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5 Analyse der Ich-Konstruktionen in der Lyrik von Aloni und Boleslav

5.2 Ich-Artikulationen und die Stadt Jerusalem

5.2.1 Boleslavs Lyrik über Jerusalem

Im Folgenden wird das Verhältnis zwischen Ich und Jerusalem anhand dreier Gedichte Boleslavs untersucht. In dem 1965 erschienenen Gedichtband Der Weg ist tausend Schlangen weit sind drei Gedichte veröffentlicht, die mit dem Titel Jerusalem versehen und nummeriert sind, so dass die Titel Jerusalem (I), Jerusalem (II), Jerusalem (III) entstehen. Diese drei Gedichte werden im Folgenden als Trilogie verstanden. Auf drei verschiedene Weisen nimmt hier ein Ich eine Vernähung mit dem Topos Jerusalem vor, damit einher geht eine jeweils unterschiedliche Ich-Konstruktion. Gleichwohl durchzieht die Trilogie ein Spezifikum: Die Transzendentalität des Verhältnisses von Ich und Jerusalem.

Jerusalem (I)

„Jerusalem, deine Steine haben Stimmen / ich höre deine Erde rufen“ – so beginnt das erste Gedicht der Trilogie unter dem Titel Jerusalem (I)221. In den folgenden Versen wird die symbiotische Beziehung zwischen Jerusalem noch verstärkt und erhält erotische Züge. Das Ich ist nahezu be-„rauscht“ vom

„Klang“ der „Glocken“, sein „Leib“ ist „feucht / vom Morgentau“ der Berge Jerusalems. Ekstatisch ist der Zustand, in dem sich das Ich in diesem Gedicht in seiner Liebe zu Jerusalem befindet. Ein Ich, das

219 Pazi, 1981a, S. XX

220 Boleslav, 7.8.1989

221 Boleslav, 1965, S. 48

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mit Haut und Haaren Jerusalem verschrieben ist, schildert diese Empfindungen in einer Collage synästhetischer Empfindungen. Das Ich nimmt sich vor allem über Körperempfindungen wahr, die in dem Moment der Vernähung mit Jerusalem aktiviert werden. Es ist „deine“ – Jerusalems – Erde, die ruft, es ist der „Morgentau deiner Berge“ und „aus deinem Kelche“ trank das Ich „den Saft/ der Liebe“

in sich ein. Jerusalem wird zum Fixpunkt des Daseins des Ichs und zu einem als absolut gesetzten Objekt der Begierde. Besonders deutlich wird die Imagination von symbiotischer Beziehung in der Verbwahl „eintrinken“. Das Ich versucht, Jerusalem im wahrsten Sinne des Wortes zu verinnerlichen und einzuverleiben.

Das hier skizzierte Verhältnis zwischen Ich und Jerusalem lässt im Gegensatz zu Pazis eingangs zitierter These nicht darauf schließen, dass Jerusalem nicht mehr als Symbol sondern als konkreter Begriff der Nähe wirkt. Die Transzendentalität des Verhältnisses lässt vielmehr an kulturzionistische Strömungen denken. Der Kulturzionismus entfaltete in der Diaspora in den ersten Jahrzehnten des 20.

Jahrhunderts seine größte Wirkung. Das vorliegende Gedicht wurde einige Jahrzehnte und zahlreiche historische Brüche von großer Tragweite später verfasst. Und dennoch erfährt das Konzept der geistig-transzendental-körperlichen Bindung an Jerusalem keine Modifikation, die erkennbar machen würde, dass der Ort, von dem aus über Jerusalem geschrieben wird, ein signifikant anderer ist. Der Zeitpunkt der Entstehung könnte um 60 Jahre zurückdatiert und in die Zentren der kulturzionistischen Bewegung im deutschsprachigen Raum verlegt werden, ohne dass Unstimmigkeiten sichtbar würden.

Ist das Gedicht Jerusalem (I) nur ein anachronistischer Ausdruck einer Sehnsucht nach Jerusalem oder ist in dem Gedicht noch etwas verborgen, das das Gedicht in Zeit und Ort seiner Entstehung verortet?

Um diese Frage zu beantworten, soll ein genauerer Blick auf das Verhältnis zwischen Ich und Jerusalem geworfen werden.

