diene.180 Sprache trug in den Augen Alonis in erster Linie dazu bei, Gedanken präzise zu erfassen und auszudrücken und andererseits der Kennzeichnung eines Bekenntnisses zu ihren zionistischen Idealen und ihrer Zugehörigkeit zum Staat Israel.

178 Aloni, 2005, S. 378. Vgl. auch Tagebucheintragung vom 17.9.1954: „Eine Zeitlang habe ich versucht Hebräisch zu schreiben. Es gab mir Genugtuung dass man meine Artikel annahm. (Dawar Hapoelet) einen sogar ‚Poesie in Prosa‘ nannte.“178 (Aloni, 2005, S. 378)

179 Aloni, 2005, S. 378

180 Am 17.9.1954 schreibt Aloni: „Ich glaube aber es ist besser, mich zu bemühen wirklich etwas in Deutsch zu leisten als zweitrangige (vielleicht noch nicht einmal zweitrangige) Poesie in Hebräisch zu schreiben. Im letzten Monat habe ich wieder ernstlich zu schreiben begonnen, viel geschrieben möglicher Weise ist sogar etwas darunter, was taugt. Die Hauptsache aber ist wieder in Schwung zu kommen. Das Werkzeug, die Sprache bereit zu haben für den Augenblick der Gnade wenn er kommt. Jetzt merke ich erst so recht, wie eckig und ungelenk ich geworden bin.“ (Ebd.)

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5 Analyse der Ich-Konstruktionen in der Lyrik von Aloni und