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5 Analyse der Ich-Konstruktionen in der Lyrik von Aloni und Boleslav

5.5 Ich-Artikulationen und die Alte Heimat

5.5.2 Boleslavs Lyrik über die Alte Heimat

Wie für Jenny Aloni ein Besuch der Stadt ihrer Kindheit Paderborn zum Anlass wurde, eine Reihe von Gedichten zu schreiben, die die Alte Heimat in den Blick nehmen, so war auch für Boleslav vermutlich eine Reise in die CSSR der Auslöser für Gedichte über die Orte ihrer Kindheit. In den 1960er Jahren fuhr Boleslav die einzige Überlebende ihrer Familie besuchen: die Schwester ihrer Großmutter.490 Ausgehend von der Annahme, dass die Gedichte eine autobiografische Grundlage haben, so hat diese Reise – dem Titel des Gedichts Marienbader Bahnhof 1966 nach zu urteilen – im Jahr 1966 stattgefunden.

Für Boleslav gilt die oben skizzierte Konstruktion des „Hier und Dort“ auf eine andere Art und Weise als für Aloni. Anders als bei Aloni war das Land von Boleslavs Alter Heimat nicht identisch mit dem Land der Täter_innen. Für sie besteht die Alte Heimat nicht aus Orten in Deutschland, sondern aus zwei Orten im damaligen Böhmen. In der autobiografischen Erzählung Erinnerungen an meinen Vater schreibt sie:

487 Améry, 1966, S. 86

488 Aloni, 2013, S. 24f.

489 Aloni, 2005, S. 174

490 Daniel Cohen-Sagi äußert sich in dem Gespräch, das ich im August 2010 mit ihm geführt habe: „Netti ist sie [die Schwester der Großmutter, Anm. J. P.] besuchen gefahren, in einem Dorf, weit weg von Prag. Das war in den 1960er Jahren und es war ungewöhnlich, weil es keine diplomatischen Kontakte zur Tschechoslowakei gab.“

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„Ich kehre in meinen Gedanken in die früheste Jugend zurück. Ich bin sechs Jahre alt, habe kurzgeschnittenes Haar, wie ein Junge, ich trage einen weiß-schwarz karierten Mantel. Ich kenne nur eine Stadt: Raudnitz, die an der schönen Elbe liegt. Eine kleine Stadt in Böhmen, eine Bahnstunde von Prag entfernt […].“491

Mit zunehmendem Alter spielte neben Raudnitz noch eine weitere Stadt in ihrer Kindheit eine zentrale Rolle für sie:

„Auch das kleine Städtchen Königswart bei Marienbad bleibt eine angenehme Erinnerung in meinem Leben. In Königswart lebten meine Großeltern mütterlicherseits. Dort befand sich das antike Fürst-Metternich-Schloßmuseum, welches auch eine auserlesene Bibliothek mit hebräischen Schriftwerken hatte.“492

Die Orte sind also nicht nur „verbotenerweise“ herbeigesehnte wie bei Aloni, sondern sind Boleslav in

„angenehme[r] Erinnerung“ 493 geblieben. Aber auch diese Orte sind mit Erinnerungen an Antisemitismus belegt. Die Abwendung jüdischer Gemeindemitglieder vom Judentum und vom Rabbiner der Gemeinde, dem Vater von Boleslav, Konversionen zum Christentum und eine zunehmend antisemitische Stimmung in der Bevölkerung zermürbten den Vater in Raudnitz: „An den Freitagabenden murmelte er gleichgültig die Gebete. Ich sah ihn weinen wie ein kleines Kind. Seine blauen Augen glänzten oft vor Tränen.“494 Endgültiger Anlass für die Flucht nach Prag aber war die mit dem Münchner Abkommen einhergehende Annexion des Sudetengebiets durch die Nationalsozialisten im September 1938. In Prag schloss sich Boleslav der zionistischen Bewegung an und plante ihre Emigration. Im April 1939 erreichte Boleslav Palästina.495

Wenn Boleslav die Orte ihrer Kindheit und Jugend auch in „angenehme[r] Erinnerung“496 behielt – die Alte Heimat und die damit verbundenen bewussten und unbewussten Erinnerungen an die Vertreibung, Entwurzelung und Auslöschung, die sie zum Teil unmittelbar, zum Teil mittelbar miterlebte, ziehen sich durch die gesamte Lyrik Boleslavs. „Meine Sehnsucht ist ein ewiges Suchen nach unauffindbarem Gestern.“497 schreibt sie in einer autobiografischen Rückschau auf ihr Schreiben.