Die physischen Begegnungen, die zwischen Ich und Jerusalem gezeichnet werden, bleiben nicht rein körperlicher Natur, sondern werden in dem Gedicht transzendiert und auf eine geistige Ebene gehoben. Die Erinnerung „an euch Stunden, / die ihr ohne Uhr und ohne Zeiger wart“ erscheint in einem Raum außerhalb von Zeit und Raum. Den physischen Glücksgefühlen, die das Ich in seiner symbiotischen Beziehung zu Jerusalem beschreibt, liegt eine geistige Basis zugrunde.

Diese geistige Basis steht im engen Zusammenhang mit der literaturhistorischen Rolle Jerusalems. In der rabbinischen Literatur wie in kabbalistischen Werken wird Jerusalem als Ort der Schechina betrachtet. In der rabbinischen Literatur wird die Schechina noch als eine der vielen Benennungen Gottes verwendet, die an die Stelle der Eigennamen Gottes in der Bibel traten. Das Wort beinhaltete einen besonderen Bezug auf das Wohnen der göttlichen Macht in Jerusalem und inmitten des Volkes Israel.222 Im frühen Mittelalter fand ein Wandel in dem Begriffsverständnis statt. Die Schechina wurde von Gott selbst unterschieden und wurde – in der kabbalistischen Tradition des frühen Mittelalters – zu einer von Gott geschiedenen Kraft, die menschliche Züge haben kann (während es untersagt war, Gott selber diese menschlichen Züge zu geben). Hauptziel der kabbalistischen Rituale – dies ist

222 Vgl. Dan, 2007, S. 67ff.

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entscheidend für die Interpretation des Gedichtes Jerusalem (I) – war es, mit der Schechina in Berührung zu kommen. Unter Berücksichtigung dieses literaturhistorischen Hintergrunds kann das Gedicht als Versuch der Annäherung an die Schechina verstanden werden, als Annäherung an die göttliche Kraft Jerusalems.

In Boleslavs Jerusalem (I) wird der Körper zum Instrument für die auch erotisch zu verstehende Berührung mit dem Göttlichen. Ich und das Du Jerusalem werden in ein persönliches Spannungsverhältnis von geistiger und lustvoll-körperlicher Sphäre gestellt. Mit dieser Kombination von Diskursen verweist dieses Gedicht auf ein bestimmtes Umfeld, in dem diese Diskurse zeitgleich erschienen und diskutiert wurden: die Stadt Prag Anfang des 20. Jahrhunderts und den Prager Kreis.

Die Stadt Prag fungierte seit Anfang des 20. Jahrhunderts als Bindeglied zwischen Ost- und Westjudentum, zwischen Chassidismus und Haskala, zwischen Jüdischer Renaissance und Moderne.

Dichter des Prager Kreises wie Brod und mit dem Kreis Assoziierte wie Georg Langer beschäftigten sich hier mit den Zusammenhängen zwischen Judentum, Erotik, körperlicher Liebe und Göttlichkeit.

Boleslav war über Max Brod mit der literaturhistorischen Tradition des Prager Kreises verstärkt in Kontakt gekommen. Boleslav, etwa vierzig Jahre nach Brod geboren, verbrachte einige Monate ihrer Jugendzeit im Prager Exil und fand später in Israel in Max Brod ihren Mentor. 1966 schrieb Boleslav über ein Gespräch mit Max Brod in ihrem Tagebuch:

„Auf dem Wege zum Autobus. Ein Gespräch über das Hohelied Salomo, die Göttlichkeit im Lied, das Göttliche in der sexuellen Liebe. – ‚Ich sehe die Erotik als etwas göttliches, doch habe ich keinen Partner gefunden‘, sagte ich zu M.B [Max Brod, Anm. J. P.]. Daraufhin antwortete er prompt: ‚Und deshalb schreibt man ja.‘“223

In seinem Werk Heidentum, Christentum, Judentum von 1922 hat sich Brod intensiv mit der Verbindung zwischen Göttlichkeit und körperlicher Liebe auseinandergesetzt. In seiner Auffassung stehen im Judentum Diesseits und Jenseits nicht im krassen Gegensatz zueinander, genauso wenig wie körperliche und geistig-heilige Sphäre und damit auch nicht die körperliche und geistige Liebe. Brod verweist hierfür etwa auf das Hohelied, das reich sei an erotisch-körperlichen Liebesbekundungen.224 In Heidentum, Christentum, Judentum schreibt Brod:

„Es ist die ungeheure, die Jahrtausende durchstrahlende Tat des Judentums, in der Liebe, und zwar nicht in irgendeiner ihrer spiritualen Verdünnungen, sondern im direkten Ergriffensein von Mann

