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3 Soziopolitische Bedingungen deutschsprachiger Literatur in Palästina/Israel

3.1 Die Rolle der deutschen Sprache in Palästina/Israel

Die Frage nach der Rolle des Deutschen in Palästina/Israel reicht weit zurück. Sie ist historisch eingebettet in die Debatte darum, welche die Sprache des Jischuws in Palästina bzw. die Sprache des zu gründenden Staates sein soll.67 Im Jahr 1896 sprach sich Theodor Herzl in dem Gründungsmanifest des politischen Zionismus, Der Judenstaat, gegen das Hebräische und für die jeweiligen Muttersprachen der Immigrant_innen aus. Dort heißt es:

„Wir können doch nicht Hebräisch miteinander reden. Wer von uns weiß genug Hebräisch, um in dieser Sprache ein Bahnbillett zu verlangen? Das gibt es nicht. Dennoch ist die Sache sehr einfach.

Jeder behält seine Sprache, welche die liebe Heimat seiner Gedanken ist.“68

66 Aloni datierte mit Ausnahme einiger weniger all ihre Gedichte. Hierbei ist zu betonen, dass sie die erste Datierung auch bei nachträglicher Bearbeitung beibehielt.

67 Die Sprachenfrage spielte auch für die Juden in der Diaspora eine Rolle; für diese ging es um die Frage, ob eine Hebraisierung des Alltags und das Hebräische als Gebrauchssprache auch in den Ländern der Diaspora etabliert werden sollte. Diese Debatten hingen eng mit der Frage zusammen, ob Assimilation an die jeweilig hegemoniale nationale Kultur und Sprache oder Betonung des Jüdischen, Zionistischen oder Hebräischen der richtige Weg sei.

68 Herzl, 1920, S. 120f.

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Eliezer Ben Jehuda, der den Grundstein für die Revitalisierung des Hebräischen als Umgangs- und Alltagssprache legte, sah das anders. Im Jahr 1881 wanderte der politische Zionist im Rahmen der Ersten Alija nach Palästina ein, gründete 1890 den Vorläufer der Akademie für die Hebräische Sprache und veröffentlichte 1910 – sein Wörterbuch der alt- und neuhebräischen Sprache mit Übersetzungen der jeweiligen Wörter ins Deutsche und Französische.69 Die Frage, ob Hebräisch, Jiddisch oder eine andere Nationalsprache sich durchsetzen würde, war damit aber noch nicht entschieden. Die machtpolitischen Kämpfe um die Sprache hielten an.

„The need for communication between Jewish communities from East and West made Hebrew the natural choice; as we saw, the early immigrants of the First Aliyah spoke Hebrew with the Chelouche family in Jaffa. This was one of the most persuasive arguments in favor of Hebrew and against Yiddish as the national language, even though millions of Jews spoke Yiddish. During the Second Aliyah period, when this debate took place, it was still not clear whether Hebrew would overcome not only Yiddish but also the foreign language that had penetrated the Jewish cultural arena.”70

Das Jiddische und das Hebräische standen in den Jahren der ersten Alijot in heftiger Konkurrenz zueinander. Die Neueinwanderer kamen vor allem aus osteuropäischen Ländern und sprachen in erster Linie Jiddisch. Schriftsteller wie S. Y. Agnon, Josef Chaim Brenner, Moshe Smilansky setzten sich zum Ziel, das Hebräische als Alltagssprache zu etablieren, mussten aber feststellen, dass der größte Teil der jüdischen Bevölkerung in Palästina nicht genug Hebräisch verstand, um die Werke auf Hebräisch lesen zu können. Stattdessen erfreuten sich beispielsweise Theateraufführungen in jiddischer Sprache großer Popularität.

„Competition between Yiddish and Hebrew led to clashes between the Hebrew zealots and the Yiddish speakers. In their homes immigrants still spoke in their mother tongue; ordinary people spoke Yiddish, while the more educated spoke Russian or German, and the Alliance graduates spoke French. It was young people from Palestine for whom Hebrew was a spoken language.”71

Aber auch zwischen Befürwortern des Hebräischen und Deutschen spielten sich heftige Kämpfe ab, die mit dem Sprachenstreit 1912/13 um die Gründungspläne für das Technion in Haifa ihren Höhepunkt erreichten.72 Der Hilfsverein deutscher Juden, auf den die Gründung zurückging, setzte

69 Einen Überblick über die Geschichte der hebräischen Sprache liefert: Sáenz-Badillos, 1993. Zu Eliezer Ben Yehuda siehe S. 269ff.

