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5 Analyse der Ich-Konstruktionen in der Lyrik von Aloni und Boleslav

5.4 Ich-Artikulationen und die Kriege

5.4.2 Boleslavs Lyrik über die Kriege

In den Tagebüchern von Boleslav werden die Kriege vor allem in den Momenten präsent, in denen ihre Söhne zum Militär bzw. zum Krieg eingezogen werden, insbesondere während des Sechstagekriegs, aber auch während des Yom-Kippur-Kriegs. Am 5. Oktober 1973 notierte sie:

„Kriegsausbruch. Efi wird am selber Nachmittag nicht einberufen, geht aber am Sonntag den 6.10.

fort, sucht eine Gruppe, befindet sich in Eilat.“416 Der sieben Jahre zuvor geführte Sechstagekrieg war nicht der erste Krieg, den die 1939 eingewanderte Boleslav in Palästina/Israel erlebte. Und doch nahm sie diesen Krieg auf spezifische Art und Weise als ihren ersten wahr: Die Sorge um ihre Söhne ließ sie den Krieg auf andere Weise erleben als die bisherigen. Am 14. Juni 1967 schrieb sie in ihr Tagebuch:

„Ich war mir nun erst heute sicher, dass meine Söhne in diesem Krieg verschont blieben. Was für ein Glück, ich habe neue Kinder. Ich danke einer höheren Macht dafür - Efi haben wir heute gesehen, da wir ihn am Flughafen, wo er stationiert war besuchten. Er erzählte viel, unter anderem, dass die Gruppe von 120 Mann, in der er sich befindet, einige Tage vor dem Kriegsausbruch zu denen gehörten, die beim Kampf sein sollten. Die Jungens sahen den Tod vor sich, hatten ungeheure Angst und wehrten sich der Kampftruppe anzugehören. Doch blieb nichts anderes übrig und sie lagen einen Tag und Nacht, vollbewaffnet in den Gräben an der Grenze.

Einen Tag vor dem Krieg, wurden sie an die Flughäfen gebracht, zu den Radar-Kasernen [?], so dass auch Efi von den Kämpfen verschont blieb. Mein Kind, ich kann mich noch immer nicht fassen, es war nicht der erste Krieg, den ich erlebte und doch was er für mich der erste – meine Kinder waren in Gefahr und nur das war meine Sorge. Dani ist noch in Sinai, ich kann es nicht erwarten ihn zu sehen. Meine stillen Gebete wurden erhört, mein Glaube an das Leben. Und bei all dem bin ich in tiefer Trauer um die Menschen, die ihr Leben in diesen fürchterlichen Schlachten verloren haben – schwer für mich in den Alltag hineinzukommen.“417

415 Zu den Begriffen von De- und Reterritorialisierung, deren Erläuterung jede Fußnote sprengen muss, vgl. auch:

Deleuze & Guattari, 2002. In dieser Arbeit stütze ich mich vor allem auf Deleuze/Guattaris Verwendung der Begriffe in: Deleuze & Guattari, 2012.

416 Boleslav, o.J.i, Eintrag vom 5. Oktober 1973

417 Boleslav, o.J.i, Eintrag vom 14. Juni 1967

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Der Sechstagekrieg, in dem sie um ihre Söhne bangt, wird damit auch der erste Krieg, den sie lyrisch verarbeitet. Netti Boleslav veröffentlichte lediglich zwei Gedichte, die explizit auf die Kriege Israels Bezug nehmen. Es sind dies die Gedichte Nachruf für den Soldaten im Sechstagekrieg sowie Für meinen Sohn Efraim. Im Sinai 1969. Sie beziehen sich in erster Linie auf den Sechstagekrieg bzw. die unmittelbare Besatzungszeit im Sinai im Nachgang des Krieges. Beide sind in dem 1972 erschienenen Gedichtband Ein Zeichen nach uns im Sand veröffentlicht worden und müssen demnach zwischen 1967 bzw. 1969 und 1972 entstanden sein.

