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5 Analyse der Ich-Konstruktionen in der Lyrik von Aloni und Boleslav

5.5 Ich-Artikulationen und die Alte Heimat

5.5.4 Exkurs: „Ein Blick aus dem Fenster eines deutschen Gasthofes“

Im Mai/Juni 1965 unternahm Netti Boleslav eine Lesereise durch Deutschland.540 Für Boleslav war diese Reise der erste Aufenthalt in Deutschland. Während ihres Aufenthaltes begleiteten sie immer wieder Zweifel, ob die Entscheidung zu fahren richtig war. Im Brief an einen Freund schreibt sie:

„Diese Welt, der ich einst angehörte, existierte nicht mehr. In der neuen Welt bin ich fremd geblieben. Und jetzt fliege ich in eine Welt, in der ich nie gewesen bin und die mich vernichtet hat.“541

Boleslav brach diese erste Reise vorzeitig ab. In einem Brief an ihre Freundin und Schriftstellerkollegin Frieda Hebel vom 1. Juni 1965 schreibt sie, dass sie sich gut fühle, wenn sie auch Sehnsucht nach Hause, nach Israel, habe.542 In dem literarisierten Brief an einen Freund vom Juli 1965 aber schildert Boleslav nachträglich die Angstzustände und die Nervosität, die sie auf deutschem Boden besonders belasteten.543 Sie beschreibt in diesem Brief auch ihre Position als israelische Jüdin innerhalb der deutschen Gesellschaft Mitte der 1960er Jahre und verdeutlicht die Schwierigkeit dieser Position in einer Umgebung, die zwischen offenem Antisemitismus über Ignoranz hin zu einem postnationalsozialistischen Philosemitismus schwankt. Trotz dieser Erfahrungen des Sommers 1965 folgen weitere Reisen nach Deutschland in den Jahren 1971, 1975, 1976 und 1977. Boleslav bearbeitet die Erfahrungen, die sie während dieser Aufenthalte in Deutschland macht, in einigen Gedichten und Texten. Während Alonis Gedichte über Deutschland als Gedichte über die Alte Heimat zu begreifen

540 Organisiert wurde die Lesereise von Bernhard Doerdelmann vom Israel Forum und vom Verlag J.P. Peter. In dem Verlag ist ihr erster Gedichtband erschienen. Finanziert wurde die Reise in erster Linie vom Senat für Kunst und Wissenschaft. Auch die Schriftstellervereinigung Die Kogge sowie die Münchner Volkshochschule finanzierten einen Teil (vgl. Doerdelmann, 26. 10. 1964).

541 Boleslav, Juli 1965, S. 3

542 In einem Brief vom 1.6.1965 schreibt Boleslav von Berlin aus an Frieda Hebel: „Sonst habe ich grosse Sehnsucht nach Hause, obwohl ich hier viele Menschen habe, die mich einladen und sich sehr um mich sorgen.

Jedenfalls wurde ich hier aufs freundlichste empfangen, von privaten Leuten, als auch im Senat und von der Presse. Meine erste Lesung in Berlin, in der Wagantenbühne war erfolgreich. Mein Buch ist erschienen und sieht sehr nett aus. Im Rundfunk und in der Prese wurde natürlich über mich mitgeteilt. Wie geht es Ihnen und Ihrem Mann? Ich freue mich schon sehr, wieder zu Hause zu sein, denn die Sehnsucht frisst mich auf.“ (Hebel &

Boleslav, o. J.)

543 Auch in einem eher verständnislosen Brief von Bernhard Doerdelmann, den er kurz nach Boleslavs verfrühter Abreise an sie nach Tel Aviv schickt, werden Boleslavs Motive, die Reise vorzeitig abzubrechen, deutlich. (vgl.