70 Shapira, 2012, S. 57f.

71 Ebd., S. 60

72 Vgl. Brenner, 2008, S. 256. Wenn auch bis zur Fünften Alijah ab 1933 vergleichsweise wenige deutsche Juden das Land verließen, um nach Palästina zu immigrieren, gingen von den deutschsprachigen Juden wichtige Impulse für die zionistische Bewegung aus. Herzls Buch Der Judenstaat – wurde auf Deutsch verfasst und veröffentlicht. Im Jischuw herrschte bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten ein überwiegend positives Deutschlandbild vor, das laut der isralischen Historikerin Na’ama Sheffi „im Zeichen der Bewunderung“ stand,

„die die Juden schon seit der Zeit der Aufklärung der deutschen Kultur entgegenbrachten.“ (Sheffi, 2002, S. 28).

Der Sitz der Zionistischen Weltorganisation WZO, die auf dem Ersten Zionistenkongress 1897 in Basel gegründet wurde, befand sich bis 1920 in Deutschland. Bis zu diesem Jahr saßen der Organisation deutsche Juden bzw. in Deutschland lebende Juden vor.

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sich für Deutsch als Unterrichtssprache ein, in der Öffentlichkeit entbrannte heftiger Protest dagegen.

Die Protestierenden sprachen sich vor allem gegen einen, wie Shapira formuliert, „German linguistic colonialism“73 aus und dagegen, dass Ziele deutscher Politik im Jischuw umgesetzt werden sollten. Die Entscheidung wurde schließlich von amerikanischen Kuratoren des Technions gefällt, auf deren finanzielle Unterstützung der Hilfsverein angewiesen war: Nach 7 Jahren Übergangszeit sollte alleinig auf Hebräisch unterrichtet werden. „Das Konzept einer Revitalisierung des Hebräischen in Palästina“, so fasst der Literaturwissenschaftler Arndt Kremer die Bedeutung des Ausgangs des Sprachenstreits zusammen: „hatte an den palästinensischen Schulen seine erste, vielleicht wichtigste Bewährungsprobe bestanden.“ 74 Im Dezember 1922, zehn Jahre nach dem Ausbruch des Sprachenstreits, wurde Hebräisch als offizielle Sprache der Juden in Palästina durch den britischen Mandatsträger anerkannt.

Mit der Fünften Alija kamen zwischen 1932 und 1940 etwa 200.000 europäische Juden der Flucht vor den Nationalsozialisten ins Land, unter ihnen 65.000 aus dem deutschsprachigen Raum75 – die sogenannten Jeckes. Die in den Anfangsjahren mit pejorativer Konnotation versehene Bezeichnung Jeckes stammt vermutlich vom Begriff „Jacke“ und verweist auf die den Jeckes zugeschriebene Eigenart, auch zur heißesten Jahreszeit in Palästina/Israel stets ein Jacket zu tragen. Möglicherweise aber geht der Begriff auch auf den hebräischen Ausdruck „Jehudi kasheh havana“ zurück, was soviel bedeutet wie „Juden, die nichts vom Judentum verstehen“76. Die Definitionen des Begriffes Jecke gehen weit auseinander. Einige verstehen unter Jeckes ausschließlich die deutschen Juden, andere auch die Juden aus Böhmen und Mitteleuropa. Wieder andere Definitionen gehen von Habitusformen und Charakterzuschreibungen aus. Auch die Herausgeber des Sammelbandes Zweimal Heimat aus dem Jahr 2005 können und wollen auf die Frage nach den Grenzen der Gruppe der Jeckes keine endgültige Antwort geben, beziehen sich aber vor allem auf die letztgenannte Definition:

„Die Juden des „Altreichs“, die österreichischen Juden, die Juden Böhmens und die deutschsprachigen Juden Mitteleuropas – alle gehören in diesen flexiblen Rahmen des Begriffs Jeckes hinein. Letztendlich hat sich der Begriff Jecke schon vor längerem von der Bezeichnung für eine Landsmannschaft zur Beschreibung eines Charakterzugs gewandelt; es erübrigt sich eigentlich die altmodische Debatte über die geographischen Grenzen der Gemeinschaft der Jeckes.“77