Der Vergangenheit, dem „unauffindbaren Gestern“, begegnete sie überall. Auch in ihrer Gegenwart und in ihrer Neuen Heimat Palästina/Israel war sie dieser Sehnsucht und Suche ausgesetzt. Die Dichotomie zwischen „Hier und Dort“ und „Heute und Damals“ greift auch bei Boleslav.

Auch aus dem Werk Boleslavs sollen für dieses Kapitel diejenigen Gedichte ausgewählt werden, in denen die Orte der Kindheit und Jugend explizit thematisiert werden. Erst im zweiten Gedichtband Ein Zeichen nach uns im Sand findet eine konkrete Auseinandersetzung und Benennung der Orte ihrer Kindheit statt. Zwar gibt es in dem ersten Gedichtband Der Weg ist tausend Schlangen weit drei

491 Boleslav, 30. August 1968, S. 49

492 Boleslav, 6. September 1968b, S. 74

493 Ebd.

494 Boleslav, 13. September 1968, S. 109

495 Boleslav, 13. April 1973, S. 43

496 Boleslav, 6. September 1968b, S. 74

497 Boleslav, o.J.e

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Gedichte, die sich mit der Figur eines Vaters auseinandersetzen. Allerdings sind diese Gedichte nicht an die Orte der Kindheit und Jugend gebunden, sondern an Orte, die zu paradigmatischen Orten der Ausgrenzung und Vernichtung geworden sind: das Warschauer Ghetto498 und Auschwitz499. Sie werden im Kapitel Shoah untersucht. Für das vorliegende Kapitel spielen folgende Gedichte eine Rolle: Bad Königswart, Heimatstadt meiner Mutter sowie Marienbader Bahnhof 1966.

Bad Königswart, Heimatstadt meiner Mutter

Die Gegenwart der Vergangenheit wird besonders deutlich in dem Gedicht Bad Königswart, Heimatstadt meiner Mutter500. Das Gedicht stellt den Rundgang eines Ichs durch die Heimatstadt seiner Mutter dar. Es taucht ein in seine ganz persönliche, subjektive Vergangenheit und vergleicht vor einem „Vorhang der Vergangenheit/ bestickt mit Schwermut/ goldener Sterne“ das Damals und Heute. In ihrer autobiografischen Erzählung Erinnerungen an meinen Vater schreibt Boleslav über das damalige Königswart ihrer Kindheit:

„Einstmals existierten hier drei Judengassen, und in einer derselben befand sich die alte Synagoge.

Vom Marktplatz aus, in dessen Mitte ein Brunnen stand, an dem ich oft als Kind spielte, gelangte man in ein kleines Seitengäßchen. Ich erinnere mich noch an das verfallene Haus des Kultusvorstehers und auch an ihn selbst.“501

Es sind lebhafte Erinnerungen an die Stadt, die in diesen Erinnerungen an meinen Vater geschildert werden. Ähnlich lebhaft und konkret sind Teile der Erinnerungen des Ichs in dem Gedicht über Königswart. Die Erinnerungen werden von bestimmten materiellen Dingen hervorgerufen. Der „ewig rauschende[r] Bach 'Am Anger'“, die „Hagebuttensträucher[n]“ scheinen altvertraut, genauso wie das Bild der „liebende[n] Tauben“ auf dem „rote[n] Dach“. Auch das „braune[s] eiserne[s] Tor“ weckt Erinnerungen: „von hier ging die Mutter zur Hochzeit.“ Das Ich erkennt diese Dinge und findet in ihnen seine eigene Kindheit wieder. Jean Améry definiert in seinem Essay Wieviel Heimat braucht der Mensch? Heimat als Sicherheit, begründet im Faktum des Kennens und Erkennens:

„Heimat ist Sicherheit, sage ich. In der Heimat beherrschen wir souverän die Dialektik von Kennen-Erkennen, von Trauen-Vertrauen: Da wir sie kennen, erkennen wir sie und getrauen uns zu sprechen und zu handeln, weil wir in unsere Kenntnis-Erkenntnis begründetes Vertrauen haben dürfen.“502