223 Boleslav, o.J.i, Eintrag vom 2. Januar 1966

224 „Mit dieser Erkenntnis [dass alles Liebe sei] stellt das ‚Lied der Lieder‘ den Höhepunkt, den kostbarsten Besitz des Judentums und der Menschheit überhaupt dar. Hier fassen wir den geheimnisvollen Talisman, der das Judentum durch die Jahrtausende vor Erstarrung bewahrt hat, – von hier aus wird auch die Renaissance des Judentums, ich meine nicht eine politische Bewegung, sondern das Wiederschöpferischwerden jüdischen Geistes einsetzen.“ (Brod, 1922, S. 16f.)

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und Frau das Diesseitswunder, die reinste Form dieser Gottesgnade, ‚Die Flamme Gottes‘, erkannt zu haben.“225

Diese Zeilen verweisen in ihrem Gestus auf ein Werk von Georg Langer – Die Erotik der Kabbala, das in dem oben beschriebenen Prager Klima Anfang des 20. Jahrhunderts im Jahr 1924 entstanden ist.

Mehrere Jahre hatte Langer in Ostgalizien bei dem „Wunderrabbi von Belz“226 ein Studium der Kabbala und des Chassidismus betrieben. Als frommer Chassid nach Prag zurückgekehrt, wurde Langer für die Freunde Brod und Kafka zum Mentor, der ihnen die lustbetonten, vermeintlich ursprünglich-jüdischen Lehren des Chassidismus und der Kabbalistik sowie die hebräische Sprache nahebrachte. 227 Gleichzeitig kam Langer in Kontakt zu Freuds Theorien und verband daraufhin in der Erotik der Kabbala kabbalistisch-chassidische Theorien mit den Methoden der Psychoanalyse. Durch die Einbeziehung des Hintergrunds von Langers Werk erhält die Interpretation der symbiotischen Verschmelzungsphantasien des Ichs in diesem Gedicht wichtige Impulse. Langer analysiert die Verbindung zwischen Erotik und Gottesnähe in jüdischer Tradition auf der Basis der Bibelstelle Lev.

19. Der Mensch, so argumentiert Langer, werde Gott in der jüdischen Denktradition würdig, wenn auch der Mensch versuche – so wie Gott – eins zu sein.228 So stellt Langer die Frage: „Und wann wird der Mensch ‚Eins‘ genannt?“, um sie mit dem Hinweis auf körperliche Liebe zu beantworten: „Wenn sich Mann und Frau in geschlechtlicher Vereinigung befinden...“229 Diese Verbindung – die geschlechtliche Vereinigung auf körperlicher wie geistiger Basis mit Jerusalem wird zur Bedingung für die Nähe zu Gott. In dem Moment, in dem sich das Ich zurückerinnert an den irdischen und körperlichen Akt der geschlechtlichen Vereinigung von Ich und personifiziertem Jerusalem, stellt es diesen Akt in den Dienst des Göttlichen und ruft eine Imagination der Eins-Werdung von Ich und Jerusalem als Wohnort Gottes hervor.

Greift man auf die eingangs aufgeworfene Frage zurück, ob der Bruch von einem diasporischen Blick auf Jerusalem hin zu einem realen Jerusalem der Nähe, in den Gedichten sichtbar wird, so ist der Frage hier nur mit einer dialektischen Antwort zu begegnen. Gerade mit der Betonung eines persönlich-geistigen Verhältnisses zu Jerusalem steht das Gedicht der Bewegung des Kulturzionismus nahe – einer Bewegung, in der Jerusalem vor allem als geistiges Zentrum und weniger als politisches Zentrum betrachtet wird. Weniger die Frage nach einer politischen und geografischen Heimstätte der Juden interessiert den Kulturzionismus als vielmehr die Frage nach einer gemeinsamen jüdischen Identität auch in der Diaspora. Das im Gedicht beschriebene Verhältnis, die Eins-Werdung mit Jerusalem im kollektiven und gleichzeitig privaten Raum, gleicht einem Zustand, den Else Lasker-Schüler als

„Zustand: Jerusalem“230 beschreibt. Im Hebräerland stellt sie ihren – später von ihr selbst

225 Brod, 1922, S. 11

226 Um sich mit der chassidischen Lehre vertraut zu machen, wandte Langer sich an einen der führenden Köpfe des Chassidismus, den sogenannten Wunderrabbi von Belz, Jisúchr Bér Rokach. Vgl. (Koschmal, 2010, S. 10