Während Aloni unzweifelhaft als Jeckin bezeichnet werden kann, ist diese Bezeichnung für Boleslav nur begrenzt – als deutschsprachige, allerdings nicht aus Deutschland sondern aus Böhmen stammende Jüdin Israels – gültig. In dieser Arbeit wird in erster Linie von deutschsprachigen Schriftsteller_innen Israels und weniger von Jeckes die Rede sein, da die Betonung auf dem Aspekt der Sprache liegt. Eine eindeutige Beantwortung der Frage, ob sowohl Aloni als auch Boleslav als Jeckes

73 Shapira, 2012, S. 61

74 Kremer, 2007, S. 313

75 Nieraad, 2006, S. 266

76 Vgl. Rieder, 2008, S. 24

77 Zimmermann & Hotam, 2005a, S. 13

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bezeichnet werden können, ist demnach nicht vonnöten. Gleichwohl helfen die Untersuchungen zu den Jeckes für die Einordnung von Boleslav und Aloni im israelischen Diskurs. Beispielhaft sei hier der eben zitierte Sammelband Zweimal Heimat. Die Jeckes zwischen Mitteleuropa und Nahost78 genannt, der einen Einblick in zahlreiche Aspekte jeckischen Lebens, Kunst und Kultur gibt.

Die Rolle der Jeckes im Jischuw war äußerst zwiespältig. Die meisten von ihnen gehörten in ihrem jeweiligen Herkunftsland der gebildeten Mittelschicht an, so leisteten sie in Palästina aufgrund ihres hohen Bildungsstandes einen bedeutenden Beitrag zur kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung des Jischuw. Sie waren ausgebildete Juristen, Mediziner, im Kunst-und Kulturbereich oder im Handel tätig. Diese Berufe waren allerdings im aufzubauenden Palästina nicht die dringend benötigten und wurden bald mehr als im Überfluss ausgeübt.79 Hinzu kommt, dass den Jeckes ein Mangel an zionistischem Pioniergeist vorgeworfen wurde. Der zu der Zeit kursierende Spruch „Kommen Sie aus Deutschland oder aus Überzeugung?“ verdeutlicht die Vorbehalte gegen die aus Nazideutschland oder den von Nationalsozialisten besetzten Gebieten Geflohenen. Die machtpolitische Rolle von Sprache wird an der Rolle der Jeckes in Palästina beispielhaft deutlich:

„Die Ablehnung einer massiven Verwendung des Deutschen wurde in den dreißiger Jahren mit dem Einsetzen der großen Einwanderungswelle aus den deutschsprachigen Ländern Mitteleuropas virulent. Die Schwierigkeit, die die Neueinwanderer beim Erlernen der Landessprache zu haben schienen, veranlaßte verschiedene Institutionen, angefangen von der Histadrut (Gewerkschaftsbund) bis zum ‚Ausschuß für die Durchsetzung der hebräischen Sprache‘, striktere sprachliche Anforderungen bezüglich des Hebräischen aufzuerlegen und den sich widersetzenden gebildetern Einwanderern gegenüber unbeugsamer aufzutreten. Die Hitachdut Olej Germania (Organisation der Einwanderer aus Deutschland), ein mit dem Ziel errichtete Vereinigung, den Einwanderern aus deutschsprachigen Ländern zu helfen, in Palästina Fuß zu fassen, wurde als ‚separatistisch‘ angefeindet.“80

Die hebräische Presse schwankte in den 1930er Jahren „zwischen der Angst vor dem sich anbahnenden Unheil und anhaltender, uneingeschränkter Liebe zur deutschen Kultur“81. So ging etwa die Übersetzung von deutschen Werken und Theaterstücken in die hebräische Sprache auch während des Nationalsozialismus und danach unvermindert weiter. Werke von jüdischen Autoren deutscher Sprache, so schreibt Na’ama Sheffi, „wurden zum Gegenstand der damaligen übersetzerischen Tätigkeit im Jischuw. In der Tat waren die zwölf Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft die Blütezeit der deutsch-hebräischen Übersetzung“82, und auf den Bühnen wurden weiterhin aus dem Deutschen übersetzte Dramen aufgeführt. Zu Beginn der 1930er Jahre

