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5 Analyse der Ich-Konstruktionen in der Lyrik von Aloni und Boleslav

5.3 Ich-Artikulationen und die säkular-israelische Stadt

5.3.1 Alonis Lyrik über die Stadt

Für die empirischen Autor_innen Jenny Aloni und Netti Boleslav stellt Tel Aviv, im Gegensatz zu Jerusalem, eine Stadt des Alltags dar. Jenny und Esra Aloni sind 1952 nach Ramat Gan, einen Vorort von Tel Aviv gezogen. 1957 zogen sie in einen anderen Vorort von Tel Aviv, Gane Yehuda. Zum thematischen Gegenstand wird die Stadt allerdings nur in einem ihrer Gedichte: Auf dem Omnibusbahnhof.

Auf dem Omnibusbahnhof

Mit seinem Titel verweist das Gedicht279 auf einen Raum, der einen städtischen Kreuzungspunkt für die Mitglieder der israelischen Gesellschaft darstellt: der Omnibusbahnhof. Aloni vermerkt Zeit und Ort der Entstehung des Gedichts: „Tel Aviv 5. 8. 1949“. Mit diesem Ort, dem Omnibusbahnhof in Tel Aviv 1949, hat Aloni einen urbanen Raum gewählt, der das städtische Dasein auf die Spitze treibt: Es ist ein Ort der Massenansammlung, ein Ort hohen Tempos, der Unbehaustheit und Durchreise. Die Wege der unterschiedlichsten Menschen kreuzen sich hier, Menschen mit divergenten Lebensläufen und Erfahrungen, aus unterschiedlichen sozialen Schichten und verschiedener Herkunft. Ein Ort der Masse, die zwar aus unterschiedlichsten Individuen besteht, die aber in einem Strom

„zusammengeschmolzen“ sind, und in dem „nur die Blicke noch gesondert sind“, wie es in dem Gedicht heißt. In dem Prosastück Das Brachland lässt Aloni die Ich-Erzählerin auf die Suche nach dem Kern der Stadt gehen:

„Ich gehe. Ich höre und sehe. Ich zeichne auf wie Photoapparat und Tonband. Doch nur skizzenhafte Bilder entstehen. Ich muß zum Kern vordringen, wenn ich die Stadt begreifen will.

Hochstöckige Häuser? Firmenschilder? Lichtreklamen? Bettler, Schmuggler, Dirnen, Schwarzhändler, Existenzen, die sich – wie ich selber – an der Peripherie bewegen, bezeichnen

277 Grözinger, 2009, S. 72, 75

278 Alle Zitate: Schlör, 2005b, S. 50f.

279 Aloni, 1995, S.24

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gerade sie den Kern der Stadt? Wie kann ich es wissen, wie die Wahrheit ausfindig machen, wie erfahren, ob es nur einen Kern oder viele gibt?“280

Dem Ich des Brachland ganz ähnlich, begibt sich auch das Ich des Gedichts Auf dem Omnibusbahnhof auf die Suche nach dem „Kern der Stadt“. Das Ich versucht auch in diesem Gedicht, in die Massen hineinzuzoomen, ihnen auf den Grund zu gehen. „Photoapparat und Tonband“281 aber reichen dafür, wie auch im Brachland, nicht aus. Denn wenn es darum geht, zum Kern der Stadt vorzudringen, dann geht es auch darum, die Momente jenseits des Offensichtlichen und Hörbaren einzufangen:

„Vielleicht ist es unmöglich, die Stadt von außen zu erkennen, vielleicht muß man, um sie zu begreifen, ihren Rhythmus zu dem seinen machen, sie erschauen, erriechen, ihr Fluidum in den Fingerspitzen pulsieren fühlen.“282

Was das Ich des Brachland hier vermutet, gilt auch für das Ich des Gedichts. Mit der Vermutung, dass es unmöglich sein könnte, „die Stadt von außen zu erkennen“, unternimmt es den Versuch, den Rhythmus der Stadt „zu dem seinen zu machen“. Dabei stellt sich das Ich an eine Position, die an die einer Fremdenführer_in erinnert. Wie auch in dem weiter oben behandelten Gedicht Nach der Ankunft in Israel arbeitet die sprechende Person mit auffälliger Deixis. Im Zentrum des Gedichts steht weniger das Ich als vielmehr „der Strom der großen Menschenaugen“, der „aus Grelle zu den Schatten strebt“. Das jambische Versmaß und der anaphorische Stil mit seinen deiktischen Verweisen „Da sind sie“ produzieren Schnelle, nahezu Gehetztheit, die das Ich in dem Versuch darstellen, den Menschenströmen zu folgen und damit die Stadt und ihre Sozialstruktur zu verstehen.