227 Zu Verbindungen zwischen den Werken Georg Langers, Max Brods und Franz Kafkas vgl. auch Möbus, 1994.

228 Langer, 1923, S. 19

229 Langer, 1923, S. 19

230 Lasker-Schüler, 2002, S. 229

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entzauberten – Mythos Jerusalem dar. Jerusalem ist hier für sie vielmehr allgegenwärtig, eine heilige Kraft. Im ersten Entwurf zum Hebräerland schreibt sie:

„Jerusalem bildet sich und baut sich auf hingezaubert – wo auch, in welchem Lande – auch oft durch ein einziges heiliges reines Wort. Es versetzt, wie oft eine Gemeinde ein paar sich findende Menschen um einen Tisch zwischen den Tischen er sich auch befindet, in den Zustand:

Jerusalem.“231

In den frühen Gedichten Else Lasker-Schülers – und eben auch in der Jerusalemtrilogie Boleslavs – finden sich

„Referenzen auf Jerusalem als Objekt einer eher unbestimmt formulierten Sehnsucht […] sowie eine um den Begriff des ‚Bluts‘ und den Erneuerungsdiskurs des Jugendstils kreisende Rhetorik“232.

Einige von Lasker-Schülers frühen Gedichten, etwa Sulamith und Das Lied des Gesalbten, erschienen im Jahr 1901 in der kulturzionistisch ausgerichteten jüdischen Kulturzeitschrift Ost und West233. Der

„Zustand: Jerusalem“, die Sehnsucht aus der Ferne, das sich somatisierende Nähegefühl, das sich in Jerusalem wie auch in der Diaspora herstellen ließe, ist durchdrungen von kulturzionistischem Denken – wie auch das Gedicht von Boleslav: Jerusalem als Hauptstadt Israels spielt hier keine Rolle, vielmehr wird die Frage nach der emotionalen und geistigen Bindung des Ichs an ein jüdisches Kollektiv gestellt.

Die Antwort darauf erinnert an Martin Bubers Konzept einer „geistige[n] Macht“, die er als Grundlage für ein dauerndes „jüdisches Gemeinwesen“234 betrachtet:

„Nur wenn es [das jüdische Gemeinwesen, Anm. J. P.] eine geistige Macht wird, wird es dauern.

Eine geistige Macht; das bedeutet nicht intellektuelles Niveau und nicht kulturelle Leistung. Es bedeutet vielmehr Realisierung des Geistes, der in den Völkern als Leid, als Erbitterung, als Empörung, als Sehnsucht, als Wunschgebilde lebt, aber nicht zur Gestalt gerät, weil das Reich des Übels um die Völker und in ihnen ihn niederhält. Es bedeutet Vermählung, gegenseitige Durchdringung von Geist und Volk.“235

Während Else Lasker-Schülers Bild von Jerusalem mit ihrem endgültigen Ins-Exil-Verbanntsein eine Wendung erfährt und nunmehr als Nekropolis erscheint, deren Mythos erst wieder auferstehen müsse236, erinnert sich das Ich bei Boleslav an die Verbindungen mit Jerusalem als glückhafte

231 Ebd.

232 Leuenberger, 2007, S. 115

233 Ebd. Zur Veranschaulichung hier das Gedicht Sulamith: „O, ich lernte an Deinem süssen Munde / Zu viel der Seligkeiten kennen! / Schon fühl' ich die Lippen Gabriels /Auf meinem Herzen brennen, / Und die Nachtwolke trinkt / Meinen tiefen Cederntraum. / O, wie Dein Leben mir winkt, / Und ich vergehe / Mit blühendem Herzeleid! / Und verwehe im Weltraum, / In Zeit, / In Ewigkeit, / Und meine Seele verglüht in den Abendfarben / Jerusalems.“ (Lasker-Schüler, 1996, S. 37)

234 Alle Zitate: Der Heilige Weg, in: Buber, 1968, S. 97

235 Ebd.

236 Die erste Strophe des Gedichts Jerusalem aus Lasker-Schülers letztem Gedichtband Mein blaues Klavier lautet: „Ich wandele wie durch Mausoleen – / Versteint ist unsere Heilige Stadt. / Es ruhen Steine in den Betten ihrer toten Seen / Statt Wasserseiden, die da spielten: Kommen und Vergehen.“ Und in der fünften Strophe

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Momente der Symbiose und hält diese als seine Gegenwart hoch. Das Gefühl von Existenz stellt sich für das Ich nur „in Stunden […] ohne Uhr und ohne Zeiger“ her, nicht innerhalb von als real empfundener Gegenwart. Aber genau darin ist auch die Unberührbarkeit Jerusalems begründet.

