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5 Analyse der Ich-Konstruktionen in der Lyrik von Aloni und Boleslav

5.5 Ich-Artikulationen und die Alte Heimat

5.5.1 Alonis Lyrik über die Alte Heimat

Bereits im Jahr 1947 war Aloni für vier Monate nach Europa gereist, in erster Linie nach München, um jüdische displaced persons bei ihrer Alija zu unterstützen und ihnen bei der Eingewöhnung in ein neues

441 Heimweh, in: Aloni, 1995, S. 159

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Leben zu helfen. In Briefen, in kurzen Prosastücken442 und auch in einigen Gedichten443 thematisiert Aloni diese Zeit in Deutschland. Allerdings geht Aloni in diesen Gedichten nicht auf die Orte ihrer Kindheit und Jugend ein, sondern lediglich auf das München der Nachkriegszeit. Die Orte ihrer Kindheit und Jugend werden – abgesehen von dem Gedicht Heimweh – erst mit ihrem seit ihrer Emigration ersten Aufenthalt in Paderborn zum Thema in ihrer Lyrik. Anlass für diese Reise war ein Schlaganfall des einzigen Überlebenden ihrer Familie, Onkel Sally. Um den genesenden Onkel zu besuchen, fährt sie schließlich, nach längeren Überlegungen, im März 1955 nach Paderborn. In ihrem Tagebuch heißt es im Rückblick auf die Reise:

„Am 20.3.55 fuhr ich nach Europa. 9 Wochen war ich in Deutschland, hauptsächlich [in] Paderborn bei Onkel Sally, dann 5 Wochen in England fast nur in London. […] Vor einer Woche am 5.7.55 bin ich zu Esra und Ruth zurückgekommen, gern zurückgekommen.“444

Die Fahrt nach Deutschland und insbesondere der Aufenthalt in Paderborn stellten für Jenny Aloni eine Wiederbegegnung mit Orten dar, an denen sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hat und aus denen sie 1939 fliehen musste – oder glücklicherweise noch konnte. Es entstehen eine Reihe von Gedichten, die auf Paderborn Bezug nehmen und die Titel tragen wie Wiedersehen mit der Stadt der Kindheit, Alte Heimat, Stadt der Kindheit, Begegnung in der alten Heimat oder Abschied. Ein Gedicht unter dem Titel Das Haus trägt den Zusatz: „Wo mein Elternhaus stand, fließen jetzt die Wasser des verbreiterten Baches“ und verweist damit auf die enge Verbindung zwischen Alonis Biografie und den Paderborn-Gedichten. „Das Tagebuch dieser Zeit sind meine Briefe an Esra und die Gedichte, welche ich dort schrieb“,445 notierte Aloni nach der Reise in ihrem Tagebuch. Die 1955 während der Reise nach Paderborn geschriebenen Gedichte werden in diesem Kapitel in den Blick genommen.

Alte Heimat

Im Gedicht unter dem Titel Alte Heimat446, entstanden am 11. Mai 1955, scheint auf den ersten Blick ein Beispiel von idyllisierender Naturlyrik vorzuliegen. Die Alte Heimat, die nunmehr „lange nur in Traumgebilden lebte“, wird wieder Wirklichkeit – eine mit farbenfrohen Adjektiven versehene Wirklichkeit mit „satter Wiesen windbewegter Gräser[n]“ „inmitten Kronen gelben Löwenzahnes“.

Gerade für Aloni, die viel mit Naturmetaphern arbeitet, bieten sich die Wälder als Identifikationsobjekt des Ichs mit seiner Alten Heimat an. Mit der Rückkehr in die deutsche Landschaft der Alten Heimat nimmt Aloni auf den ersten Blick auch eine stilistische Rückkehr in die deutsche Tradition von Naturlyrik vor. Mit den idealisierenden Naturmetaphern und der Bezugnahme auf die deutsche Innerlichkeit stellt sich dieses Gedicht wie viele der Paderborngedichte auf den ersten Blick in die Tradition der Neuromantik. So wie der Rilkesche Panther müde Blicke durch die Gitter wirft, so ist das Ich hier mit seiner introspektiven Perspektive ähnlich elegisch in seinem eigenen Denken gefangen,