Nachruf für den Soldaten im Sechstagekrieg

Zwar können biografische Erlebnisse Boleslavs als Auslöser für die lyrische Bearbeitung des Sechstagekrieges betrachtet werden. Während in dem Gedicht Für Efraim – Im Sinai 1969 ein konkreter Bezug zwischen Gedicht und biografisch-politischen Geschehnissen hergestellt wird, lässt Boleslav mit dem Titel und Inhalt des vorliegenden Gedichtes konkrete biografische Bezüge außen vor.

Vielmehr bildet der Titel des Gedichts Nachruf für den Soldaten im Sechstagekrieg418 ein Paradigma ab. Die im Gedicht im Plural dargestellten Soldaten werden zu dem israelischen Soldaten des Sechstagekrieges schlechthin.

Im ersten Teil des Gedichts werden in der zweiten Person Plural die gefallenen Soldaten adressiert:

„In jeder Wolke / ein blasses Gesicht / umarmt ihr euch / wie Blumen / in Kränze geflochten / Augen / wie blaues Licht / ein Totenlicht.“ Die hier eingenommene Ansprechhaltung des Ich ändert sich in den letzten drei Versen. Das Ich richtet sein Wort nun nicht mehr an die gefallenen Soldaten, sondern spricht in der dritten Person Plural von „ihnen“, den gefallenen Soldaten. Die Funktion des Sprechens verschiebt sich von einer Ansprache an die Soldaten hin zu einer Grabrede über die Soldaten.

Betrachtet man die Charakterisierungen der Soldaten genauer – sie umarmen sich „in jeder Wolke“

„wie Blumen / in Kränze geflochten“ –, scheinen die Adressaten der Grabrede die als Kollektiv imaginierte israelische Gesellschaft darzustellen. Die Trauer wird zu einem festen Zusammenhalt und einer nahezu unauflösbaren Verflechtung transzendiert.

Aufschlussreich ist hierbei die Wahl des Tempus. Die Szene der Gesichter in den Wolken ist im Präsens verfasst. Die Umarmung in ihrer Symbolik des aus Blumen bestehenden Kranzes findet also im Hier und Jetzt statt. Erst in den letzten drei Versen findet ein Wechsel ins Präteritum statt. Durch die Wahl des Präsens für die Zeit nach dem Tod wird deutlich: die Soldaten bleiben lebendig, zumindest in der Imagination des Ichs. Und ihre Augen „wie blaues Licht / ein Totenlicht“ werden zu einem Zeichen, das Tod signalisiert, aber auch mit Licht verbunden ist und damit ein Zeichen an die Trauergemeinschaft sendet. Die Soldaten werden hierbei nicht als starke und heroische Kämpfer dargestellt, vielmehr sind ihre Gesichter von Blässe geprägt, sie umarmen sich „wie Blumen“ statt dass sie mit Waffen dargestellt werden. Nicht die harte Schale der Sabres wird hier zitiert, sondern der den Sabres auf der Kehrseite des Bildes zugesprochene gefühlvolle und sensible Kern. Gleichzeitig findet durch den dargestellten „verflochtenen“ Zusammenhalt auch die Stärke und Unbezwingbarkeit der

418 Boleslav, 1972, S. 9

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Soldaten ihren Ausdruck. So drückt das Gedicht Zusammenhalt und Stärke eines Kollektivs im gleichen Moment aus wie Schwäche und Trauer desselben.

Diese Darstellung kongruiert auch mit einem Teil des Bildes, das in der israelischen Gesellschaft zur Zeit des Sechstagekrieges rund um die sozialistische Arbeiterbewegung vorherrschte und – in Abgrenzung zu den Heldenbüchern des Sechstagekrieges – in dem bereits erwähnten Buch The Seventh Day stark gemacht wurde: Die Psyche des israelischen Soldaten schlechthin wird darin konstruiert als eine, die von Angst vor einer erneuten Vernichtung geprägt ist und dadurch einen unbezwingbaren Zusammenhalt produziert. Andererseits wird auch immer wieder die Unwilligkeit zum Kämpfen betont und der eigentlich pazifistische Charakter der Kämpfenden.419 Auch die letzten drei Verse betonen dieses Bild des empfindsamen Soldaten, der die Erlebnisse tagebuchartig oder in Liedern schriftlich „auf […] Rucksäcke[n]“ verarbeitet.

