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5 Analyse der Ich-Konstruktionen in der Lyrik von Aloni und Boleslav

5.2 Ich-Artikulationen und die Stadt Jerusalem

5.2.2 Alonis Lyrik über Jerusalem

Zwanzig Jahre nach Boleslavs Jerusalemgedichten entstand Alonis Gedicht Oh Jerusalem in den Bergen Judäas – datiert ist es auf den 19. Juni 1984. Es ist in den von Knienecker/Steinecke posthum herausgegeben Gesammelten Werken im Jahr 1995 erschienen. Das Gedicht Oh, Jerusalem in den Bergen ist 1980 im Gedichtband In den schmalen Stunden der Nacht erschienen.

Oh, Jerusalem in den Bergen

Die Jerusalemgedichte von Aloni sind nicht wie Boleslavs Jerusalemgedichte von einem introspektiven Blick geprägt, in dem die Empfindungen eines Ichs im Kreisen um das Du Jerusalem ausgelotet werden.

Vielmehr wird in dem vorliegenden Gedicht Oh, Jerusalem in den Bergen255 der Blick nach außen gerichtet und ein Porträt der Stadt skizziert. Dieser Blick erhält filmischen Charakter und ist auf die Stadt und seine Akteure gerichtet. Dabei changiert es zwischen Panorama-Einstellungen und Close-Ups. Ein Figuren-Ich taucht dabei nicht auf, das Ich nimmt vielmehr mit seinem filmischen Erzählen die Position einer Beobachterin ein. Gebrochen wird diese beobachtende Erzähler_innenposition im zweiten Teil des Gedichts, wenn das Ich in anschuldigenden Äußerungen eine eigene Position einnimmt. In ihr schimmern Enttäuschung und Wut eines Ichs durch, die sich in einer anaphorischen Enumeration von Fehlleistungen eines Dus entladen: „Du hast sie zertreten, / die wächsernen Bitten / der alten Frauen. / […] / Du hast die letzte Hoffnung/ aus den Gesichtern gewischt. / Du hast die Zettel in den Ritzen / der Klagemauer zerrissen.“

Mit seinen an die Neue Sachlichkeit anknüpfenden Mitteln kann das Gedicht als Antithese zu dem Besingen von Jerusalem als metaphysischer Utopie betrachtet werden. Dieses Gedicht stellt die religiösen Bedeutungszuschreibungen von Heiligkeit, Mythen des Ursprungs und zukünftiger Erlösung256 an Jerusalem in Frage. Es kann als Versuch begriffen werden, den (langen) Moment des Übergangs zu erfassen, in dem über Jahrhunderte tradierte Vorstellungen von Jerusalem mit dem realen Erleben in der Stadt konfrontiert werden, also mit Erlebnissen, die sich aus den Zuwanderungen nach Palästina/Israel, aus sozialen und politischen Auseinandersetzungen und aus dem Zusammenprall unterschiedlicher Religionen in der Stadt Jerusalem speisen. Während in Boleslavs Jerusalemgedichten der Übergang von der jüdischen bzw. Diaspora-Literatur hin zur israelischen Literatur nicht unmittelbar ablesbar ist, wird dieser Übergang im vorliegenden Gedicht von Aloni deutlich sichtbar.

255 Aloni, 1995, S. 72f.

256 Vgl. Leuenberger, 2007

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Auffällig sind die Dichotomien, mit denen gearbeitet wird. Gerahmt wird das Gedicht von der Dichotomie Stadt/Land. In den ersten Versen wird Jerusalem – aus der Perspektive eines weiten Panoramas – als „ruhende Karawane“ bezeichnet und in ein Landschaftsbild „kamelhöckriger Hügel“

eingebettet. Mit dem Zoom in die Stadt hinein folgen jedoch Schilderungen eines konfliktgeladenen Stadtlebens. Akteur_innen werden in Close-ups ihren Tätigkeiten nachgehend geschildert und zum Sprechen gebracht.