442 Aloni, 1994c, S. 28-39; Aloni, 1994a; Aloni, 1994d

443 Erster Eindruck, in: Aloni, 1995, S. 165; Herbstland ist meine Seele, in: Aloni, 1995, S. 165

444 Aloni, 2005. Tagebucheintrag vom 14.7.55, S. 380

445 Aloni, 2005, S. 380

446 Aloni, 1995, S. 43

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vor dessen Augen „müde schon von allzu viel Erinnern“ die Landschaft der Kindheit noch einmal vorüberzieht. Dieser Bezugnahme auf die Neuromantik und die deutsche Innerlichkeit sind aber mehrere krasse Brüche inhärent, die eine Bezugnahme zum Teil aufweichen, zum Teil desavouieren.

Wenn man davon ausgeht, dass den literarischen Jugendstil und die Neuromantik vor allem „die Bilder des reinen, unversehrten Lebens“ prägen, „die Winterträume des Utopisten: die Phantasmagorie eines erreichten neuen Zustands, nachdem die Flucht ihren utopischen und uchronischen Zielpunkt berührt hat“447 – und das alles mit dem Ziel verbunden, die Zeit stillstehen zu lassen – so wird ein ganz grundlegender Unterschied zur Naturlyrik Alonis sichtbar. Denn in dem Gedicht Alte Heimat steht die Zeit eben nicht still. Im Gegenteil, die Zeit stellt die Struktur für das Gedicht zur Verfügung. Eine Trennung zwischen dem Damals der „Kindertage“ und dem Heute, in dem „ganz wie einst“ die Erinnerungen an das Damals vor dem geistigen Auge des Ich auftauchen, verortet das Ich in einem Raum zweier Zeitabschnitte. Diese Trennung ist hierbei keineswegs eine, die den Bruch zwischen naiver und unschuldiger Kindheit und Jugend und dem jähen Erwachen im Erwachsenenalter markiert.448 Anders als bei den klassischen Vertreter_innen der Naturlyrik wie Hölderlin oder Mörike geht es in diesem Gedicht um anderes als um die mit Desillusionierung einhergehende Phase der Adoleszenz. Vergleichbar beispielsweise mit Erich Fried leitet auch Aloni die Veränderung nicht „aus der bloßen Ausbildung des Reflexionsvermögens und aus der fortschreitenden Bewusstwerdung des Individuums ab, das sich mehr und mehr von seiner Umwelt abgrenzt, sondern knüpft sie an die Konfrontation mit der mörderischen Zeitgeschichte.“449

In den letzten Versen des Gedichts fasst das Ich den Entschluss, am „Gerinnsel“ des Felsgehänges entlang „von dannen“ zu ziehen: „Denn mir geziemt es nicht, hier lang zu weilen/ wo es ein Gestern, doch kein Morgen gibt/ für solche, die wie ich einst heimisch waren.“ Spätestens mit dieser zeitlichen und historischen Einordnung, die das Ich für seine Umgebung und sich selber vornimmt, wird deutlich, dass diese Art Naturlyrik weder der deutschen Romantik mit seinen zeitenthobenen Zuständen noch dem „gegengeschichtlichen Modell“450 der deutschen Naturlyrik der Nachkriegszeit zuzuordnen ist. In den letzten Versen wird der Bruch unübersehbar, der die Illusion einer heilen, „natürlichen“ Welt außerhalb von Gesellschaft und Zeitgeschichte unmöglich macht: Den Konstruktionen der Alten und Neuen Heimat sind die Ausgrenzung und Vertreibung einer spezifischen Gruppe von Menschen bereits eingeschrieben. Das Ich ordnet sich einem Kollektiv zu, einer Gruppe „Solcher“ – Ausgegrenzter –, die wie das Ich an diesem Ort der Alten Heimat „einst heimisch waren“. Vergleicht man dieses Paradox der gleichzeitigen Einsamkeit und Verortung in einem Kollektiv (der Vernichteten und/oder immer noch Unerwünschten) mit einer Stellungnahme von Hilde Domin, so wird deutlich, dass sich dieses Paradox als Motiv durch die Rückkehrerlyrik der Exilierten und Vertriebenen zieht. Hilde Domin widmet ein Gedicht ihrer Rückkehr nach Köln, nachdem sie bis 1954 im Exil in der Dominikanischen