Doerdelmann, 14.7.1965)

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sind, trifft dies nicht auf die Gedichte von Boleslav zu, die Deutschland thematisieren oder in Deutschland verortet sind. Boleslav überschreitet mit ihren Reisen nach Deutschland die Grenzen hin in das Land, das ihr niemals Heimat gewesen ist und das für sie dennoch aufgespalten erscheint in die Vertrautheit zur deutschen Sprache, Kultur und Literatur und in das Land, das sie und ihre Familie vernichtet hat. Im Brief an einen Freund schreibt sie:

„Ich war nie in Deutschland gewesen und hatte das Volk nie kennen gelernt, auch in guten Zeiten nicht. Doch verfolgen mich die Mordtaten, die an meinem Volke verübt worden sind. Ich fühle es an jedem Morgen beim Aufstehen, jeden Abend beim Schlafengehen und meine Nächte sind voll von Angstträumen. Ich nehme immer Abschied von irgendjemandem, komme an Stellen, wo man mir den Weg versperrt...“544

Neben dem Gedicht Fahrt von Nürnberg nach Marienbad ist das Gedicht Ein Blick aus dem Fenster eines deutschen Gasthofes das einzige im Œuvre Boleslavs, das explizit auf Orte in Deutschland Bezug nimmt. Es ist zu vermuten, dass es im Jahr 1971 entstanden ist. In Boleslavs autobiografischen Notizen findet sich für den 28. Juni 1971 ein Eintrag, der auf zentrale Topoi des Gedichts hinweist: „In München. Mittagessen am Weg nach Dachau, im Restaurant ‚Jägerhaus‘.“545 Dachau und ein gutbürgerliches Restaurant stellen für das Gedicht den Rahmen dar.

Eine graphische Zäsur trennt das Gedicht unmittelbar sichtbar in zwei Teile. Der erste Teil stellt eine ans Kinematographische grenzende bildliche Beschreibung vermeintlicher, deutsch-kleinbürgerlicher

„Normalität“ dar: „Grüne Felder / graue Häuser / rote lustige Dächer / blühende Pelargonien in den Fenstern.“ Die negativ besetzten Facetten dieses vermeintlichen Dorf- oder Kleinstadtidylls werden in den folgenden Versen sichtbar gemacht: „An jeder Straße das Schild: ‚Bier‘. / Ein Betrunkener torkelt die Straße entlang / Schweinegrunzen / Blutwurst / Sauerbraten“. Zwischen diesen Darstellungen deutscher Alltäglichkeit tauchen aber auch Gesichter auf, die diese Normalität in ihren historischen Zusammenhang setzen: „alte Gesichter gestempelt / mit brauner Vergangenheit“. Der Blick aus dem Fenster eines deutschen Gasthofes wird damit eindeutig in einer postnationalsozialistischen Zeit verortet. Für die beobachteten Personen aber spielt die Vergangenheit keine Rolle. Die Kinder der

„alte[n] Gesichter/ gestempelt mit brauner Vergangenheit“ werden wohlbehütet vom „Pim-Pam-Märchen“ im Fernsehen ins Bett gebracht. Die Zukunft steht ihnen offen: „dann schlafen die Kinder ein / in der Hoffnung auf die Zukunft“.

Dieser erste Teil des Gedichts wirft einen Blick auf die Nachkriegszeit der 1960er Jahre in der Bundesrepublik und wendet sich der Thematik der Täter_innen zu. Es thematisiert die Verdrängung und das Verschweigen von Vergangenheit in einer Gegenwart, in der sich die Täter_innen in einer behaglichen Kleinbürgerlichkeit bewegen. Der erste Teil des Gedichts zeigt dabei sowohl inhaltliche als auch formale Parallelen zu einer Form von Lyrik, die in den 1960er Jahren im westdeutschen Literaturbetrieb langsam Fuß fasst: der Neuen Subjektivität. Vergleicht man beispielsweise die frühen

544 Boleslav, Juli 1965, S. 3

545 Boleslav, o.J.i, Tagebucheintrag vom 28.6.1971

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Gedichte eines Rolf Dieter Brinkmann mit dem Blick aus dem Fenster eines deutschen Gasthofes zeigen sich nicht von der Hand zu weisende Parallelen inhaltlicher und formaler Art. Das ist besonders erstaunlich, wenn man bedenkt, wie wenig vergleichbar die Positionen der israelischen Schriftstellerin Netti Boleslav mit den Positionen der westdeutschen, von der amerikanischen Beat-Generation beeinflussten und zumeist in den 1940er Jahren geborenen Lyriker_innen der Neuen Subjektivität sind.