Das Fremdenführer_innen-Ich nimmt dabei eine Zwischenposition ein. Es scheint sich zwischen die Fremden auf der einen Seite – als Adressatinnen denkbar wäre etwa die deutsche Leser_innenschaft – und die Einheimischen, auf die es verweist, auf der anderen Seite zu stellen. Im Jahr 1949 war Aloni sich bereits viel stärker eingelebt als dies zehn Jahre zuvor der Fall gewesen war. Das Fremdheitsgefühl konnte sie immer häufiger überwinden. Sie hatte bereits Zeit, sich das Land Israel, seine Natur und seine Menschen, genauer anzusehen. Es scheint, als liefere sie in diesem Gedicht Auf dem Omnibusbahnhof auch ein Zwischenergebnis zu ihrer Wahrnehmung der Tel Aviver Sozialstruktur.

Um die Sozialstruktur und die Stadt zu ergründen, geht sie über den Außenblick hinaus und in

„Rhythmus“ und „Fluidum“283 der Stadt hinein. Die Individuen, die zunächst im „Strom der großen Menschenaugen“ zu einer Einheit verschmolzen scheinen, werden dabei wieder aus ihrer vermeintlichen Gleichheit geholt. Ab Vers sieben zoomt das Ich in die Masse von Menschen, allerdings zoomt es nicht auf Äußerlichkeiten. Es geht mit seinen Blicken über fotografieähnliche hinaus. Das Ich zoomt in die Empfindungen der Menschen und in ihre emotionalen Regungen. Aus dem Kollektiv-Sie werden dabei drei Gruppen von Menschen.

280 Aloni, 1990, S. 53

281 Aloni, 1990, S. 53

282 Ebd., S. 53

283 Beide Zitate: Aloni, 1990, S. 53

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„[S]ie, die an jedem Tage / ganz wie in einer Kapsel sich bewegen“ stellen die eine Gruppe dar.

Zielstrebigkeit und Erfolg kann mit dieser Kapsel-Metapher genauso verbunden werden wie Fühllosigkeit und Abgetrenntheit von der Welt. Für „andere“ wiederum ist der Tag „stets erneut / nur Vorraum […] zu dem wahrhaft´gen Leben“. Mit dieser Formulierung taucht der Diskurs um Religion auf. Die Frage nach dem Jenseits und der Existenz von Paradies und Hölle taucht auf, Assoziationen zu den religiösen Mitgliedern der israelischen Gesellschaft erscheinen. Der Fokus dieser zweiten Gruppe, der Anderen, ist in die Zukunft gerichtet. Diesen Anderen werden antithetisch „jene“ entgegengestellt, deren Blick in die Vergangenheit gerichtet ist: „und jene sind, die nicht vergessen dürfen, / die jeder Augenblick da wiederum / durch Feuerhöllen ihres Gestern peitscht.“ Mit dem Blick in die Vergangenheit stehen sie im Widerspruch zu der ins Jenseits ausgerichteten vorhergehenden Gruppe.

Die Formulierung der „Feuerhöllen“ – unschwer als Verweis auf die Verbrennung der Jüdinnen und Juden in den Krematorien der Konzentrationslager zu erkennen – kann hierbei auch als Widerspruch zu dem „wahrhaft´gen Leben“ des Jenseits begriffen werden. Denn die Hölle ist für die Holocaustüberlebenden, die in jedem Augenblick mit ihrer Vergangenheit, ihren „Feuerhöllen“

konfrontiert werden, grausame irdische Wirklichkeit geworden. Als transzendentales Konzept ist das Jenseits damit desavouiert worden. So stehen sich mit den hier geschilderten Gruppierungen verschiedene Identitäten mit unterschiedlichen Erfahrungen und unterschiedlichsten Bezugnahmen auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegenüber.

Die Entstehungszeit des Gedichts fällt in den Zeitraum der ersten Generation der Sabres-Erzähler, der Dor HaMedina, der „Generation des Staates“ bzw „1948er-Generation“.

„Die erste Generation der Sabra-Erzähler, die später als die 1948er Generation bezeichnet werden sollte, da für sie der Unabhängigkeitskrieg eine prägende und wichtige historische Erfahrung gewesen war, drängte in die hebräische Literatur. An ihrer Spitze stand S. Yishar (*1916) [...]