447 Alle Zitate: Jost, 1980, S.31

448 Vgl. Jost, 1980, S. 7. Dort schreibt Jost: „Der Gegensatz zwischen Kindheit und Erwachsenenperspektive, zwischen tröstlicher Harmonie mit dem natürlichen Sein und desillusionierender Entfremdung […] ist uns schon in der Naturlyrik um 1800 begegnet und gehört seither zu den Topoi der Gattung.“

449 Kittstein, 2009, S. 267f.

450 Korte, 2004, S. 36

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Republik gelebt hatte. In dem Essay In der Heimatstadt Köln nimmt sie eine Revision dieses Gedichts vor und schreibt:

„An ihnen [den neuen großen Glastüren in den Schalen der gestrigen Häuser Kölns, Hinzuf. J. P.]

trifft sich der Heimkehrer – der aufhört, ein einzelner Heimkehrer zu sein und der Heimkehrer wird, seine Einsamkeit hört hier auf viele Weisen auf – mit all denen, die er nie mehr trifft, die nie wieder heimkehren könnten, den im Exil, im Krieg, in den Lagern Umgekommenen. Und mit denen, die er liebt und von denen er ausgegangen ist, aus dieser seiner Vaterstadt: mit seinen Eltern. Sie, die Toten, treffen den Überlebenden höchst körperlich bei diesen ‚neuen‘ […]

Wassertüren ihrer alten Häuser. […] Und also kehren sie, die nie mehr heimkehren, mit ihm heim, in ihre Stadt.“451

Wider Erwarten ist die Begründung des Ichs in Alonis Gedicht für seinen Entschluss, die vermeintliche Naturidylle der alten Heimat wieder zu verlassen, nicht von einem unmittelbaren Impuls geprägt, nicht von einer emotionalen oder körperlichen Reaktion auf die Konfrontation mit der Alten Heimat.

Vielmehr wird ein ethisches Argument herangezogen: Es „geziemt“ sich nicht, „hier lang zu weilen“.

Die Abwendung von der Alten Heimat ist für das Ich in dem vorliegenden Gedicht eine moralische Frage, die Teilnahme an den idyllischen Naturgefühlen der Kindheit ethisch nicht mehr vertretbar. Die Abtrennung von der Heimat der Kindheit entspricht einem bewussten Herausschneiden, einem rationalen Vorsatz trotz der – wenn auch äußerst ambivalenten – emotional engen Bindung an bestimmte Facetten der Alten Heimat. In dem Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch? schildert Améry diese schmerzhafte Ambivalenz als „unmögliche[n], neurotische[n] Zustand“:

„Der mit Selbsthaß gekoppelte Heimathaß tat wehe, und der Schmerz steigerte sich aufs unerträglichste, wenn mitten in der angestrengten Arbeit der Selbstvernichtung dann und wann auch das traditionelle Heimweh aufwallte und Platz verlangte. Was zu hassen unser dringender Wunsch und unserer soziale Pflicht war, stand plötzlich vor uns und wollte ersehnt werden: ein ganz unmöglicher, neurotischer Zustand, gegen den kein psychoanalytisches Kraut gewachsen ist.“452

Ähnlich verhält es sich in dem Gedicht Alonis mit den Orten der Natur. Allerdings – so sehr die Orte der Natur an gesellschaftliche und politische Bedingungen gebunden sind – Natur wird hier nicht als bedrohlich gekennzeichnet, sondern wird eher zu einer Verbündeten, wenn „hohe Stämme“ von den

„Bergeshängen“ dem Ich einen „ernsten Gruß“ zunicken. So ist es ein Herausschneiden von sich selber aus einer Natur, die das Ich als idyllisch erlebt. Die Unmöglichkeit dieser Idylle bei gleichzeitig tatsächlich empfundener Idylle lassen ein Paradox aufscheinen, das für das Ich erst dann lösbar wird, als es sich bewusst entschließt, diese Orte wieder zu verlassen. So tritt zu dem ethischen Kriterium ein weiteres hinzu: die Notwendigkeit der Abkehr, um Ich sagen zu können. Dies wird deutlich, wenn man einen genaueren Blick auf die Artikulation des Ichs innerhalb von Zeit und Ort wirft: Zu Beginn des Gedichts ist es ein Du, das sich durch die Landschaft der Alten Heimat bewegt, das sich erinnert und dessen „Schnüre der Gedanken“ sich verstricken, das Grüße von Tannen der Alten Heimat empfängt.