„wirkte sich die Bedrohung der Juden durch den Nationalsozialismus auf die kulturelle Entwicklung Palästinas also eher fruchtbar aus. Es entstanden nicht nur neue, infrastrukturell bedeutende

78 Zimmermann & Hotam, 2005b

79 So machten zu der Zeit Witze wie dieser die Runde: In einem Bus wird einem Fahrgast übel. „Ich brauche einen Arzt!“, ruft er. Fast alle Fahrgäste springen auf, doch der Busfahrer ruft: „Halt, meine Passagiere behandle ich immer noch selbst!“

80 Sheffi, 2002, S. 42

81 Sheffi, 2002, S. 34

82 Sheffi, 2011, S. 23

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Organisationen, die den nun zur Verfügung stehenden Bildungshintergrund erforderten, es kam auch zur Gründung einer der bedeutendsten Kulturinstitutionen des Jischuw und des späteren Staates: eines Orchesters.“83

Je deutlicher aber im Jischuw die Folgen der nationalsozialistischen Machtübernahme, die Verfolgung und schließlich Vernichtung der europäischen Juden wurde, desto größer wurde auch die Ablehnung der deutschen Sprache. Deutsch wurde zur verpönten Sprache der Mörder und blieb es für mehr als drei Jahrzehnte. Die Auseinandersetzungen waren heftig. Der Aufführung deutschsprachiger Filme wurde gelegentlich mit physischer Gewalt entgegengetreten84. Auf die Druckerei der von Arnold Zweig und Wolfgang Yourgrau in deutscher Sprache herausgegebenen Zeitschrift Orient verübte die Haganah im Februar 1943 einen Bombenanschlag.85 Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges gingen einige signifikante Änderungen in der Einstellung zur deutschen Sprache, Politik und Kultur einher. Die Jahre zwischen Kriegsende und der Staatsgründung „waren – in Fortsetzung des Kampfes gegen die Bücherverbote der Nazis – […] Rekordjahre für die Übersetzung von deutschen Büchern, namentlich jüdischer Schriftsteller, ins Hebräische. 86 Gleichzeitig aber kamen Überlebende aus den Konzentrationslagern nach Palästina/Israel, was die ambivalente Rolle des Deutschen noch verstärkte.

Ihre gemeinsame Sprache war „ein durch die Verfolgungen bedingtes Gemisch von slawisch-jiddisch und Gestapo-deutsch“87. Die deutsche Sprache war damit ein – so absurd dies klingen mag – gemeinsames Medium, gleichzeitig aber „verschärfte sich mit dem Wissen von den Verbrechen und Grauen des NS-Regimes die Animosität gegen alles Deutsche.“88

Der Umgang mit der deutschen Sprache in Israel aber blieb von Ambivalenzen geprägt und verschob sich immer wieder an einschneidenden politischen Diskursen entlang. Anfang der 1950er Jahre untersagte die zuständige Zensurbehörde die Vorführung von Filmen in deutscher Sprache. In dieser Zeit, im Jahr 1951, wurde allerdings auch das Goethe Institut in Tel Aviv gegründet.89 Die Zeit um die Debatten um das Wiedergutmachungsabkommen können als „Zwischentief“90 in Hinblick auf das Verhältnis zur deutschen Sprache betrachtet werden. Gegen Anfang der 1960er Jahre weichte die

83 Sheffi, 2002, S. 35

84 Sheffi, 2011, S. 24

85 Witzthum, 2005, S. 289. Vgl. dazu auch: Heikaus, 2009 und Zabel, Disselnkötter & Wellinghoff, 2006, S. 30ff.

Die Zeitschrift Orient wurde 1942 gegründet. Am 7. April 1943 stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen bereits wieder ein. An dieser Stelle sei auf die – auch in den angegebenen Publikationen vorgenommenen – Differenzierungen verwiesen. Bei den Auseinandersetzungen um den Orient greifen verschiedene Diskurse ineinander. In verschiedenen Quellen werden die Gründe für die Ablehnung jeweils unterschiedlich bewertet. Die Ablehnung der Zeitschrift von zionistischer Seite basiert wohl in erster Linie auf der Zweig vorgeworfenen