Die Rucksäcke können hier als Versinnbildlichung der Wanderschaft und Migration betrachtet werden, die durch Beschriftung zu einem materialisierten Zentrum werden. Das alte Bild der diasporischen Wanderschaft wird in diesem Gedicht zu einer Wanderschaft aufgrund kriegerischer Auseinandersetzungen in und um den eigenen Staat. Das Gedicht kann in begrenzter Hinsicht so auch als eine 1967er-Version von Altermans Gedicht The Silver Platter betrachtet werden. Das Gedicht The Silver Platter – hebr. Magash HaKesef – des Schriftstellers Nathan Alterman gilt als das israelische Staatsgründungsgedicht schlechthin. Wenige Wochen nach dem Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges, am 26. Dezember 1947, erschien es in der Tageszeitung Dawar. Alterman zitiert mit dem Gedicht einen Ausspruch des ersten israelischen Staatspräsidenten Chaim Weizman:

„A state is not handed to a people on a silver platter“. Im Gedicht treten ein Junge und ein Mädchen vor eine Nation, – „sie tragen noch das Gewand der Schlacht“ – und werden vom „Volk“420 gefragt, wer sie seien:

„Da fragt die Nation in Tränen und Aufregung: Wer seid ihr? Und die beiden antworten sanft: Wir sind das Silbertablett, auf dem euch der Staat der Juden dargeboten wird. Sie sagten es und fielen zu ihren Füßen nieder, in Schatten gehüllt.“421

Der Schlussvers des Gedichts lautet: „Und der Rest wird in den Annalen Israels erzählt werden“422 und macht das Gedicht als Prophezeiung über die Staatsgründung kenntlich. Zentrale Topoi, die in The Silver Platter vorzufinden sind – die „Verschmelzung von Tod und Nation, die in dieser Zeit unangefochtenes Merkmal der zionistischen Kultur“423 war, die Freude und Erwartung über das zu kommende „Wunder“ der Staatsgründung, die Erinnerung an das Leid und an die vergangenen Kämpfe, die mit den „rauchenden Grenzen“424 noch vor Augen stehen, die Hoffnung, die der Jugend

419 Vgl. Shapira et al., 1970

420 Alle Zitate: Zit. nach Friedländer, 2007, S. 179

421 Zit. nach ebd.

422 Zit. nach ebd.

423 Eshel, 2012, S. 129

424 Alle Zitate: Zit. nach Friedländer, 2007, S. 179

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entgegengebracht wird und die Opfer, die sie zu bringen haben – sind auch in Boleslavs Gedicht vorzufinden. So wie bei Alterman die beiden gefallenen Soldaten mit ihrem Tod für die neu konstituierte israelische Gesellschaft zahlen, fallen auch in diesem Gedicht der Tod und die Verteidigung des Staates Israel zusammen: „Augen / wie blaues Licht / ein Totenlicht.“ – das blaue Licht kann hier auch als Anspielung auf die blau-weißen Farben der Flagge des israelischen Staates verstanden werden. Eine weitere Parallele zwischen den beiden Gedichten besteht darin, dass die gefallenen Soldaten im kollektiven Bewusstsein weiter existieren. Der Soziologe und Anthropologe Danny Kaplan betrachtet in Anschluss an Hannan Hever das Bild der „lebenden Toten“ als literarisch-kulturelle Lösung, um ein Paradox der israelischen Gesellschaft aufzulösen – das Paradox einer Gesellschaft, die einerseits das Leben ihrer Kinder opfert und andererseits auf dem kollektiven Wert des Überlebens und Weiterlebens basiert:

„Since the death of the fallen soldiers can not be viewed as complete and total death, it is masked by diverse ritualized symbolism. One recurring metaphor in war poetry is the replacement of the dead with red flowers. Another central theme for masking the reality of the heroes´ death especially after the War of Independence, is to connect the dead to the living by the artistic image of the ‘living dead’ noted earlier in Alterman’s poetry. […] The image of the living dead is a literary-cultural solution, attempting to bridge the acute paradox of a society that sacrifices the lives of its sons in the name of collective values, even as the preservation of life and survival are lauded as one of its central values.”425