451 Domin, 1992c, S. 42f.

452 Améry, 1966, S. 86

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Nahezu ruckartig, als würde es aus einem Traum erwachen, erscheint erst in den letzten Versen ein Ich und beschließt, auf dem Weg am Felsgehänge fortzuziehen. Das Ich ist das Ich des Präsens, das Du ist eine andere Identität des Ichs – eine, die mit der Alten Heimat kompatibel ist, das Ich des „Damals und Dort“, der Alten Heimat. So findet hier eine Anrede des aktuellen Ichs an ein Du statt – und diese Anrede des Ichs an ein Du kann als Ausdruck einer Spaltung betrachtet werden, die paradoxerweise eine Kohärenz der Identitätskonstruktion sicherstellen soll. Denn das Gedankensystem von „Dort und Damals“ und „Hier und Heute“ ist auf die vorliegende Situation nicht anwendbar. Das Eintauchen in die Alte Heimat macht aus der klar zu trennenden binären Konstruktion ein verwirrendes „Hier und Damals“ – das Ich erkennt sich in der Person, die sich in die Alte Heimat zurückversetzt, nicht wieder.

Erst in dem Moment, in dem das Ich den Entschluss fasst, „von dannen“ zu ziehen, kann das Ich sich auch als solches artikulieren.

Wiedersehen mit der Stadt der Kindheit

Anders als in Alte Heimat stellt sich die Rolle von Natur in dem Gedicht Wiedersehen mit der Stadt der Kindheit453 vom 19. Mai 1955 dar. Der Natur werden hier zwei Gesichter verliehen, das Land „fern im gelben Sand der Brotfruchtbäume“ wird mit Lebensfreude, Helligkeit und Sicherheit assoziiert, während die Natur der Kindheitsorte zu einer düsteren Drohkulisse der Nacht wird: „Der Wolken düstre Regenhorde“ haben den „Silbermond“ entführt, „baumlange Schemen“ „tuscheln“ über das Ich, das „so allein/ den Schatten zwischen die Laternen führt“.

Agens der Geschehnisse ist hierbei – trotz seiner Sprecherposition im Gedicht – nicht das Ich. Die Akteure des Gedichts sind vielmehr Figuren der Natur: „baumlange Schemen“, „düstre Regenhorde[n]“, aber auch die „Giebel schwarzer Dächer“. Diese Akteure „funkeln“ das Ich „mit bösen Fenstern an“ und „tuscheln, wer da so allein/ den Schatten zwischen die Laternen führt“. Das Ich, ohnmächtig und seiner Handlungsfähigkeit beraubt, bewegt sich kaum selber in dieser ihm feindlichen gesinnten und ihn ausgrenzenden Umgebung. Die passive Ich-Konstruktion lässt zunächst vermuten, dass ein ohnmächtig der Welt gegenüberstehendes Ich einem allgemeinem Fremdheitsgefühl Raum gibt und dass sich ein Ich aufgrund existenzialistisch anmutender Zweifel in der Welt nicht heimisch fühlt.454 Bezieht man aber die sehnsuchtsvolle Anrufung des idyllisch gezeichneten Landes der Brotfruchtbäume mit ein, so regen sich Zweifel an der Interpretation, denn es ist keineswegs Natur schlechthin, der die bedrohende Funktion zugeschrieben wird. Die Bedrohungsgefühle, die das Ich in Naturformeln ausdrückt, sind gebunden an diesen Ort, an dem dem Ich feindlich begegnet wird. An dem anderen Ort aber, in dem Land von „Schimmerzweige[n] […] von

453 Aloni, 1995, S. 41

454 Dieses Verhältnis zwischen Ich und den Menschen der Alten Heimat setzt Aloni auch in dem Prosastück Der Fackelzug in Szene: „An jenem Abend sprang die Brücke zwischen ihr und den anderen, mit denen sie ihr ganzes Leben lang zusammengelebt hatte. Und wenn es auch noch lange dauerte, bis der Sprung zum Bruche wurde, so wuchs er doch von Woche zu Woche. Er war immer vorhanden. Damals zuerst nahm die Straße mit all ihren Häusern und Menschen ein feindliches Antlitz an. Später schien es noch oftmals, als sei sie wieder die altvertraute Freundin der Kindheit, doch in Wirklichkeit war sie es niemals wieder.“ (Aloni, 1994b, S. 18)

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Oleander und Zitronen“, „flinke[n] Flossenfischen“ und „Meerschaumwellen“ unter „blaugewachstem Sternenkorbe“ wird Natur zum Idyll.