„Beziehungslosigkeit“ zu zionistischen Idealen und fehlenden „Verwurzelung“ in Israel (Berg, 2008, S. 148) und radikalisiert sich mit der Verstärkung nationalistischer Tendenzen im Jischuw gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Viele deutschsprachige Juden wiederum, für die die Zeitschrift bestimmt, war, standen der kommunistischen Haltung der Zeitschrift skeptisch gegenüber (Vgl. Witzthum, 2005, S. 289). Die Debatte um die deutsche Sprache verknüpft sich mit diesen Diskursen: das Festhalten an der deutschen Sprache wird als

„exilistisch“ betrachtet und das hebräische Wort dafür, „galuti“, galt in Palästina/Israel noch lange als Schimpfwort. (Berg, 2008, S. 148)

86 Sheffi, 2002, S. 44

87 Pazi, 1988, S. 3

88 Ebd.

89 Vgl. Sheffi, 2011, S. 217

90 Rieder, 2008, S. 29

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strikte Ablehnung der deutschen Sprache etwas auf. Ein Brief der deutschsprachigen Schriftstellerin Israels, Mirjam Michaelis, an den in Deutschland lebenden Schriftsteller Karl Otten vom 10. Oktober 1960 gibt davon Zeugnis ab:

„Theater: Gleich zu Beginn der Saison drei Stücke, aus dem Deutschen übersetzt, was vor wenigen Jahren noch völlig unmöglich gewesen wäre. Sollte dies nun wirklich ein Zeichen der Änderung und des Willens zur Verständigung sein? Das Staatstheater Habimah bringt die Dreigroschenoper, später steht Maria Stuart auf dem Programm. Das Arbeitertheater Ohel bringt – o Wunder über Wunder! – gar das Stück des deutschen Nachkriegsdichters Witlinger: Kennst du die Milchstraße?

[sic!]“91

Auch der Sechstagekrieg hatte Auswirkungen auf das Verhältnis zwischen Deutschland und Israel – und damit auch auf die Einstellung, die gegenüber der deutschen Sprache eingenommen wurde. Dem Gefühl der Stärke und Überlegenheit, das die israelische Gesellschaft nach dem Sieg im Sechstagekrieg erfasste, schreibt Sheffi den Effekt zu, dass das Deutsche nicht mehr so stark als Bedrohung der nationalen Identität wahrgenommen wurde. Sheffi schreibt:

„Im Juni 1967, wenige Tage nach dem überwältigenden Sieg Israelis im Sechstagekrieg, dirigierte Leonhard Bernstein die Zweite Sinfonie Gustav Mahlers, die Auferstehungssinfonie. Begleitet vom Israel Philarmonic Orchestra sangen Chor und Solistinnen in deutscher Sprache. Niemand protestierte. Offensichtlich war es in diesem Moment, als sich die israelische Gesellschaft von der Vernichtungsgefahr und dem jahrhundertealten Gefühls [sic!] der Verfolgung befreit fühlte, wieder möglich, mit der deutschen Sprache und Kultur in Berührung zu kommen.“92

Debatten um die deutsche Sprache entfachten bei kulturellen oder politischen Anlässen in unterschiedlicher Intensität und entfachen bis heute, erkennbar wird dies beispielsweise in den Auseinandersetzungen um die im Jahr 2000 von Johannes Raus gehaltene erste Rede in deutscher Sprache vor der Knesset.93

Die Jeckes selber suchten unterschiedliche Umgangsformen mit ihrer deutschen Muttersprache. Vor allem für die Schriftsteller_innen unter ihnen wurde das Festhalten am Deutschen zu einer Zerreißprobe. Margarita Pazi, deutschsprachige israelische Literaturwissenschaftlerin und von 1993 bis 1997 Vorsitzende des Verbandes deutschsprachiger Schriftsteller Israels, analysiert die Situation für die deutschsprachigen Schriftsteller_innen Israels folgendermaßen:

„Die ablehnende Einstellung zur deutschen Sprache, der mit rationalen Überlegungen nicht beizukommen war und vor der auch die sprichwörtliche Hilfsbereitschaft allen Neu-Einwanderern

91 Michaelis & Otten, 10. 10. 1960

92 Sheffi, 2011, S. 217

93 Als weiteres Beispiel ist die Debatte um die Aufführung von Musikwerken in deutscher Sprache zu nennen.

1963 diskutierte die Leitung des Israel Philarmonic Orchestra diese Frage: „Einer Grundsatzentscheidung aus dem Weg gehend wurde beschlossen, dies sei zu gegebenem Anlass ad hoc zu prüfen.“ (Sheffi, 2011, S. 217)