Das in den ersten Versen in seiner vermeintlichen Natürlichkeit und inmitten von Natur gezeichnete Jerusalem als „heilige Stadt des Friedens“ wird mit dem Zoom in die Stadt zu einer „immer wieder entweiht[en]“ und „immer wieder umkämpft[en]“. Land und Natur werden mit Frieden und Heiligkeit assoziiert, Stadt mit Krieg und blutigen Auseinandersetzungen: Die „Gassen der Bitt- und Bußgänger“

erscheinen als „gepflastert mit Patronenhülsen“, die Hoffnungen „zerbrochen“, Teppiche werden zu

„blutgefärbte[n]“. Aloni verwendet in ihren Gedichten immer wieder Allegorien und Metaphern der Natur, die allerdings in den meisten Fällen gebrochen werden. Diese Brüche spielen sich in ihren Gedichten auf unterschiedlichen Ebenen ab. Mal wird einer intakten Natur die Grausamkeit von Menschen gegenübergestellt, mal wird Natur selber zu einer düsteren Allegorie auf gesellschaftliche Missstände. Hier wird die Gleichsetzung von Land, Frieden und Heiligkeit als Mythos entlarvt: der weite Panoramablick, so wird durch den Bruch zwischen weitem Panoramablick und Zoom in die Stadt hinein suggeriert, ist nicht in der Lage, Wirklichkeit abzubilden. Aloni stellt so diesem trügerischen Bild des Friedens durch ein montageartiges Nebeneinanderstellen verschiedener Stimmen und verschiedener Close-Ups ein realistisches entgegen. So kann der in diesem Gedicht geschilderte Weg von der Betrachtung Jerusalems aus der Ferne hin zu Jerusalem aus der Nähe auch auf übergeordneter Ebene als Übergang von Literatur der Diaspora zur Literatur des Staates betrachtet werden.

Wie auch in dem Gedicht Am Omnibusbahnhof versucht Aloni die Mythen aufzubrechen und zum Kern vorzudringen. In ihrem Prosawerk Das Brachland skizziert sie das Vorgehen der Entmythifizierung des Protagonisten-Ichs:

„Ich gehe. Ich höre und sehe. Ich zeichne auf wie Photoapparat und Tonband. Doch nur skizzenhafte Bilder entstehen. Ich muß zum Kern vordringen, wenn ich die Stadt begreifen will.

Was aber ist der Kern? […] Hochstöckige Häuser? Firmenschilder? Leuchtreklamen? Bettler, Schmuggler, Dirnen, Schwarzhändler, Existenzen, die sich – wie ich selber – an der Peripherie bewegen, bezeichnen gerade sie den Kern der Stadt? […] Vielleicht ist es unmöglich, die Stadt von außen zu erkennen, vielleicht muß man, um sie zu begreifen, ihren Rhythmus zu dem seinen machen, sie erschauen, erriechen, ihr Fluidum in den Fingerspitzen pulsieren fühlen.“257

Mit seinen Polaroidaufnahmen ist auch das vorliegende Gedicht von dieser Suche nach dem „Kern der Stadt“258 geprägt.

Damit steht Alonis Gedicht Oh, Jerusalem in den Bergen nicht nur in der Tradition von Naturlyrik, sondern auch in der Tradition von Großstadtlyrik. Allerdings geht es hierbei weder um das

257 Aloni, 1990, S. 53

258 Ebd.

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expressionistische Bejubeln pulsierenden Großstadtlebens, noch in erster Linie um seine ebenso dem Expressionismus verbundene Kehrseite, um das Verzweifeln am Untergehen des Individuums in der Masse. Auch die Arbeits- und Wohnverhältnisse, die im Naturalismus oder auch in der Neuen Sachlichkeit im Zentrum stehen, sind nicht Thema des Gedichts. Vielmehr stehen soziale Missstände und politische Auseinandersetzungen unter besonderer Berücksichtigung religiöser Konflikte im Fokus. Entscheidend ist hier, dass es nicht um irgendeine austauschbare Großstadt geht, sondern um eine Stadt, die das Spezifikum der übermächtigen Rolle von Religion in sich trägt.