Die Natur im ersten Teil des Gedichts hält eine undurchschaubare, nächtliche Szenerie bereit.

Kontaktaufnahme, Kommunikation und Auseinandersetzung mit realen Menschen sind für das Ich nicht möglich; die eigentlich Menschen zugeordneten Rollen werden hier von Figuren der Natur und kleinstädtischer Straßen ausgeführt. Die Einsamkeit und Ohnmacht des Ich scheint dadurch unüberwindlich. Die Akteur_innen treten hierbei nicht klar zutage; wer hier handelt wird nicht sichtbar. Die tuschelnden „baumlangen Schemen“ sind in einen „Pelz der Nacht“ gehüllt und verschwimmen bis zur Unkenntlichkeit mit der Dunkelheit. Die Ausgrenzung findet statt, ohne dass die konkreten Akteure sichtbar würden.

Bezieht man Titel, Datierung und Entstehungsort – Paderborn 19. Mai 1955 – des Gedichts mit ein, so liegt eine Verortung des Gedichts innerhalb des gesellschaftlichen Klimas der 1950er Jahre in Westdeutschland auf der Hand. Die in diesem Gedicht erzeugte Atmosphäre des Tuschelns, Verschweigens und Wegsehens, das Unkenntlichmachen der Akteur_innen in einem „Pelz der Nacht“

kann mit dem politischen – aber auch literarischen – Klima der 1950er Jahre in Westdeutschland enggeführt werden.

Das Ich in diesem Gedicht schwankt hierbei zwischen einer Internalisierung der Ausgrenzungserfahrungen und dem Versuch, eine eigene Stimme jenseits dieser Erfahrungen zu finden: „Die Giebel schwarzer Dächer kichern / über meinen fremden Gang“. Das Ich wird zur

„Anderen“, zur Fremden gemacht, hat diese Zuschreibung aber auch bereits internalisiert, denn es bezeichnet seinen Gang selber schon als fremd. Amérys Paradoxon Über Zwang und Unmöglichkeit Jude zu sein455 wird in dieser Artikulation des Ich aufgegriffen. Dieser Identitätsprozess, die Inkorporation des Otheringprozesses im Antisemitismus, wird auch in einer Kurzgeschichte Alonis – Die braunen Pakete456 – behandelt. Das junge Mädchen Anna wird sich dort seiner jüdischen Positioniertheit im Laufe einer antisemitischen Hetzkampagne in einem deutschen Dorf bewusst.

Reale Ausgrenzung und Verfolgung durch die anderen Bewohner_innen der Kleinstadt gehen dort wie im Gedicht mit imaginierten und auf Gegenstände der Straßen projizierten Anfeindungen Hand in Hand:

„Doch wie konnte sie wissen, ob es stimmte, ob sie ihnen trauen durfte? Auch Anna hatte getrogen. Ich will die Mazzen nicht, hatte sie gesagt, es könnte Blut darin sein, Menschenblut. Wer lachte da? Niemand hatte gelacht. Die Straße war leer. Es war niemand mehr auf ihr, der hätte lachen können. Nur die grauen Pflastersteine. Und Steine lachten nicht. Auch die Laternenpfähle nicht, auch nicht die Zweige der Kastanien.“457

455 Améry, 2002

456 Aloni, 1997a, S. 11-36

457 Ebd., S. 33

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So finden sich sowohl Anna in der Kurzgeschichte Die braunen Pakete als auch das Ich in diesem Gedicht „so mutterseelenallein“ auf den Straßen einer deutschen Kleinstadt wieder. Die Protagonistin Anna wird hierbei in eine Zeit kurz vor dem Nationalsozialismus eingebettet458, das Ich des Gedichts zehn Jahre nach seinem Ende. Die Struktur der Ausgrenzung aber ist für das Ich des Gedichts auch nach dem Ende des Nationalsozialismus geblieben.