Vertraute Bilder erscheinen vor den Augen des Ich, der Prozess des Erkennens spielt sich über das Erkennen von materiellen Dingen ab, die die Vergangenheit überdauert haben und noch heute existieren. Zwischen diesen materiellen Dingen, werden aber Leerstellen sichtbar. Genauer: die Leerstellen werden sichtbar gemacht – durch das Ich, das in seiner Erinnerung noch die Vergangenheit

498 Erinnerungen an den Warschauer Ghettokampf, in: Boleslav, 1965, S. 38

499 Mein Traum von Auschwitz, in: Boleslav, 1965, S. 39 und Für meinen treuen Vater, in: Boleslav, 1965, S. 40

500 Boleslav, 1972, S. 27

501 Boleslav, 6. September 1968b, S. 74

502 Améry, 1966, S. 80

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präsent hat und das Fehlende in der Gegenwart sieht. So identifiziert das Ich die „kalte[n]

ausgebrannte[n] Stellen“ als Markierung für den „Judentempel“, der zu seiner Zeit noch dort stand:

„kalte ausgebrannte Stellen/ statt des Judentempels“. Es erkennt das Fehlen der „jüdischen Leichname“ und stellt fest: „kein jüdischer Leichnam/ in deiner Erde.“

Mit diesen Versen schreibt sich die Grundlage, der „Grund von Auschwitz“503 – um auf einen Begriff von Szondi zurückzugreifen – unzweideutig in die Alte Heimat ein. Auch die anderen Gedichte Boleslavs, die nicht die Alte Heimat thematisieren, sind auf der Grundlage von Auschwitz geschrieben worden. Auch in ihnen lassen sich die Auswirkungen, die die Shoah in den Ich-Identitäten hinterlassen hat, erkennen. In den Gedichten aber, in denen ein Ich die Grenze zur Alten Heimat überschreitet und auf den Boden der Kindheit zurückkehrt, tritt deutlich zu Tage, dass dieser Boden auch der Boden von Auschwitz geworden ist. Lyrik „auf Grund von Auschwitz“ ist also durchaus wörtlich zu verstehen.

Mit der nüchternen Feststellung „kein jüdischer Leichnam/ in deiner Erde“ wird in dem Gedicht ein zentrales Motiv der Lyrik nach Auschwitz aus der Feder jüdischer Schriftsteller_innen aufgegriffen: das Fehlen von Gräbern aufgrund der Verbrennung der Jüdinnen und Juden in den Krematorien. Einen Teil von Nelly Sachs' Zyklus In den Wohnungen des Todes stellt der Unterzyklus unter dem Titel Grabschriften in die Luft geschrieben dar. Mit Titeln wie Die Tänzerin504 oder Der Narr505 sind die Gedichte dieses Zyklus benannt und werden in gewissem Sinne Grablegungen für anonyme, aber dennoch durch ihre Bezeichnung konkret gehaltene Figuren. Auch in Celans Todesfuge findet sich wiederholt das Motiv vom „Grab in den Lüften“. Gräber übernehmen nicht nur eine Funktion für die Toten, sondern auch für die Hinterbliebenen:

„Man muß den Atem anhalten, / bis der Wind nachlässt / […] / und wir zuhause sind, / wo es auch sei, / und niedersitzen können und uns anlehnen, / als sei es an das Grab / unserer Mutter.“506

Dies schreibt Hilde Domin in ihrem Gedicht Ziehende Landschaft. Gräber stellen nicht nur die Möglichkeit zur Verfügung, an ihnen zu trauern und Erinnerungen an sie zu heften, sondern bieten damit auch ein Zuhause. Auch die Verse in Rose Ausländers Gedicht Rückkehr I verweisen auf das Fehlende, auf die ausgelöschten Spuren, die erst wieder durch und mit der Kennzeichnung im Gedicht entstehen:

503 Szondi, 1978, S. 384. In dem Aufsatz Durch die Enge geführt denkt Szondi den „Grund von Auschwitz“ und die

„Grundwasserspuren“ in Celans Gedicht Engführung zusammen: „Ein Unten, ein Grund (Grund-wasserspuren):

die Bedingung der Möglichkeit für die Realität des Textes, für das Weiterleben der Menschen heute, in der Eulenflucht, hier (VIII, 6), der Menschen, die Auschwitz überlebt haben, man weiß nicht wie, und die es auch weiterhin überleben, man weiß nicht wie.“ (Szondi, 1978, S. 388).