Die Sublimierung von gefallenen Soldaten zu Symbolen Israels als „living dead“ 426, als lebende Tote zieht sich durch die Kriegsgedichte Boleslavs. In einem weiteren Gedicht zum Sechstagekrieg unter dem Titel Gebet für die Gefallenen werden die Gefallenen zu „vom Feuer / getroffene[n] / Heilige[n]

Israels“427. Auch in dem Gedicht Nachruf für die Opfer des sechstägigen Krieges428 leben die Gefallenen, gerade den „Kinderschuhen“ entwachsen, als „Söhne Israels“ in den Erinnerungen des Ich und in der kollektiven Trauer weiter – „euer Tod / weckt meine Nächte / alle Strassen / atmen Trauer“ – und retten schließlich „die große Sonne“. Das Ich übernimmt hierbei jeweils eine Mittlerfunktion. Es stellt zwischen den Soldaten und der israelischen Gesellschaft – der Trauergemeinde – eine Verbindung her und richtet seine Aussagen in beide Richtungen. In dieser Paradigmatizität, in der eben nicht über die eigenen Söhne gesprochen wird, sondern einige der anonym bleibenden gefallenen Soldaten zu den gefallenen israelischen Soldaten schlechthin (hier: des Sechstagekriegs) werden, weist das Gedicht über die Schilderung biografischer Erfahrungen weit hinaus. So wie Naomi Shemers Jerushalajim shel sahav zur israelischen Hymne wurde, die als Ventil und Katalysator für die Euphorie über die herbeigesehnte Altstadt Jerusalems diente, hätte dieses Gedicht mit seinem paradigmatischen Gestus als offizielles Lied für den 1963 etablierten Yom HaZikaron – den Gedenktag für die gefallenen

425 Kaplan, 2006, S. 132

426 Ebd.

427 Boleslav, 1969a, S. 232

428 Boleslav, 1969b, S. 231

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israelischen Soldaten – fungieren können.429 Mit diesem Charakter übernimmt dieses Gedicht eine von Alonis Gedichten grundlegend sich unterscheidende Funktion. Nicht geht es hier wie bei Aloni um die Verhandlung moralischer und ethischer Fragen, sondern vielmehr um eine Transzendierung von gefallenen Soldaten zu den gefallenen Soldaten als Repräsentanten des Staates Israel schlechthin. Das Ich übernimmt die Rolle einer Mittlerin und einer Trauerrednerin und geht gleichzeitig in einem trauernden Kollektiv auf. Boleslavs Szenerie bewegt sich – wie beispielsweise auch in einigen Jerusalemgedichten – in einem Raum des Transzendentalen und Symbolhaften, in der Gefühle kollektiver Art evoziert werden können und in der die Erinnerung an das Kollektive nicht versiegen darf.

Für meinen Sohn Efraim – Im Sinai 1969

Im Gedicht Für meinen Sohn Efraim – Im Sinai 1969 wird ein persönlich-biografischer Bezug eindeutig sichtbar. Der Titel des Gedichts verweist auf den Sohn Boleslavs, Efraim, der 1969 während des Abnutzungskrieges im Sinai stationiert war. Die Rolle, die Efraim für Boleslav spielt, wird auch in einem Tagebucheintrag aus der Zeit des Yom-Kippur-Krieges sichtbar. Am 13. Oktober 1973 schrieb sie in ihr Tagebuch:

„Efi hat heute nicht angerufen, das macht mich unruhig, ob er nicht Eilat verlassen musste, nach Sinai verschickt wurde? Auch wenn, ich bin sicher, dass er diesen Krieg übersteht, er trägt den Namen meines Vaters, Efraim und alle nennen ihn auch so.“430

Der Name Efraim steht aber nicht nur für Sohn und Vater Boleslavs, sondern auch für einen der Zwölf Stämme Israels, und in der Tat übernimmt die Figur im Gedicht eine Stellvertreterfunktion für den imaginierten israelischen Soldaten schlechthin. Die Paradigmatizität markiert auch einen entscheidenden Unterschied zu der Ausrichtung der Gedichte von Aloni. Während die Ichs bei Aloni immer wieder versuchen, sich jenseits kollektiver Narrative zu verorten, sind Du und Ich in diesem Gedicht Boleslavs eingebettet in ein hegemoniales kollektives Narrativ: „Sinaimoses / unter dünner Glasplatte / samtig rot dein Gesicht / Zehn Gebote / Geflüster Gottes / im Hintergrund / schwarze Punkte / das auserwählte Volk“.