In dem Gedicht Alte Heimat kann das Ich erst mit dem Entschluss, „von dannen zu ziehn“ seine Ich-Identität wieder ausbilden. Auch in diesem Gedicht ist das Ich erst mit dem Wechsel in das Setting der

„Brotfruchtbäume“ in der Lage, autonom Ich zu sagen. Mit dem Mond als Rettungsanker versucht sich das Ich in das Land und die Landschaft der „Hügelschlange[n]“ und „Flossenfische“ zu träumen:

„Gäben sie nur jetzt den Mondkahn frei,/ fände ich wohl einen Gruß in ihm/ und wüßte, daß er an mich denkt/ fern im gelben Sand der Brotfruchtbäume.“ Bemerkenswerterweise greift Aloni hier auf den Mond als sicherheitsspendende Projektionsfläche zurück. In den meisten von Alonis Gedichten wird mit der Mondmetapher der Romantik als stillem und treuem Begleiter gebrochen: Der Mond

„wackelt“459, „verkommt“460, seine „Scherben“ sind „gelb in schwarzen Himmel“461 gestreut, er ist „aus der Nacht gefallen“ und „baumelt im Geäst der Eiche“462 oder zieht „auch an diesem Tag der Sprengstoffraketen […] still und hell von Osten nach Westen“463. Nur in einigen frühen, 1939 noch in Schniebinchen geschriebenen Gedichten, erscheint der Mond als weniger dekonstruiertes Gestirn,

„umspielt“ von „dunkelblaue[r] Nacht“464 oder „der Wolkenwand entglitten“465.

Peter Rühmkorf nannte „Mondphasen der Literatur“ auch „Phasenverschiebungen des gesellschaftlichen Bewußtseins“466. Die Mondmetapher tauchte im 18. Jahrhundert auf, im Jahrhundert der Empfindsamkeit und des Subjektivismus, und konnte seitdem häufig je nach Art und Weise ihrer Verwendung als Marker für gesellschaftliche Umbruchphasen verwendet werden. Umso erstaunlicher scheint es, dass Aloni hier in diesem Gedicht auf den Mond als „Chiffre für magische Kontaktaufnahme und intime Zwiesprache“467 zurückgreift und so der Sehnsucht des Ichs nach dem Naturidyll im Land der „Flossenfische“ Ausdruck verleiht; erstaunlich deshalb, da eine weltabgewandte Flucht in die Natur nicht zuletzt in der Naturlyrik der sogenannten Lehmannschule

458 Steinecke dazu: „Die Erzählung geht auf eine Begebenheit im März 1932 in Paderborn zurück: Ein jüdischer Viehhändler hatte eine bei seinem Vater beschäftigte junge Frau geschwängert; bei einem Abtreibungsversuch war sie gestorben. In Panik zerschnitt er die Leiche in Teile und verpackte diese. Die NSDAP benutzte den Fall zur Diffamierung des Judentums. Das Nazi-Blatt Der Stürmer erschien im April mit der dicken Balkenüberschrift auf der Titelseite: ‚Der Mädchenmord von Paderborn. Eine Deutsche von Juden geschändet, geschlachtet und zerstückelt.’ Da das sensationelle Ereignis in der Woche vor Ostern geschehen war, traten in der Bevölkerung Gerüchte auf, Martha Kasper sei einem Ritualmord zum Opfer gefallen.“ (Ebd, S. 134).

459 Warum nicht dich, in: Aloni, 1995, S. 50

460 In den schmalen Stunden der Nacht, in: Aloni, 1995, S. 68

461 Wolken zerbrachen den Vollmond, in: Aloni, 1995, S. 99

462 Der Mond ist aus der Nacht gefallen, in: Aloni, 1995, S. 105

463 Auch an diesem Tag, in: Aloni, 1995, S. 219

464 Wenn dunkelblaue Nacht den Mond umspielt , in: Aloni, 1995, S. 125

465 Nacht, in: Aloni, 1995, S. 128

466 Rühmkorf, 1962, S. 97

467 Ebd., S. 94

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vorzufinden ist, die in den 1950er Jahren in Westdeutschland die Lyrikszene dominiert und deren Autor_innen aus einer Position heraus schreiben, die konträrer zu Aloni kaum sein kann. Die

vorzufinden ist, die in den 1950er Jahren in Westdeutschland die Lyrikszene dominiert und deren Autor_innen aus einer Position heraus schreiben, die konträrer zu Aloni kaum sein kann. Die