504 Sachs, 2010, S. 27

505 Ebd., S. 28

506 Domin, 2003, S. 9

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„Wo stand der Kreuzgarten / Kein Kreuz / meldet die Stelle / keine Stelle zeigt / was wir suchen / wo wir uns wiederfinden // zur Rückkehr schlecht ausgerüstet / es fehlen ja unsere / lichtvertriebenen / Toten“507

Celan hat sich immer wieder dagegen verwehrt, das „Grab in der Luft“508 als Metapher zu begreifen.

Am 19. Mai 1961 schreibt er in einem Brief an Walter Jens: „Das ‚Grab in der Luft‘ […], das ist, in diesem Gedicht, weiß Gott weder Entlehnung noch Metapher.“509 In der Büchnerpreisrede schreibt er: „das Gedicht wäre somit der Ort, wo alle Tropen und Metaphern ad absurdum geführt werden wollen“510 Sachs hingegen wirft im Rückblick auf ihre Zyklen In den Wohnungen des Todes und Sternverdunkelung die Frage auf, ob sie ihren Gedichten nicht „zu viel 'Wirklichkeit' gegeben habe“.

„Alle Mystik, auch grade die chassidische, geht durch den 'Staub'. […] Und ich will alles Hiesige durchleiden, durchschmerzen, denn den Staub zu durchseelen sind wir da. In meinen Gedichtbüchern habe ich einfach zu viel 'Wirklichkeit' gegeben. 'Die Wohnungen des Todes' vor allem und dann 'Sternverdunkelung' werden wohl auch aus diesem Grunde es schwer haben.“511

Die Frage nach dem Verhältnis von Lyrik zu Wirklichkeit und nach dem Umgang mit Metaphern spielt in dem Nachdenken (nicht nur) der jüdischen Autor_innen über Lyrik nach der Shoah eine entscheidende Rolle.

In dem vorliegenden Gedicht von Netti Boleslav kann von einer Metaphorisierung nicht die Rede sein.

Boleslav lässt gar nicht erst die Versuchung aufkommen, die „kalte[n] ausgebrannten Stellen“ und fehlenden Leichname als Metaphern zu verstehen. Lediglich in den ersten und letzten Versen des Gedichts sind Konstruktionen vorzufinden, die als klassische Metaphern verstanden werden können:

„Der Vorhang der Vergangenheit, bestickt mit Schwermut goldener Sterne“ eröffnet das Gedicht, der

„auf den Hagebuttensträuchern / in den Fäden des Altweibersommers“ eingewebte „Schnurrbart meines Großvaters“ beendet es. Die Verse dazwischen stellen eine nüchterne Bilanzziehung dar – ganz anders als etwa in den metaphorisch aufgeladenen Jerusalemgedichten. Mit den Verweisen auf materielle Dinge erinnert das Gedicht gar an Eichs Inventur512. Das Ich bei Boleslav nimmt eine Inventur seiner Gegenwart am Kindheitsort seiner Vergangenheit vor. Signifikanter Unterschied zwischen den beiden Gedichten ist aber nicht nur der Grad der Nüchternheit und Knappheit (der bei Eichs Gedicht zweifellos größer ist), nicht nur die Position der Sprecher_in, sondern auch die Rolle von Abwesenheit, die in Boleslavs Gedicht zum Tragen kommt. Denn eine Inventur und Bestandsaufnahme des Daseinden ist zwar – so implizit dies auch sein mag – immer auch eine Bestandsaufnahme des Nicht-Daseinden. Hier aber wird die Inventur zu einer expliziten Inventur auch des Fehlenden. Mit dem Verweis auf das Fehlende treffen sich Celans und Boleslavs Gedicht wieder: Das Fehlende wird

507 Ausländer, 1982, S. 53

508 Zit. nach Gellhaus, 2006, S. 210

509 Zit. nach ebd.

510 Celan, 1968b, S. 145

511 Zit. nach Allkemper, 2006, S. 196

512 Eich, 1991, S. 35f.

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sichtbar gemacht und zur Sprache gebracht. Das Ich in Bad Königswart lässt die letzten verbliebenen Spuren – sowohl die der Mutter als auch der anderen anonymen jüdischen Opfer – nicht unsichtbar werden. Es verweist auf sie, macht sie sichtbar, benennt sie. Im Gedicht werden sie verwahrt. In einem Brief an Ingeborg Bachmann schreibt Paul Celan am 12. November 1959:

„Du weißt auch – oder vielmehr: Du wusstest es einmal –, was ich in der Todesfuge zu sagen versucht habe. Du weißt – nein, Du wusstest –, und so muss ich Dich jetzt daran erinnern, dass die Todesfuge auch dies für mich ist: eine Grabschrift und ein Grab. […] Auch meine Mutter hat nur dieses Grab.“513

Die Todesfuge stellt hier für Celan nicht nur ein einfaches Gedicht dar. Es übernimmt die Funktion eines Grabes, nicht zuletzt für seine Mutter. Die Vehemenz, mit der Celan sich gegen die Metaphorisierung seiner Lyrik und den immer wieder vorgebrachten Vorwurf des hermetischen Schreibens wehrt, wird damit umso verständlicher. Auch Boleslavs Bestandsaufnahme in Bad Königswart, Heimatstadt meiner Mutter kann als ein solcher Ort betrachtet werden: als Grabschrift und Grab. Es stellt für das Ich die Möglichkeit der Erinnerung zur Verfügung und macht sichtbar, was unsichtbar gemacht werden sollte. „Meine Welt ist untergegangen. Kein Grab. Zeichen in Sternen.

Ausgeraubte Friedhöfe“514 schreibt Boleslav in dem Brief an einen Freund515. In und mit dem Gedicht versucht sie, die Zeichen in den Sternen wieder lesbar und erkennbar zu machen. Der Architekt Daniel Libeskind hat für den Bau des Jüdischen Museum das Konzept der Voids verwendet. Damit hat er den Versuch unternommen, die Abwesenheit jüdischen Lebens nach der Shoah sichtbar und erfahrbar zu machen:

„Durch die Zickzack-Form des Entwurfs zog sich eine Schneise aus Räumen, die ich ‚Void‘ nannte – eine Art Leerräume, in denen es nichts gab. Dieser Void verlief in gerade, aber gebrochener Linie durch den ganzen Bau – durch Galerien, über Durchgänge, in die Büros hinein und wieder heraus.“516

513 Bachmann & Celan, 2008, S. 127

514 Boleslav, Juli 1965, S. 27

515 Dieses unveröffentlichte Dokument vom Juli 1965 ist ein in Briefform verfasster Text, der mit den Worten

„Mein lieber Freund!“ beginnt. Die Schilderungen gehen aus von einem Wendepunkt im Leben der Verfasserin, nämlich dem Moment, in dem die Verfasserin den Adressaten kennenlernt, dieser sie in ihrem Schreiben bestärkt und die Verfasserin „als erster Dichterin“ nennt. Es liegt nahe, dass das reale Vorbild für den angesprochenen Freund Max Brod darstellt, den Boleslav seit ihrem Kennenlernen mehrmals die Woche traf und der für sie zu einem Mentor und Freund wurde. Ausgehend von diesem Wendepunkt wird in dem insgesamt 24 Seiten umfassenden Text eine Lesereise der Verfasserin durch Deutschland beschrieben, deren Schilderung immer wieder durch Rückblicke in die Kindheit unterbrochen wird. Die Parallelen zum Leben Boleslavs und zu ihrer ersten Lesereise sind unübersehbar. Gleichzeitig ist der Text in einer sehr poetischen, stilisierten Sprache gehalten. Im Folgenden wird dieser Brief als Brief an einen Freund bezeichnet.

516 Libeskind, 2004, S. 100. Auch für Libeskind stellte eine Rückkehr an den Ort seiner Alten Heimat und die Erkenntnis der fehlenden Gräber einen (retrospektiv gesetzten) Schlüsselmoment dar: „Ich erkenne erst heute, dass sich mein Vater bei seinen Spaziergängen durch das Lodz der Nachkriegszeit nicht beunruhigt, sondern getröstet fühlte von den Gespenstern und den unsichtbaren Schatten seiner untergegangenen Stadt. Die Geister von Lodz leisteten ihm Gesellschaft. Einmal wöchentlich machten wir beide uns auf den Weg zum jüdischen Friedhof [...]. Vor der Mauer erstreckte sich ein weites Feld mit frisch aufgehäufter Erde, unter dem die