Indem Jerusalem ein außerhalb von Ort und Zeit stehendes Vorstellungsbild bleibt, kann dieses Jerusalem unbeeinflusst von den biografischen Brüchen, von den Schwierigkeiten der Identitätsausbildung und den Erfahrungen, die den Boden unter den Subjekten unwiderruflich zerrüttet haben, bestehen bleiben. Gerade durch die Etablierung von einem transzendentalen Jerusalem als nicht topographisch festgelegtem Ort bleibt diese Stadt unzerstörbar. So kann dieses Gedicht mit einem Jerusalem als „Heimatersatz“237 auch als Versuch Boleslavs gelesen werden, der Heimatlosigkeit in einer für sie unbehausten Welt entgegen zu wirken. In dieser Deutung ist das Gedicht in seiner Zeit verankert und stellt eine Reaktion auf eine Krise dar, die zur Zerrüttung von Identitäten und Identifizierungsmöglichkeiten geführt hat. Deleuze/Guattari führen in Kafka. Für eine kleine Literatur zwei mögliche Reaktionsformen auf eine solche Krise an: Absolute Deterritorialisierung wie bei Kafka auf der einen Seite, die Sprache

„aufschreien lassen in einem ganz nüchternen und strengen Schrei; in ihm das Hundegebell, den Affenhusten, das Käfergesumm freisetzen; eine Syntax des Schreis machen […] bis zu einer Deterritorialisierung, die nicht mehr durch die Kultur oder den Mythos kompensiert wird.“238

Boleslav wählt einen Kafka entgegengesetzten Weg: sie schlägt nicht den Weg zu einer absoluten Deterritorialisierung ein, sondern antwortet in einer mythisch-symbolistischen Reterritorialisierungsbewegung 239, in der Jerusalem zu einer von Widersprüchen befreiten, transzendentalen Heimat wird.

Jerusalem (II)

In dem vorhergehenden Gedicht wird das Ich als passiv-empfangendes Ich dargestellt, das den „Saft der Liebe“240 in sich „eintrinkt“. Im vorliegenden Gedicht Jerusalem (II)241 ist eine dieser Darstellung entgegengesetzte Ich-Konstruktion vorzufinden. Das Ich übernimmt die Rolle einer aktiven Figur, die Jerusalem beschützt und drohenden Gefahren wehrhaft gegenübersteht. Es beschützt Jerusalem vor

heißt es: „Wenn du doch kämest – / in das Land der Ahnen – / Du würdest wie ein Kindlein mich ermahnen: / Jerusalem – erfahre Auferstehen!“ (Lasker-Schüler, 1996, S. 334)

237 In dem Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch? schreibt Améry Religion die mögliche Funktion eines Heimatersatzes zu. Auch der Glaube an ein Jerusalem als Fixpunkt könne Heimatersatz bieten: „Wenn es mir schon an dieser Stelle erlaubt ist, eine erste und vorläufige Antwort zu geben auf die Frage, wieviel Heimat der Mensch braucht, möchte ich sagen: um so mehr, je weniger davon er mit sich tragen kann. Denn es gibt ja so etwas wie mobile Heimat oder zumindest Heimatersatz. Das kann Religion sein, wie die jüdische. ‚Nächstes Jahr in Jerusalem‘ haben sich von alters her die Juden im Osterritual versprochen, aber es kam gar nicht darauf an, wirklich ins Heilige Land zu gelangen, vielmehr genügte es, daß man gemeinsam die Formel sprach und sich verbunden wußte im magischen Heimatraum des Stammesgottes Jahwe.“ (Améry, 1966, S. 76)

238 Deleuze & Guattari, 2012, S. 37

239 Ebd.

240 Boleslav, 1965, S. 48

241 Ebd., S. 49

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der „Dunkelheit in den Bergen“ und einem „Brand in den Tempeln“. Jerusalem wird als „Braut“ des Ichs angerufen und mit einem „seidenen Netz“ als Schleier versehen. Das Ich übernimmt die Rolle eines männlich konnotierten, starken Subjekts.