Ähnlich wie in Boleslavs Gedicht, in dem zwischen „Pim-Pam-Märchen“, „Bier“ und „Sauerbraten“ die Täter_innen ihre Kinder großziehen und in dem die Vergangenheit unter dieser Schicht deutscher Normalität unsichtbar gemacht wird, findet in Brinkmanns Gedicht Ihr nennt es Sprache oder Spiegel an der Wand Verdrängung statt: „doch am Sonntag / mit Dorfmusik zwischen den Wiesen / so findet mans Glück / mit Vergessen und Bibelzitaten“546. Aber das Gedicht zeigt nicht nur inhaltliche Parallelen zur Lyrik der Neuen Subjektivität, sondern auch formale. Die Form der Neuen Subjektivität zu bestimmen ist aufgrund der Vielgestaltigkeit von Lyrik, der auch zahlreiche andere Namen neben dem der Neuen Subjektivität gegeben wurde (Popliteratur, Alltagsgedicht), nicht leicht. Der Literaturwissenschaftler Dieter Lamping hat die Neue Subjektivität vor allem als Antwort auf die Krise der „modernen anti-realistischen Lyrik“547 der 1960er Jahre begriffen und bringt ihre Form in all ihrer Diversität folgendermaßen auf den Punkt:

„Von Anfang an versucht sie sich, implizit und explizit, gegen die drei wichtigsten Richtungen der modernen Gegenwartslyrik abzugrenzen. Gegen die Unverständlichkeit der hermetischen Lyrik setzt sie eine auf Symbole, Chiffren und Metaphern weitgehend verzichtende Einfachheit, Direktheit und Durchsichtigkeit der Rede; gegen die abstrakten Demonstrationen der Konkreten Lyrik die Konzentration auf sinnlich erfaßte Details realen Lebens; gegen das intellektuelle Pathos der politischen Lyrik die Beglaubigung durch alltägliche Erfahrungen. Diese Unterschiede im einzelnen sind Symptome des grundlegenden Unterschieds zwischen der Lyrik der Neuen Subjektivität und der Lyrik der Nachkriegszeit: anders als diese ist sie in ihrer Rede-Weise realistisch.“548

„Einfachheit“, „sinnlich erfasste Details realen Lebens“ und „Beglaubigung durch alltägliche Erfahrungen“ – diese Merkmale zeichnen auch das Gedicht Ein Blick aus dem Fenster eines deutschen Gasthofes aus. Ebenso wird darin auf „alle Feiertäglichkeit“549 verzichtet – ein Verzicht, der für Höllerer das Langgedicht als Aushängeschild der Neuen Subjektivität kennzeichnet.

Die Verortung des Gedichts in der Kategorie der Neuen Subjektivität ist allerdings nur unter Vorbehalt möglich. Denn die (Selbst-)Positionierung des Ichs und sein Verhältnis zur Gesellschaft weist strukturelle Unterschiede zu identitären Positionen in der deutschen Neuen Subjektivität auf.

Betrachten wir dafür die Konstruktion des Ich genauer.

546 Brinkmann, 1980, S. 29

547 Lamping, 2001, S. 255

548 Ebd.

549 Höllerer, 1965, S. 129

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In Boleslavs Gedicht positioniert sich das Ich als außerhalb der Gesellschaft stehende Person. Während der Fokus im ersten Teil auf der Tätergesellschaft und den Nachgeborenen liegt und das Ich sich mit keinem Wort explizit zu erkennen gibt, findet im zweiten Teil des Gedichts eine Verschiebung hin zu den Opfern statt, mit denen sich das Ich identifiziert. Auch ist der Blick im zweiten Teil des Gedichts weniger auf die Umgebung und die das Ich umgebende Gesellschaft gerichtet, sondern eher ein Blick in die Innenwelt des Ichs. Diese Wendung hin ins Introspektive hat einen eindeutig äußeren Bezugspunkt: „Von weitem sehe ich / ein Schild ‚Dachau‘“. Ausgehend davon aber fällt das Ich wieder in einen traumähnlichen Zustand wie auch schon in dem Gedicht Marienbader Bahnhof. „Morgen fahre ich weiter“ wird der zweite Teil des Gedichts eingeleitet. Die Fahrt des nächsten Tages ist hierbei keine Fahrt in die Zukunft, sondern wie in Marienbader Bahnhof eine Fahrt in die Vergangenheit der Konzentrationslager. Die Kinder im ersten Teil des Gedichts, die Kinder der „Gesichter gestempelt / mit brauner Vergangenheit“, schlafen „in der Hoffnung auf die Zukunft“ ein. Das Ich aber fährt zurück in die Vergangenheit, die für das Ich noch immer präsent ist.