Der Blick des erzählenden Ichs unternimmt dabei den Versuch, den Fokus möglichst wenig eng zu machen, er fokussiert nicht – wie etwa das Ich bei Boleslav – auf die jüdische Religion, sondern nimmt die drei in Jerusalem rivalisierenden Religionen gleichermaßen in den Blick: In parallel strukturierten Dreierkonstellationen werden die Akteur_innen der Religionen in das Bild der Stadt aufgenommen:

„Priester mit Käppchen auf Tonsur,/ Rabbi mit Käppchen über Schläfenlocken,/ Mulla mit rotem Fez“

stehen hierbei inmitten von „Haschisch- und Opiumraucher[n]“. Religion wird hier in politischen Kategorien analysiert. „Der Anteil am Jenseits“ wird von Verkäufer_innen im gleichen Atemzug mit

„Haschisch“, „Freude[n] einer Nacht“ und „blutgefärbte[n] Teppiche[n]“ feilgeboten. Nicht zuletzt wird auch die Internationalisierung der Geschäfte mit Religion thematisiert: „Lassen Sie uns für Sie beten,/ preiswert, für nur dreißig Dollar.“ So werden inmitten religiöser Handlungen und Bauten Bilder des Verfalls evoziert, die geprägt sind von „Spelunken“ und „Häusern der Freude“. So sehr sich die geistlichen Vertreter_innen in ihrer Erscheinungsform unterscheiden, so sehr werden gleichzeitig ihre Gemeinsamkeiten betont: Sie alle bewegen sich in einer mythifizierten Stadt, in der Religion einer kapitalistischen Verwertungslogik unterliegt. Wie die geistlichen Vertreter_innen erscheinen auch die drei Propheten in einer Triade: „Aufsteigen zum Himmel/ wie Elias, Jesus und Mohammed“. Die irdische Antwort darauf ist die Gegenbewegung, das Fallen – das Fallen der Münzen „in blecherne Schalen“. Der religiösen Bewegung des Aufsteigens in den Himmel werden die in der Stadt herrschenden sozialen Missstände entgegengestellt. Das Ich beobachtet das Leben in Jerusalem, es analysiert und kritisiert – und es bleibt gleichzeitig außen vor und wird nicht Teil des Lebens in Jerusalem. In der Prosageschichte Das Brachland wird der oben zitierte Diskurs mit folgenden Worten weitergeführt:

„Wie aber, wenn es mir nicht gelingt, mich mit ihr zu identifizieren? Werde ich, die ich meine Tage hier verbringen muß, für immer eine Fremde in ihr bleiben?“259

Auch hier sind Parallelen zwischen dem Vorgehen des Ich in Das Brachland und dem Ich des Gedichts zu ziehen. Beide Ichs unternehmen den Versuch, sich mit dem Ort, an dem das Ich seine „Tage verbringen muß“260 zu identifizieren und den Zustand des oder der Fremden zu überwinden. So kann Kritik an Vermarktung und Entwicklung Jerusalems auch als Versuch gelesen werden, durch Entmythifizierung und Bloßlegung des Kerns der Stadt nahe kommen zu können. In diesem Versuch

259 Aloni, 1990, S. 53

260 Ebd.

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des Nahekommens ist dieses Jerusalemgedicht von Aloni den Jerusalemgedichten Boleslav verwandt.

Der Weg, den die Ichs dafür jeweils wählen – Demythifizierung in Alonis Gedicht, Mythifzierung in Boleslavs – könnte allerdings entgegengesetzter nicht sein.

Aloni steht mit dem Versuch der Entmythifizierung Jerusalems nicht alleine da. Der weitaus bekanntere israelische und hebräischsprachige Lyriker Yehuda Amichai unternimmt ebenso wie Aloni den Versuch, die Bilder Jerusalems aus ihrer Überhöhung und Transzendentalität zu befreien. In Ecology of Jerusalem schreibt er:

„The air over Jerusalem is saturated with prayers and dreams / Like the air over industrial cities. / It´s hard to breathe.”261

Aloni und Amichai drücken die Schwierigkeit aus, in der Dichte religiöser Mythen, Träume und Gebete zu sehen und zu atmen. In Alonis Gedicht schließt sich in den letzten Versen der Kreis. Der Blick zoomt heraus, der Fokus wird weiter und schwenkt auf das mit religiöser Bedeutung aufgeladene und etwas außerhalb der Stadt in der Natur gelegene „Kidrontal“, in dem sich auch „Absaloms Grab“ und der