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gegenüber haltmachte, wurde auch nicht selten auch von den Betroffenen, den deutschsprachigen Einwanderern, selbst geteilt.“94

Jenny Aloni beispielsweise schwankte in ihren Anfangsjahren in Palästina zwischen dem Versuch, ihr Tagebuch und auch Gedichte auf hebräisch zu verfassen und dem Verlangen, sich klar und differenziert ausdrücken zu können. Den allergrößten Teil ihres Werks schrieb sie in deutscher Sprache.95 Die deutsche Sprache aufzugeben war Aloni nicht möglich. Der 1935 nach Palästina immigrierte deutschsprachige Journalist und Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin prägte den in der Folge vielzitierten Satz: „Aus einem Land kann man auswandern, aus einer Sprache nicht.“96 Das Schreiben in deutscher Sprache in Palästina war mit erheblichen Problemen verbunden, mit fehlenden Austauschmöglichkeiten, mit eingeschränkten oder komplett fehlenden Publikationsmöglichkeiten, sowohl in Palästina/Israel als auch in den deutschsprachigen Ländern, und damit auch mit erheblichen ökonomischen Problemen. Die konsequente Hebraisierungspolitik im Jischuw und die Ablehnung des Deutschen sorgten dafür, dass sich eine – wie die Literaturwissenschaftlerin Bernadette Rieder es nennt – „kleine kulturelle Parallelgesellschaft“ entwickelte, „in der die Betroffenen ihrer Sprachnot zu entrinnen und ihr Kulturbedürfnis zu befriedigen suchten“97. Um Else Lasker-Schüler bildete sich in den 1930er Jahren in Jerusalem der Kraal. In den 1940er Jahren initiierte die Schwägerin Max Brods, Nadja Taussig, einen literarischen Salon in Tel Aviv98, und in Haifa organisierte Arnold Zweig mit seinem Kreis für fortschrittliche Kultur ein Forum für Diskussion und Austausch in deutscher Sprache.99 Auch verschiedene Zeitschriften und Zeitungen stellten ein Forum für Austausch und Information in deutscher Sprache zur Verfügung: 1935 wurden Blumenthals neueste Nachrichten gegründet, die später in Yediot Chadashot und 1974 in Israel Nachrichten umbenannt wurden. Das Mitteilungsblatt des Irgun Olej Merkaz Europa, gegründet 1933100, sorgte für Informationsfluss unter den deutschsprachigen Juden Palästinas/Israels, genauso wie die Zeitung Yediot Hajom. Für Jenny Aloni und Netti Boleslav waren zwei Vereine, die beide 1975 gegründet wurden, besonders entscheidend:

Der Verband deutschsprachiger Schriftsteller Israels und die Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Schriftsteller und Journalisten.

94 Pazi, 1981b, S. 8

95 Vgl. dazu auch Kapitel 4.2.

96 Ben-Chorin, 1988, S. 6

97 Rieder, 2008, S. 28

98 Vgl. dazu: Wallas, 2002, S. 445. Der Kreis hat sich lange gehalten. Jenny Aloni berichtet in ihrem Tagebuch noch am 26.11.76 von einem Treffen: „Gestern abend an dem literarischen Kreis von Nadja Taussig (Schwägerin von Max Brod) teilgenommen. Weissenberg (Haifa) sprach über seine ‚Moses‘ Triologie [sic!]. Anschliessend Gespräche, traf Alice Schwarz (die den Abend leitete), Frau Schwartz (Brücke), Netti Boleslav mit Freundin aus Deutschl., den Journalisten Küstermeier mit Frau. Sie zeigte Interesse für Arbeit in Beer J. Dr Pasi. Sie hat noch keine Antwort wegen ‚Die Reise‘ die ich ihr für eine Anthologie die in D. erscheinen soll, gab, Else Hoffe die frühere Sekretärin und Freundin von Max Brod u.a.“ (Aloni, 2005, S. 636)

99 Vgl. Rieder, 2008, S. 28, vgl. auch Pazi, 1981b, S. 9

100 Vgl. Pazi, 1981b, S. IX

Der Verband deutschsprachiger Schriftsteller Israels und die Arbeitsgemeinschaft deutschsprachiger Schriftsteller und Journalisten

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3.2 Der Verband deutschsprachiger Schriftsteller Israels und die