Die unterschiedliche Positionierung von Ich und der im Gedicht homogenisiert dargestellten deutschen Gesellschaft wird hier besonders deutlich: Für das Ich ist die Vergangenheit stets präsent, es ist auf der Suche nach den „Toten“, die an ihm vorüberziehen – während die Personen, auf die das Ich in seinem Blick aus dem Fenster blickt, sich zwischen „grüne[n] Felder[n]“, „Sauerbraten“ und „der Hoffnung auf die Zukunft“ bewegen. Die Nicht-Zugehörigkeit zu der Gesellschaft wird auch deutlich daran, dass sich das Ich in diesem Gedicht anders verortet als in Boleslavs Gedichten zur Alten Heimat.

In den Gedichten Bad Königswart und Marienbader Bahnhof begegnet das Ich auf seiner „Suche nach dem unauffindbaren Gestern“550 immer wieder altvertrauten Menschen und Dingen, mit denen es – zumindest in seiner Traumwelt – eine Bindung herzustellen versucht. In Deutschland aber bleiben die Toten anonyme Tote, es gibt keine Anknüpfungspunkte, die dem Ich vertraut vorkommen. „Die Toten“

stellen Vergangenheit und Gegenwart des Ichs dar, sie stellen Identifikationsmomente für das Ich dar, evozieren aber keine Erinnerungen an die Alte Heimat. Es ist ein Ich auf der Durchreise, das eine Momentaufnahme deutscher Alltäglichkeit einfängt und dann „morgen“ weiterfährt.

So bewegt sich das Ich einerseits in der Fremde derjenigen, die seine Welt vernichtet haben und zum anderen in einer Vergangenheit, der sich das Ich verbunden fühlt, ohne eine konkrete Bindung herstellen zu können. Das Ich kann beim Erwachen aus dem traumartigen Zustand am Ende des Gedichts lediglich feststellen: „Das ist Dachau“. Es erwacht – wie in Marienbader Bahnhof 1966 – in einer Gegenwart ohne Perspektive: „ich erwache / und sage / Das ist Dachau / die Antwort / der Regen fallen / auf die Autobahn.“

Während in einigen Tagebucheinträgen und Briefen davon auszugehen ist, dass grammatikalische (oder lexikalische) Unstimmigkeiten auf Unsicherheiten Boleslavs mit der deutschen Sprache zurückzuführen sind, erscheint eine solche Begründung in diesem Fall unplausibel – die Flexion der Verben beherrschte Boleslav ohne Zweifel. Vielmehr sind die grammatikalischen Abweichungen als

550 Boleslav, o.J.e

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bewusst gesetzte Stolpersteine zu verstehen. Sie erscheinen, kurz nachdem das Ich das „Schild

‚Dachau‘“ erblickt hat. Das Ich unternimmt den Versuch, dieses Schild, das Bezeichnende, zu verstehen. In diesem Gedicht wird das Scheitern des Verstehensprozesses des Schildes deutlich: das Ich kann den Sinn nicht erfassen. Mit dem Schild zieht auch der Sinn vorbei und der vorbeiziehende Sinn drückt sich in den folgenden – wie auch am Schluss des Gedichts grammatikalisch unstimmigen oder zumindest uneindeutigen – Äußerungen aus: „Von weitem sehe ich / ein Schild „Dachau“ / gehen vorbei / fahren vorbei / lachen vorbei / kein Auge mehr zu finden“.

Wer Agens dieser Verben ist, bleibt zunächst unklar. Verschiedene Deutungen sind denkbar. Die Verben ließen sich um ein Pronomen der dritten Person Plural „sie“ ergänzen, das Vorbeiziehen von etwas verwiese dann auf die Ignoranz der in der ersten Strophe beschriebenen Mehrheitsgesellschaft.