Während Yishars lyrische Prosa der Tradition des Bewusstseinsstroms nahe steht, zogen die meisten seiner Zeitgenossen den realistischen Stil vor. Bei allen standen jedoch die kollektiven Erfahrungen im Vordergrund; gesprochen wurde in der ersten Person Plural (so lautet der Titel eines Romans von Nathan Shacham aus dem Jahr 1968.“284

Aloni, obgleich Zionistin, so doch als deutschsprachige Schriftstellerin und kritische Intellektuelle auch weiterhin in einer Position der Außenseiterin, bricht mit diesem Gedicht dieses Kollektiv-Wir auf. Statt wie die Dor HaMedina auf den „israelischen Helden als Pionier, der das Land bebaut“ zu fokussieren und „unkritisch die Ideale des Zionismus […] als endgültige (Er-)Lösung“285 darzustellen, rückt Aloni die Pluralität der israelischen Gesellschaft ins Blickfeld. Das Ich des Brachlands erinnert zuweilen an diese Position Alonis.

„Jetzt, selber eine Wurzellose, begegne ich ihnen [den Außenseitern, Anm. J. P.] überall, in den Elendsvierteln genauso wie in den Straßen der luxuriösen Appartments. Ich erkenne sie, auch wenn sie sich verstellen, ihr Verlorensein mit gekünstelter Zuversicht maskieren und Zugehörigkeit

284 Feinberg, 2005b, S. 14

285 Ebd.

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simulieren. Andere mögen sie düpieren mit Genossenschaft, die es nicht gibt, doch nicht für mich, die ich selber heimatlos und einsam bin.“286

In dem Gedicht nimmt Aloni damit Verschiebungen voraus, die sich nach Shaked in der hebräischen Literatur erst Mitte der 1950er Jahre vollziehen. Während in den 1940er und Anfang der 50er Jahre noch die sogenannte „Genreliteratur“ 287 und damit eine Heroisierung der Pioniere und Thematisierung der landwirtschaftlichen Kollektive dominieren, erfahren die in der Literatur entwickelten Heldengestalten Mitte der 1950er Jahre einige Veränderungen:

„Ab Mitte der fünfziger Jahre erweitert die junge hebräische Literatur ihren Horizont und nimmt neue Themen und Heldengestalten auf; damit bricht das bisherige Heldenstereotyp zusammen.

Autoren wie [...] Aharon Appelfeld [...] Jehuda Amichai, [...] Amos Oz, Yoram Kaniuk [...] öffneten ihre Werke für so neue Themen wie das deutsche Judentum, die jüdische Jugend in Polen während der Schoah, die Überlebenden der Schoah in der Diaspora und in Erez Israel und jüdische Immigranten in anderen Ländern. Nun gab es kaum noch einen Aspekt der israelischen oder jüdischen Existenz, den diese Autoren nicht beleuchteten, und sie ähnelten darin ihren Schriftstellerkollegen früherer Generationen, die ebenfalls auf Figuren aus all diesen Kreisen zurückgreifen. Diese Autoren lösten ihr Augenmerk immer mehr vom Zentrum der israelischen Gesellschaft und wandten sich Randgruppen und Randerscheinungen zu, bis sich das gesamte Bild umgedreht hatte: die typische Umwelt der Chaluzim, der Kibbuz, die landwirtschaftliche Siedlung und das kleine Tel Aviv verschwanden und machten Platz für ganz unerwartet neue Ecken und Winkel. Die neuentdeckten verschiedenen Schichten der israelischen Gesellschaft waren ganz anders als die uniformen, ‚aus dem Meer geborenen‘ Gestalten, die bisher ihre Werke bevölkert hatten.“288

Gerade mit der Thematisierung der Überlebenden, „die jeder Augenblick da wiederum / durch Feuerhöllen ihres Gestern peitscht“, stellt Aloni sich – lange vor dem Eichmann-Prozess, der auch bisher verdrängte Aspekte ins israelische Bewusstsein holte – einem heroisierend-zionistischen Ideal entgegen. Dabei steht nicht die Frage nach dem Ziel der Reise der Individuen im Zentrum, sondern vor allem die Anerkennung der pluralen Lebensentwürfe und Welten der Individuen dieser Gesellschaft am Omnibusbahnhof. „In ihnen sind es ungezählte Welten“ lautet der letzte Vers des Gedichts, der auch als Resümee gelesen werden kann. Das Ich unternimmt hier den Versuch, auf die Pluralität der sich am Omnibusbahnhof versammelnden Identitäten hinzuweisen und allein durch den Kampf um Anerkennung dieser Pluralität den unterschiedlichen Menschen ein Stück Ich-Sein zu ermöglichen.