429 Der Yom HaZikaron, der Gedenktag für die gefallenen Soldaten, ist einer von vier Feiertagen, die in der Folge der Gründung des Staates Israel etabliert wurden. Er findet jährlich am 4. des Monats Ijar statt, jeweils am Tag vor dem Yom HaAtzmaut, dem Unabhängigkeitstag Israels. Übers Land verteilt finden Gedenkveranstaltungen statt, die wichtigste auf dem Herzlberg, auf dem sich auch das nationale Militärzentrum sowie die Gräber der wichtigsten Staatsgründer inklusive Ben Gurion befinden. Die Zeremonien werden von zionistischen Lieder und Gedichten begleitet, zu den wichtigsten gehören die Gedichte Magash HaKesef (Das Silbertablett) von Nathan Alterman sowie das Lied HaReut (Die Freundschaft). In diesem Lied werden die gefallenen „Freunde“ betrauert, und es wird gemahnt, dass die Erinnerung an den Verlust nicht abreißen dürfe. So lautet die vierte Strophe: „In the name of that friendship we know, / In its name we´ll go on, every forward, / For those friends, when they fell on their swords, / left us this precious gift to recall them.“ Es folgt der Chorus: “They are gone from our midst, / All their laughter, their youth and their splendor / But we know that a friendship like that, / We are bound all our lives to remember, / For a love that in battle is forged, / Will endure while we live, fierce and tender.”

430 Boleslav, o.J.i, Eintrag vom 13. Oktober 1973

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Mit diesen Versen beginnt das Gedicht und bezieht sich damit auf das Zweite Buch Mose, in dem der Exodus der Israeliten unter der Führung Moses beschrieben wird und in dem Moses am Berg Sinai die Zehn Gebote offenbart werden. Zentrales Thema des Zweiten Buches Mose ist der Bund Gottes mit seinem Volk Israel. Auch dem Anspruch auf das Land Israel wird in dem Zweiten Buch Mose eine Grundlage bereitet. Auf diesen religiös und historisch begründeten Anspruch auf das Land wird von verschiedenen jüdischen Positionen aus heute unterschiedlich Bezug genommen – es bleibt festzuhalten, dass an Pessach und mit dem Lesen der Haggada aber jedes Jahr die Erinnerung an den Auszug aus Ägypten revitalisiert und ins Bewusstsein gerufen wird. Der Auszug aus Ägypten und die Erzählung von der Gründung des Volkes Israel werden bei Boleslav zum Ausgangspunkt, von dem aus ein Ich Bezüge zwischen verschiedenen Zeiten, Orten und Instanzen herstellt.

Diese Bezüge werden in dem Gedicht in einer Halskette versinnbildlicht (eine Halskette für Efraim erscheint auch in einem Tagebucheintrag431 – mit der Halskette geht das Ich den Spuren seiner Geschichte nach bzw. konstruiert an der Halskette entlang seine eigene Geschichte, die zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunftserwartung pendelt. Es ist eine Halskette, die das Ich als Kind von seinem Vater erhalten hat und stets um seinen Hals trug: „so trug ich dich / brav und Kind / an einem Halskettchen / von Vaters Hand.“ Das Ich reichte die Kette weiter an seinen Sohn: „Fern dieser Legende / trifft mein Kind / dein abgetragenes Gesicht [des Mosesbildes in dem Anhänger der Kette, Anm. J. P.].“ Die Kette mit dem Mosesbildchen wird zu einem Symbol für die Tradierung jüdischer Geschichte und des Narrativs der Gründung des jüdischen Volkes. Die materialisierte ikonische Mosesfigur an der Kette hält die Generationen auch über räumliche Zerstreuung hinweg zusammen – und reicht auch bis in den Abnutzungskrieg im Sinai 1969 hinein. So wird hier auch ein Zusammenhang zwischen Religion und Politik hergestellt. Der biblische Moses erscheint in der Kriegssituation, in der sich der Sohn befindet, in Form eines trostspendenden Märchens: „im Bombenangriff betet er / die Rinde seines baumgrünen Lebens / umarmend. / In der trostlosen Steppe / kalter Nacht / hört er das eigenartige Märchen von Mutters Kette.“