Ebenso können die Verben als Ausdruck der ersten Person Plural, als ein Wir begriffen werden. Dieses Wir fährt an dem Schild vorbei, kann die Bedeutung des Schildes nicht erfassen. Bezieht man den auf den Vers „kein Auge mehr zu finden“ folgenden – „Die Toten sind aufgestanden“ – mit ein, so können die Verben des Vorbeiziehens auch auf ebendiese Toten bezogen werden – auch das Lachen der Toten wäre damit vorbei.

All diese Deutungen sind plausibel. Die Artikulationen lassen sich aber noch abstrakter fassen und als Verweis auf die Sinnlosigkeit und Absurdität des Zeichens „Dachau“ verstehen, als Zeichen dafür, dass das Schild in diesem Kontext keinen Sinn macht und dass darüber hinaus das Wort „Dachau“ kaum in der Lage ist zu fassen, was es fassen müsste. In dem Begriff „Dachau“ kann die komplexe Grausamkeit der Shoah mit all ihren Folgen nicht gefasst werden. Das Ich bewegt sich zwischen Sinnsuche und der Darstellung des Scheiterns der Sinnsuche. Es wiederholt das Wort „vorbei“, setzt es in unterschiedliche Kontexte, lässt uns über die Grammatik stolpern und entreißt damit die Äußerungen einer Kohärenz, die nicht mehr hergestellt werden kann. Ganz anders als in den Jerusalemgedichten, in denen ein von Widersprüchen befreites Signifikat Jerusalem entsteht, treibt Boleslav in diesem Deutschland-Kontext die Deterritorialisierung des Sinns voran, vergleichbar der Freisetzung des Sinns, die Deleuze bei Kindern und Kafka sieht:

„Kinder sind sehr geschickt in der Übung, ein Wort, dessen Sinn sie nur vage erfaßt haben, immer wieder sich vorzusagen, um es in sich selber schwingen zu lassen. Kafka erzählt, wie er als Kind einen Ausdruck des Vaters sich immerzu vorsagte („der Letzte“, „der Letzte...“), um ihn freizusetzen – eine Linie des Nicht-Sinns.“551

Das Ich stolpert in diesem Gedicht über das „Schild ‚Dachau‘“ und findet weder einen Sinn für die Bezeichnung noch eine Antwort auf seine Sinnsuche: Auch „die Antwort ‚fallen‘“ – wie „der Regen“ –

„auf die Autobahn.“ So wie das Ich in diesem Gedicht keine Position findet, die ihm sinnvoll erscheint, so wie sich ein Sinn der Umgebung dem Ich nicht erschließt, ergab die Anwesenheit Boleslavs in Deutschland für sie – immer wieder – keinen Sinn. Boleslav selber hat diese Empfindung auch Jahre

551 Deleuze & Guattari, 2012, S. 31

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später, nachdem sie bereits mehrere Male in Deutschland gewesen war, in einem Brief an eine israelische Freundin zum Ausdruck gebracht. Am 11. Juni 1976 schrieb sie an Frieda Hebel:

„Und dann sitzt Du, noch einsamer und es bleibt ein Väschen mit Vergissmeinicht, vor denen ich jetzt sitze in einer hübschen Wohnküche und ein schwarzer hässlicher Hund liegt unterm Tisch, aus dem Radio eine „deutsche Stimme“. Ich besuchte auch Dachau, das Blut der Opfer hat man längst ‚weggewaschen‘ – die Besucher gehen hier herum, als gehöre diese ‚Geschichte‘ ins Mittelalter.“552