„Garten Gethsemane“ befindet.262 Die religiösen Stätten aber finden sich von Spinnenweben überzogen wieder. Sie bestimmen das Bild von Jerusalem und liegen doch unberührt, versteinert und unbeweglich am Rande der Stadt. Mit seiner anklagenden Ansprache an das Du Jerusalem in den letzten Versen – „Du hast sie zertreten,/ die wächsernen Bitten/ der alten Frauen…Du hast die letzte Hoffnung/ aus den Gesichtern gewischt./ Du hast die Zettel in den Ritzen/ der Klagemauer zerrissen.“

– versucht das Ich, die Bilder und Mythen um Jerusalem wieder in Bewegung zu bringen. Es geht in diesem Gedicht nicht mehr um eine Betrachtung aus der Ferne, ebenso wenig um eine kurze Stippvisite ins Gelobte Land, wie sie im Zuge der Modernisierung und der Erkundung des „Orients“263 durchgeführt und häufig in Reiseberichten264 verarbeitet wurden. Ein wirkliches Da-Sein aber scheint Jerusalem dem Ich nicht zu erlauben. Jerusalem bleibt stumm, liefert keine Antwort. Stattdessen schwenkt der Blick des Ichs auf die Spinnenweben über den religiösen Stätten. Die Antwort auf die Anklage geht in dem Bild unter. Auch an dieser Stelle zeigen sich Parallelen zu dem Lyriker Amichai. In seinem Gedichtzyklus Jerusalem, 1967 schreibt er:

261 Amichai, 1996, S. 136

262 Das Kidrontal spielt in allen drei Religionen – im Judentum, Christentum und Islam – eine signifikante Rolle.

Für Muslime stellt das Kidrontal den Ort des endzeitlichen Gerichts dar; nach muslimischer Überlieferung wird am Tag des Jüngsten Gerichts die Trennungslinie zwischen Gut und Böse durch dieses Tal gehen. Für die Christen stellt der Garten Gethsemane im Kidrontal den Ort dar, in dem Jesus in der Nacht das letzte Mal betete, bevor er von Judas verraten wurde. Für die Juden ist Absaloms Grab als Grab des Sohns König Davids ein wichtiger Gedenkort.

263 Vgl. dazu auch Said, 1995

264 Der jüdische Arzt Ludwig August Frankl reiste 1856 nach Jerusalem, um eine jüdische Schule zu gründen und verarbeitete seine Erfahrungen in dem Buch „Nach Jerusalem!“ (Frankl, 1935). Eine Schilderung in Gustave Flauberts 1849-1851 entstandenem Reisebericht Reise in den Orient steht paradigmatisch für die in den Reiseberichten der Zeit vorgenommene Entzauberung der Stadt Jerusalem: „Ach, wie falsch das alles ist! Und wie sie lügen! Nichts als Tünche, Doublé, Lack, für die Ausbeutung, die Propaganda und die Werbung bestimmt.“

(Flaubert, 1985, S. 39)

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„Jerusalem is built on the vaulted foundations / Of a held-back scream. If there were no reason / For the scream, the foundations would crumble, the city would collapse; / If the scream were screamed, Jerusalem would explode into the heavens.”265

Amichais Gedicht konstatiert eine Balance zwischen der Formung eines Schreis und der gleichzeitigen Unterdrückung des Schreis. Die Stadt bewegt sich in dieser Balance und das Ich mit ihr – es trägt eine Artikulation in sich, die ihre Freiheit zum Ausdruck nicht finden kann. So können die Verse auch als das Gefühl eines Ichs gelesen werden, das nicht ganz zu dem Kern der Stadt, wie Aloni formuliert, durchdringen kann, denn würden die Mythen aufgelöst und der Schrei geschrien, kollabierte die Stadt und „Jerusalem would explode into the heavens.“266

So ziehen bei Amichai wie bei Aloni die Mythen um Jerusalem die ganze Aufmerksamkeit auf sich und die Entmythifizierung der Stadt gleicht Don Quijotes Kampf gegen die Windmühlen. Es ist ein ungleicher Kampf und er lässt keinen Raum, um zum Eigentlichen hindurchzukommen. In demselben Gedichtzyklus wirft Amichai allerdings einen Hoffnungsschimmer auf. In einem der in diesem Zyklus nebeneinandergestellten Polaroids wird die Hoffnung laut, dass jenseits der Mythen und der politischen Auseinandersetzungen – hier um den Sechstagekrieg, die nicht zuletzt ihre Grundlage in den Mythen finden – noch Platz ist für genaue Blicke, die etwas anderes sehen können:

„In this summer of wide-open-eyed hatred / And blind love, I´m beginning to believe again / In all the little things that will fill / The holes left by the shells: soil, a bit of grass, / Perhaps, after the rains, small insects of every kind.”267

Bei Aloni sind sie kaum zu sehen, zu sehr sind die Gedichte von Mythos und Demythifizierung bestimmt. Und dennoch scheinen die Gedichte von der Suche nach diesen kleinen Dingen des Eigentlichen grundlegend bestimmt.

Oh, Jerusalem in den Bergen Judäas

Das 1984 entstandene Gedicht Oh, Jerusalem in den Bergen Judäas268 bildet vergleichbar mit dem vorhergehenden Gedicht Oh Jerusalem in den Bergen den Versuch einer Entmythifizierung der Stadt Jerusalem ab. In den ersten vier Versen des Gedichts wird zunächst ein Bild von Jerusalem als heiliger Stadt aufgebaut:

„Oh, Jerusalem in den Bergen Judäas / goldene Stadt auf goldgelben Hügeln / silberne Kuppeln, silberne Gärten / Mauern gehämmert in Stahl und in Eisen“

Der Zusatz „so singen sie“ des fünften Verses läutet die Entmythifizierung ein, die in den folgenden Versen vorgenommen wird:

265 Amichai, 1996, S. 47ff.

266 Amichai, 1996, S. 53

267 Ebd., S. 50

268 Aloni, 1995, S. 198

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„Ziel träumender Sucher, fanatischer Pilger / jeder zur Ehre Gottes, seines nur ihm eigenen / und doch alle und alles beherrschenden Gottes / so singen, so predigen, so beten, so hadern sie.“

Auch hier wird Kritik an der religiösen Inbeschlagnahme von Jerusalem und an religiösen Exklusivitätsansprüchen geübt. Die Einzelnen werden in ihrem Kampf um alleinige Gültigkeit ihrer Ansprüche allerdings zu dem Kollektiv „sie“ zusammengefasst. Trotz ihrer unterschiedlichen Glaubensrichtungen „singen“, „predigen“, „beten“ und „hadern“ sie doch auf die gleiche Weise.

Durch Verweise auf kulturelle und politische Diskurse erscheint dieses Gedicht stärker als die bisherigen Gedichte sowohl von Boleslav als auch Aloni in seiner Zeit verankert. Das Ich des Gedichts widersetzt sich in deutlicher – anaphorischer – Antipose zu dem hadernden, betenden, predigenden

„sie“. Im Gegensatz zu diesem „sie“ vergöttert und idealisiert das Ich Jerusalem nicht. Sein Jerusalem entsteht nicht durch Singen, Predigen und Beten: „nicht auf Wolken getragen/ nicht im Himmel schwebend/ nicht aus Gold und nicht aus Silber/ nicht aus Stahl und nicht aus Eisen/ sehe ich dich.“

Diese Verse können als Referenzen auf verschiedene Quellen verstanden werden. Zum Einen verweisen sie auf den Bau des Ersten Salomonischen Tempels. Im Buch der Könige ist von der Vergoldung des Tempels die Rede:

„Und Salomo überzog das Haus innen mit gediegenem Gold und zog goldene Ketten vor dem Hinterraum entlang und überzog ihn mit Gold. Das ganze Haus überzog er mit Gold, das ganze Haus vollständig. Auch den ganzen Altar, der zum Hinterraum gehörte, überzog er mit Gold.“269

Auch das Metall Eisen spielt eine essentielle Rolle beim Bau des Tempels. Innerhalb der Debatten um die Auslegung der Schrift stellt die Frage, wie das Behauen der Steine für den Tempel ohne Werkzeug und Eisen möglich gewesen sein soll, ein Rätsel dar:

„Und als das Haus gebaut wurde, wurde es aus Steinen erbaut, die vom Steinbruch her unbehauen waren. Hammer und Meißel [oder] irgendein [anderes] eisernes Werkzeug waren im Haus nicht zu hören, als es erbaut wurde.“270