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Das Wieder-Sichtbarmachen der materialisierten Leere kann auch als Merkmal von deutschsprachiger Lyrik über die Alte Heimat betrachtet werden. Auch bei Aloni sind Versuche zu lesen, die Voids wieder sichtbar zu machen. In dem Gedicht Das Haus (Wo mein Elternhaus stand, fließen jetzt die Wasser des verbreiterten Baches) lässt sie ein Ich sagen: „Wo jetzt die Wasser spülen, stand ein Haus, / das alles barg, was dann verloren ging, / das alles barg, was man zertreten hat.“517 In dem Gedicht Abschied trägt das Ich den „Mantel, den Erinnern webte / aus Schmach und Tränenketten der Verlornen.“518 Auch in dem Gedicht Boleslavs wird – in aller Paradoxie – der materialisierten Leere, von der Libeskind spricht, Ausdruck verliehen. Die Leerstellen werden sichtbar gemacht. Dies geschieht auf dreierlei Weise.

Erstens werden die Leerstellen grafisch dargestellt: zwischen „kein Leichnam“ und „in deiner Erde“

klafft eine Lücke. Zweitens werden die Abwesenheiten hier mit deiktischer Geste deutlich benannt.

Als würde das Ich auf die „kalte[n], ausgebrannte[n] Stellen“ zeigen und auf die Erde, in der keine Leichname zu finden sind. Drittens können diese Abwesenheiten aber nur sichtbar und benannt werden, weil sie innerhalb eines Referenzrahmens erscheinen.

Diesen Referenzrahmen bilden die materiellen Dinge des Ortes, an denen entlang die Kindheitserinnerungen evoziert werden. Von den bestehenden materiellen Dingen werden – im Vokabular Libeskinds – imaginäre Linien gespannt, die die Erinnerungen an Ausgelöschtes sichtbar machen. Erst neben und zwischen dem „braune[n] eiserne[n] Tor“, dem „ewig rauschende[n] Bach 'Am Anger'“ und den „auf rotem Dach liebenden Tauben“ können die „kalte[n] ausgebrannte[n]

Stellen“ als Leerstellen und Voids sichtbar werden. In der bereits erwähnten autobiografischen Rückschau sagt Boleslav über sich selber:

„Ich trage in mir Sterne, die nie mehr leuchten werden, ich trage in mir Gräber, die keine Gräber sind, ich trage in mir die Angst eines Kindes vor dunkeln Zimmern.“519

Die fehlenden Gräber sind ein Teil von ihr geworden – Boleslav hat die Leerstellen und die fehlenden Gräber inkorporiert. Ähnliches gilt für das Ich in diesem Gedicht, das sich einer Alten Heimat gegenübergestellt sieht, die einerseits noch Züge des Altbekannten trägt und andererseits geisterhaft entleert erscheint.

Das Ich erscheint das Gedicht über nicht explizit. Erst im letzten Vers des Gedichts wird auf das Ich verwiesen. Zu vertraut aber erscheinen die Beschreibungen, die Erinnerungen an Gegenstände der Kindheit, als dass sie nicht als ganz private Erinnerungen eines Ichs erscheinen würden. Selbst der Bach wird mit einem Eigennamen „Am Anger“ versehen. Gleichzeitig aber scheint das Ich gelähmt, Bezüge

Leichname Tausender von Juden ohne Grabstein lagen. Gemeinsam machten wir uns an die Sisyphusarbeit, die Grabstätten von Verwandten und Freunden zu reinigen und zu reparieren. [...] Es kam mir so vor, als wollten wir der Übermacht der Geschichte trotzen, als wollten wir beweisen, dass die Erinnerung stärker ist als die vereinten Kräfte menschlicher Zerstörungswut und natürlichen Zerfalls.“ (Libeskind, 2004, S. 225).

517 Das Haus, in: Aloni, 1995, S. 40

518 Abschied, in: Ebd., S. 45

519 Boleslav, o.J.e

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zu sich selber jenseits der Erinnerungsfetzen herzustellen. Zwischen der Verbindung von „Heute und Damals“ steht der „Vorhang der Vergangenheit, bestickt mit Schwermut“. Eine Verbindung der Zeiten

zu sich selber jenseits der Erinnerungsfetzen herzustellen. Zwischen der Verbindung von „Heute und Damals“ steht der „Vorhang der Vergangenheit, bestickt mit Schwermut“. Eine Verbindung der Zeiten