Wie im vorhergehenden Teil bereits erläutert, ziehen sich Personifikationen von Jerusalem durch die jüdische Kulturgeschichte. Boleslav greift hier den Topos von Jerusalem als Braut auf, wie er beispielsweise auch bei Heinrich Heine und Else Lasker-Schüler erscheint.

In Heines Gedicht Jehuda Ben Halevy II aus den Hebräischen Melodien stirbt „Jehuda Ben Halevy […]

zu Füßen seiner Liebsten, / Und sein sterbend Haupt, es ruhte / Auf den Knien Jerusalems.“242 Lasker-Schüler schreibt in ihrem Exil-Prosawerk, im Hebräerland: „Palästina ist das Land des Gottesbuchs;

Jerusalem – Gottes verschleierte Braut“243. Das Ich kreiert dabei ein Bedrohungsszenario, dem es selbstaufopfernd entgegenzutreten verspricht:

„Jeruschalajim / wenn es in deinen Bergen finster wird, / komme ich und bringe dir ein Licht. / Jeruschalajim, / wenn in deinen Tempeln / die Kerzen sich entzünden / und ein Fluch der Götter sie stürzt, / dann wird meine Zunge / das Feuer deines Brandes löschen. / Jeruschalajim, / ich werde den Schild schwingen, / und um dich eifern.“

Mit dem Bedrohungsszenario „wenn in deinen Tempeln/ die Kerzen sich entzünden/ und ein Fluch der Götter sie stürzt“ stellt das Ich einen Bezug auf die Zerstörung des Ersten Tempels im Jahr 586 v.d.Z.

her, die sich im jüdischen Denken als Ur-Katastrophe des Judentums etabliert hat. Das Ich schlägt hiermit einen Bogen von der Vergangenheit in die Gegenwart. Es erinnert an die vergangene, aber jederzeit drohende Ur-Katastrophe des Judentums – den Tempelbrand und leitet eine Perspektive für die Zukunft daraus ab.244 Auch die Anrufung Jerusalems als „Jeruschalajim“, als einzigem hebräischem Begriff innerhalb eines deutschsprachigen Gedichts, verleiht der Anrufung einen mythisierenden Charakter, folgt man Deleuze/Guattari, die das Hebräische innerhalb der Sprachstruktur der deutschsprachigen Prager Juden als „mythische Sprache“ bezeichnen, „die mit dem Aufkommen des Zionismus, noch im Zustand des aktiven Traums, an Bedeutung gewinnt.“245 Die diasporische Perspektive, die in dem Gedicht einerseits aufgebaut wird, wird mit einer israelisch-zionistischen Perspektive verbunden. Das Ich macht die Wehrhaftigkeit des Menschen stark und die Verantwortung des Menschen für den Lauf der Welt und die Wiederkunft Gottes. Gottes Ankunft soll nicht passiv erwartet werden. Diese Selbstverantwortlichkeit wird hier durch ein Symbol verdeutlicht, das eine äußerst komplexe Geschichte von Bedeutungen mit sich bringt: das Davidschild bzw. der Davidstern.

In der mittelalterlichen Diaspora erfüllte das Zeichen eine Schutzfunktion für die marginalisierten Juden, während des Nationalsozialismus wurden die Juden unter diesem Zeichen ermordet und

242 Heine, o.J.; ca. 1925, S. 22

243 Lasker-Schüler, 2002, S. 11

244 Vgl. Brenner, 2008, S. 18. Dort schreibt er: „Im traditionellen jüdischen Geschichtsverständnis sind sämtliche Ereignisse der nachbiblischen Jahrhunderte von zweitrangiger Bedeutung. Das nächste wichtige Ereignis ist in die Zukunft verlagert: das Kommen des Messias, der seit Jahrhunderten sehnsüchtig erwartet wird und eine Epoche des friedvollen Zusammenlebens aller Menschen einleiten soll.“

245 Beide Zitate: Deleuze & Guattari, 2012, S. 36

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schließlich wurde das Symbol zum Inbegriff des politischen Zionismus und des neugegründeten Staates. Auf diesen Schild, den das Ich „schwingen, / und um dich [Jerusalem, Anm. J.P] eifern“ wird,

schließlich wurde das Symbol zum Inbegriff des politischen Zionismus und des neugegründeten Staates. Auf diesen Schild, den das Ich „schwingen, / und um dich [Jerusalem, Anm. J.P] eifern“ wird,