Die hier hergestellte Geborgenheit und das Kindheitsidyll – Gott flüstert im Hintergrund, das Gesicht Moses „samtig rot“, Vaters Hand überreicht dem Ich die Kette mit Moses – wird gebrochen durch die Darstellung der kriegerischen Realität, in der sich nun das vorerst letzte Glied der Kette – der im Titel erwähnte Sohn Efraim – wiederfindet: Das Gesicht des Moses an der Kette ist „abgetragen“, er betet

„im Bombenangriff“ und bangt „in der trostlosen Steppe / kalter Nacht“ um sein Leben. In dieser Situation also wird er mit dem „eigenartige[n] Märchen / von Mutters Kette“ konfrontiert. An dieser Stelle endet das Gedicht, die Reaktion des Sohnes auf das „eigenartige Märchen“ wird nicht mehr thematisiert. Die Rolle des Ichs steht im Vordergrund, das eine Vermittlungsfunktion zwischen biblischer Geschichte und heutiger israelischer Realität – dem Soldatensohn im Sinai – zu übernehmen

431 In einem undatierten Tagebucheintrag, der auf einen Eintrag vom 5.6. 1967 folgt, schreibt Boleslav: „Ich sah ihn (Efraim, Anm. J. P.) das erste Mal nach dem Krieg, wir besuchten ihn auf dem Flughafen Karmel-David. Ich brachte ihm das Goldene Kälbchen mit dem Anhängsel der zehn Gebote, gab es ihm um den Hals.“ (Boleslav, o.J.i)

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versucht. So wird in diesem Gedicht wie in keinem der Gedichte bisher die Funktion deutlich, die Hannan Hever vielen literarischen Werken Israels zuspricht: Literatur habe hier häufig dem zionistischen Zweck gedient, den Übergang von hebräischer Literatur zu israelischer Literatur zu vollziehen. In seinem Aufsatz Mapping Literary Spaces entwickelt er seine Argumentation ausgehend von einer Äußerung des israelischen Literaturkritikers Avraham Kariv und stellt fest, dass im zionistischen Sinne Literatur einem strengen dreistufigen Narrativ zu folgen habe, in dem auf die hebräische Literatur der Diaspora die erez-israelische Literatur folge (die durch einen Reterritorialisierungsprozess im Sinne Deleuze‘ und Bindung an das Land herbeigeführt wurde), die schließlich von der israelischen Literatur abgelöst wurde.432 Ein solches teleologisches Narrativ bedient auch Boleslav in dem vorliegenden Gedicht. Der dargestellte Soldat im Sinai, der Sohn Efraim, verkörpert hierbei eine Integration von diasporischer Geschichte und heutigem Israel: Der Soldat ist

versucht. So wird in diesem Gedicht wie in keinem der Gedichte bisher die Funktion deutlich, die Hannan Hever vielen literarischen Werken Israels zuspricht: Literatur habe hier häufig dem zionistischen Zweck gedient, den Übergang von hebräischer Literatur zu israelischer Literatur zu vollziehen. In seinem Aufsatz Mapping Literary Spaces entwickelt er seine Argumentation ausgehend von einer Äußerung des israelischen Literaturkritikers Avraham Kariv und stellt fest, dass im zionistischen Sinne Literatur einem strengen dreistufigen Narrativ zu folgen habe, in dem auf die hebräische Literatur der Diaspora die erez-israelische Literatur folge (die durch einen Reterritorialisierungsprozess im Sinne Deleuze‘ und Bindung an das Land herbeigeführt wurde), die schließlich von der israelischen Literatur abgelöst wurde.432 Ein solches teleologisches Narrativ bedient auch Boleslav in dem vorliegenden Gedicht. Der dargestellte Soldat im Sinai, der Sohn Efraim, verkörpert hierbei eine Integration von diasporischer Geschichte und heutigem Israel: Der Soldat ist