Die Verse Alonis widersetzen sich diesen Bildern von Jerusalem, die Jerusalem vor allem an historische Bilder, an Bilder des Ersten und Zweiten Tempels koppeln: „nicht aus Gold und nicht aus Silber / nicht aus Stahl und nicht aus Eisen / sehe ich dich.“ Dem Ich in Alonis Gedicht geht es nicht um ein himmlisches und goldenes Jerusalem, es geht ihm auch nicht um die Frage, ob der Erste Tempel mit der Hilfe von eisernem Werkzeug gebaut wurde. Stattdessen erscheint Jerusalem dem Ich „aus Lehm und Stein gebaut / mit Sand und Tränen gekittet“.

Gleichzeitig verweisen diese Verse auf den Titel eines israelischen Liedes, das kurz nach dem Sechstagekrieg zu einem der bekanntesten israelischen Lieder überhaupt avancierte. Das Lied Jerushalajim shel sahav, Jerusalem aus Gold, von Naomi Shemer wurde am Ende der Feierlichkeiten

269 Christliche Verlagsgesellschaft Dillenburg, 2010, S. 450

270 Ebd.

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zum Unabhängigkeitstag Israels, am 15. Mai 1967 zum ersten Mal präsentiert. Das war einige Wochen vor dem Ausbruch des Sechstagekrieges. Mit dem überraschend schnellen Sieg der Israelis wurde es nach dem Krieg zu einer Hymne der Israelis, die von Soldaten auch an der nun für Israelis wieder zugänglichen Klagemauer gesungen wurde. Das Lied handelt von der jüdischen Sehnsucht nach der Altstadt Jerusalems. Es beschreibt Jerusalem als menschenleere Stadt und als Braut, die ihren Bräutigam – das jüdische Volk – erwartet. Auch die deutschsprachige israelische Schriftstellerin und Journalistin Alice Schwarz-Gardos beschreibt die Erfahrung des Krieges aus dem Hinterland mit Verweis auf das Lied:

„Selbstverständlich gingen wir nicht schlafen. Wir hörten weiter unheimlich frohsinnige Radiomusik, uns als sie dazwischen immer wieder einmal das eher wehmütige neue Lied

‚Jerusalem – Stadt von Gold‘ – spielten, wo doch Jerusalem unter schwerem Feuer lag, hatten wir Tränen in den Augen.“271

Einen kritischen Blick auf die Euphorie, die das Lied in der israelischen Gesellschaft auslöste und unterstützte, werfen die israelischen Historiker_innen Anita Shapira und Tom Segev. In der Geschichte Israels stellt Shapira die Mythifizierung Jerusalems in diesem Lied heraus, die keinen Raum lasse für die Realität Jerusalems:

„This mythic description left no room for reality, as was evident to anyone looking through binoculars from West to East Jerusalem during the nineteen years preceding the Six-Day-War.“272

Auch Segev bezieht kritisch Stellung und beschreibt in 1967 den Zusammenhang zwischen Popkultur, Sakralität und Politik in Bezug auf dieses Lied:

„Schemer […] bestritt stets, dass sie mit ihren Liedern politische Absichten verfolgte, wie ihr häufig unterstellt wurde. Vor dem Feiertag hatte sie das Lied Rivka Michaeli vorgesungen, einer bekannten Radiomoderatorin, die sie anschließend fragte, warum es so kurz sei. „Bevor man zu weinen anfangen kann, ist es schon zu Ende“, beschwerte sie sich. Deshalb, so erzählte Schemer, habe sie noch eine weitere Strophe hinzugefügt, in der es um die Sehnsucht nach dem Tempelberg

„Schemer […] bestritt stets, dass sie mit ihren Liedern politische Absichten verfolgte, wie ihr häufig unterstellt wurde. Vor dem Feiertag hatte sie das Lied Rivka Michaeli vorgesungen, einer bekannten Radiomoderatorin, die sie anschließend fragte, warum es so kurz sei. „Bevor man zu weinen anfangen kann, ist es schon zu Ende“, beschwerte sie sich. Deshalb, so erzählte Schemer, habe sie noch eine weitere Strophe hinzugefügt, in der es um die Sehnsucht nach dem Tempelberg