Um nun schließlich die Frage danach zu beantworten, ob dieses Gedicht als eines der Neuen Subjektivität bezeichnet werden kann, greife ich zum Vergleich noch einmal auf die Lyrik Rolf Dieter Brinkmanns zurück. Auch bei Brinkmann ist häufig ein Ich zu beobachten, das den Versuch unternimmt, sich außerhalb der deutschen Gesellschaft zu verorten. Und doch gibt es in der Art und Weise, in der Innen und Außen konstruiert werden, signifikante Unterschiede. Das Verhältnis zur Gesellschaft ist bei Brinkmann und den anderen Vertreter_innen der Neuen Subjektivität von einem eher rebellenhaften Ankämpfen gegen die Ödnis der Bundesrepublik geprägt. Ödnis, Leere, Spießertum stehen im Fokus, weniger eine gezielte Auseinandersetzung mit den Gräueltaten des Nationalsozialismus, auch wenn die Adenauer-Ära und die 1960er und 1970er Jahre kaum ohne den Rückblick auf den Nationalsozialismus zu verstehen sind. Dieses Verhältnis beschreibt beispielsweise ein Auszug aus einem Brief von Brinkmann, vom 3. Juni 1974:

„heute ist ein ganz mieser Tag draußen, bleich und regnerisch, und dazu noch einer dieser absolut öden, verwahrlosten Feiertage auf deutsch, nämlich der 2. Pfingsttag, wo die ganze Öde der Umgebung und des sonstigen alltäglichen Lebens der Bundesrepublik und der deutschen Mentalität zum Vorschein kommt, so verrottet doof und brav-bürgerlich, das einem ganz schlecht werden kann, macht man die Augen auf, weil die Umgebung nur noch aus diesem elenden Kram besteht.“553

Dieses alltägliche Leben der Bundesrepublik, die „Öde“ und „brave Bürgerlichkeit“ der deutschen Mentalität, stellt für viele der Gedichte der Neuen Subjektivität den Bezugsrahmen dar.

Dementsprechend positioniert sich auch das Ich in Brinkmanns Ihr nennt es Sprache in Abgrenzung zu dieser Gesellschaft. Es kennt die sich wiederholenden Riten („die Dorfmusik zwischen den Wiesen“

und die „Bibelzitate“) und das sich damit perpetuierende Vergessen. Es versucht, sich möglichst autonom von dieser Gesellschaft zu positionieren, aber selbst – oder vielleicht gerade – in seiner größten Rebellion bleibt es Teil dieser.

Boleslav als empirische Autorin verortet sich wie auch das Ich des Gedichts außerhalb dieser Gesellschaft. Die Diskrepanz der Positionen wird Boleslav auffälligerweise immer wieder in Wirtshäusern und in Biergärten bewusst. So stellt sie im Brief an einen Freund das „zufriedene[s]

Sein“, „durchtränkt von Bier und Schweinebratenduft“, ihrer eigenen Fremdheitserfahrung, der

552 Hebel & Boleslav, o.J.

553 Brinkmann, 1999, S. 7

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„Israelin in diesem Wirtshaus“, gegenüber. In einem Manuskript mit autobiografischen Notizen schreibt sie rückblickend auf einen Aufenthalt in München:

„Als ich im Jahre 1977 wieder in München war und mit bekannten in einem Biergarten sass, war es nicht das erste Mal, dass ich das trinkende, wohlgenährte, gutgelaunte deutsche Volk 35 Jahre nach dem zweiten Weltkrieg und den Mordtaten, beobachtete. Doch diesmal, an diesem schwülen Sommerabend, unter einem klaren sternelosen Himmel, erfasste mich ein Grauen, vor diesen Fressenden und Saufenden Alten. Das kam über mich so plötzlich, als hätte ich vorher nicht gewusst, und war mir nicht bewusst, was hier auf diesem Boden geschah. Und heute stelle ich mir die Frage, wie konntest Du so viele Jahre hindurch in dieses Land fahren, vor diesem Volke stehen und lesen, ihnen etwas schenken, das sie nicht wehrt sind – Du, Du, hast vergessen, dass Deine Eltern, Dein Bruder durch dieses Volk ums Leben kamen? Was fängt eine israelische deutschschreibende Autorin an, wenn ihr Denken in eine Sackgasse gerät, die Vergangenheit mit den Mordtaten aus der Hitlerzeit auf´s neue in ihr entsteht?“554

Boleslavs Gedicht mit seiner Thematisierung von Täter_innen und Opfern und der Thematisierung der Shoah kann somit als eine – sehr allein dastehende – jüdisch-israelische Version Neuer Subjektivität in Deutschland verstanden werden.