In ihrem Roman Brachland ist das Ich zu einer Außenseiterin in einer Stadt von ebenso Verlorenen geworden. Liest man Roman und Gedicht parallel, so scheinen Positionen und Sozialstruktur der

286 Aloni, 1990, S. 54

287 Gershon Shaked versteht unter „Genreliteratur“ die Literatur, die aus den vielen möglichen Aspekten Erez Israels nur die aufgreift, die in ihr ideologisches Weltbild passen: „Dazu gehören ein eigenes Idealbild des Chaluz, klare Verhaltensregeln und gesellschaftliche Moralvorstellungen, die sich durch die Gegensatzpaare von pionierhafter Verwirklichung des Ideals gegenüber dem Aufgeben des zionistischen Anspruchs, Dorfleben gegenüber Stadtleben, körperlicher Arbeit statt Handel, Arbeiter- und Bauernstand statt Maklertum beschreiben lassen. Diese Normen schufen einen übergeordneten zionistischen Mythos von der Besiedlung des Landes.“ (Shaked, 1996, S. 152)

288 Shaked, 1996, S. 234

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beiden Texte vergleichbar. In der Position als Außenseiter_in werden die anderen Außenseiter_innen erst sichtbar, in einer Stadt, in der es „legitime[n] Bürger“ gibt und die „Verlorenen der Stadt“289:

„Nicht ich allein gehöre zu den Verlorenen der Stadt. Ich begegne ihnen täglich. Mit einem sechsten oder siebten Sinn für meinesgleichen erspüre, erfühle ich sie. Irgendeine Geste verrät sie, der Tonfall eines Wortes, ihre Art zu gehen, eine plötzliche Bewegung, ihr Geruch. Besonders an den Augen erkenne ich sie, die wie ich am Rande existieren, geduldet, doch nicht zugehörig. So sehr sie sich auch unterscheiden mögen, alle tragen sie das Mal der Heimatlosen, das nur für ihresgleichen sichtbar wird. Eine Loge also, ein Orden, in dem einer für den anderen eintritt. Wie falsch gedacht. Verlorene kennen keine Bruderschaften, keinen Gefährten außer dem eigenen Schatten und ihr sich selbst verspottendes Doppel-Ich.“290

Innerhalb des Gedichts gibt es genauso wenig wie im Brachland eine Perspektive der Zugehörigkeit.

Auch hier sehen sich die Menschen nicht an, schauen alle „denselben Autobus, das gleiche Bild“; es gibt keine „Bruderschaften, keinen Gefährten“291. Das Ich aber versucht, die Welten in den Individuen zu ergründen. Es unternimmt so den Versuch, auf die „Verlorenen“ aufmerksam zu machen und so den Anfang zu setzen, um Fremde und Vereinzelung zu überwinden.

So sehr dieses Gedicht in seiner Problematik im Israel Ende der 1940er Jahre verwurzelt ist, so weist es gleichzeitig Referenzen zur expressionistischen Großstadtlyrik auf. Mit seiner Thematisierung der Vereinzelung in den Menschenmassen der Großstadt, der Anonymität und Vermassung greift es auf zentrale Topoi expressionistischer Großstadtgedichte zurück. Allerdings geht es hier nicht allein um die Thematisierung der Anonymität und der Vermassung in einer (Groß-)Stadt, sondern um ganz spezifische – israelische – Bedingungen, denen die Individuen ausgesetzt sind und die von religiösen Fragen bis zur Erfahrung der Shoah reichen. Indem sie die Diversität und Pluralität israelischer Gesellschaft darstellt, setzt sie einem hegemonialen israelischen Narrativ, das der israelische Literaturwissenschaftler Hannan Hever in einem Aufsatz unter dem Titel Mapping Literary Spaces292 aufzeigt, eine eigene Version entgegen. Hever beobachtet die Tendenz über „the Jewish people“293 als Einheit zu sprechen und damit eine Gruppe, die durch Diversität und Heterogenität gekennzeichnet ist, „into a single unified body“294zu transformieren.Dieses Gedicht von Aloni bildet die Spannung ab, in der sich die sich in Israel bewegenden Individuen – zwischen Pluralität und Einheit – bewegen. „Sie alle schauen […] das gleiche Bild“, aber in „ihnen sind es ungezählte Welten“. Damit stellt dieses Gedicht auch das zionistische Metanarrativ in Frage, das die Literatur Israels rund um die Staatsgründung dominierte.

289 Beide Zitate: Aloni, 1990, S. 53f.

290 Ebd.

291 Ebd.

292 Hever, 2000

293 Ebd., S. 203

294 „But one thing remains constant in these two narratives, as in all Yizhar´s writings – and in all state-era writing.

This constant is the space of Eretz-Israel-Palestine as a recurrent turning point in the basic Israeli identity narrative. Time and again in Israeli literature we encounter variations on a basic narrative about a people, the Jewish people, said to possess a shared past rooted in a common origin. In this narrative, a group, the Jewish people, marked by diversity and heterogenity, is transformed into a single unified body.” (Ebd.)

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