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3 Sozialsystem Unternehmen

3.1 Soziale Systeme

Die Wurzeln der allgemeinen Systemtheorie gehen bis ins 18. Jahrhundert zurück. Doch bereits in der Antike sprachen die Philosophen von Systemen: Wenn auch der Systembegriff selber noch nicht verwendet wurde, so nannten sie es das „Ganze und seine Teile.“134 Der Biologe und Systemtheoretiker Ludwig von Bertalanffy ersetzte Ende des 19. Jahrhunderts

131 Die Vertreter des sozialkonstruktivistischen Ansatzes stimmen mit Luhmann überein, dass die Individuen nicht dem jeweiligen Sozialsystem, sondern verschiedenen Sozialsystemen angehören, und somit der Umwelt eines Sozialsystems zuzurechnen sind. Näheres dazu im weiteren Verlauf dieses Kapitels.

132 Näheres zur Unterscheidung der Begriffe Realität und Wirklichkeit in Kapitel 3.

133 Kieser, Alfred: a.a.O., S. 287.

134 Vgl. Luhmann, Niklas: a.a.O., S. 20. Kückelhaus, Andrea: a.a.O., S. 191. Ein Hinweis für das Systemdenken der Antike lässt sich auch im Ursprung des Wortes System finden, das von systema abgeleitet ist und übersetzt

„das Ganze“ heißt. Vgl.: Jensen, Stefan: Erkenntnis -Konstruktivismus -Systemtheorie. Wiesbaden 1999, S. 359.

das Postulat vom Ganzen und seinen Teilen durch das Begriffspaar „System und Umwelt“135 und definierte System als Gesamtheit wechselseitiger Relationen mit einer Grenze zur Um-welt.136 Mit anderen Worten sind Systeme „Einheiten, deren Verhalten durch das Zusam-menwirken von Teilen erzeugt wird.“137 Der zweite Terminus im Begriffspaar, die Umwelt, ermöglicht die Abgrenzung des Systems von anderen Systemen und damit seiner spezifi-schen Umwelt. Daraus folgt, dass es keine Systembildung ohne Umwelt gibt oder, um es prägnant mit den Worten Luhmanns zu sagen: „Vielmehr ist das Umweltverhältnis konstitutiv für Systembildung.“ 138

Unternehmen können demzufolge als Systeme gesehen werden. Ihre Einheit wird erzeugt durch das Zusammenwirken der ihnen angehörigen Mitglieder (Individuen).139 Unternehmen können folglich als soziale Einheiten kategorisiert werden. Luhmann hat die unterschiedli-chen Systemebenen wie folgt abgebildet:

Drei Ebenen der Systembildung [Ebene]

1 Systeme

2 Maschinen Organismen Soziale Systeme Psychische Systeme

3 Interaktionen Organisationen Gesellschaften

Abbildung 5: Drei Ebenen der Systembildung

Quelle: Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. A.a.O., S. 16.

Abbildung 5 verdeutlicht die Ebenen der Systembildung und die Abgrenzung von sozialen Systemen zu nicht-lebenden bzw. nicht-sinnkonstituierenden Systemen, wie Maschinen und Organismen. Psychische Systeme zählen nach Luhmann auch zu den sinnkonstituierenden Systemen. Sie gehören zur Umwelt sozialer Systeme140, sind aber nicht Teil derselben und

135 Mit von Bertalanffys Definition fand ein Paradigmenwechsel statt: Systeme wurden erstmals als offene Gebilde konzipiert, welche durch Input-/Outputbeziehungen mit der Umwelt verbunden waren. Kückelhaus, Andrea:

a.a.O., S. 199. Ludwig von Bertalanffy beschrieb offene Systeme wie folgt: „Ein offenes System ist ein solches, in welchem Ein- und Ausfluß und damit Wechsel der zusammengesetzten Elemente stattfindet.“ Bertalanffy, Ludwig von: : Zur allgemeinen Systemlehre. In: Biologica Generalis. Archiv für die allgemeinen Fragen der Lebensfor-schung, 19, 1951, S. 121.

136 Bertalanffy, Ludwig von: A.a.O, S. 114-129.

137 Hejl, Peter M./Heinz K. Stahl: Acht Thesen zu Unternehmen aus konstruktivistischer Sicht. In: Peter M. Hejl / Heinz K. Stahl: Management und Wirklichkeit. Heidelberg 2000, S. 16.

138 Luhmann, Niklas: a.a.O., S. 242.

139 Vgl. Hejl, Peter M. / Heinz K. Stahl: Acht Thesen zu Unternehmen aus konstruktivistischer Sicht. In: Peter M.

Hejl / Heinz K. Stahl: a.a.O., S. 16.

140 Luhmann, Niklas: a.a.O., S. 346.

unterscheiden sich von sozialen Systemen vor allem durch den Kommunikationsbegriff, wel-cher die Operation und das Letztelement der sozialen Systeme bezeichnet. Psychische Sys-teme definiert Luhmann über das Prozessieren von Gedanken.141

Luhmanns Theorie schließt Hejl sich insoweit an, als er auf den systemtheoretischen Ansatz aufbaut. Jedoch erweitert er Luhmanns Theorie sozialer Systeme um eine Komponente: das Individuum. Luhmann negiert die Existenz des Individuums innerhalb des Systems nicht, sondern sagt, dass Personen aus seiner systemtheoretischen Perspektive keine Bedeutung zukommt:

Aber weder ontologisch noch analytisch ist das System wichtiger als die Umwelt; denn beides ist das, was es ist, nur im Bezug auf das jeweils andere. So enthält dann auch die Aussage, Personen gehörten zur Umwelt sozialer Systeme, keine Gewichtung der Bedeutung von Per-sonen für sich selbst oder für anderes. … Sozialen Systemen liegt nicht „das Subjekt“, son-dern die Umwelt ‚zu Grunde’, und mit ‚zu Grunde liegen’ ist dann nur gemeint, dass es Vor-aussetzungen der Ausdifferenzierung sozialer Systeme (u.a.: Personen als Bewusstseinsträ-ger) gibt, die nicht mit ausdifferenziert werden.“142

Hejl definiert soziale Systeme in seinem Aufsatz „Konstruktion der sozialen Konstruktion – Grundlinien einer konstruktivistischen Sozialtheorie“ als eine Gruppe lebender143 Systeme, die zwei Bedingungen erfüllen. „Jedes der lebenden Systeme muss in seinem kognitiven Subsys-tem mindestens einen Zustand ausgebildet haben, der mit mindestens einem Zustand der kognitiven Systeme der anderen Gruppenmitglieder verglichen werden kann.“ 144

Mit „einem Zustand“ meint Hejl hier einen Bereich des sinnvollen, zielorientierten Handelns.

Man könnte es auch als eine gemeinsame Zielformulierung betrachten, welche die Unter-nehmensmitglieder oder mindestens immer ein Teil der Systemmitglieder motiviert: Bei-spielsweise haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einer Vertriebsabteilung das Ziel, das/die angebotenen Produkte oder die angebotenen Dienstleistung(en) bestmöglich zu ver-markten und zu vertreiben. Mit diesem gemeinsamen „Zustand“, um in den Worten Hejls zu bleiben, arbeiten sie ziel- und sinnorientiert auf ein gemeinsames Ziel hin.

Hejl nennt als zweite Bedingung: „Die lebenden Systeme müssen (aus ihrer Sicht) mit Bezug auf diese parallelisierten Zustände agieren.“ Und Hejl fügt erklärend hinzu: „Die Gruppenmitglieder

141 Luhmann, Niklas: a.a.O., S. 354ff..

142 Ebd., S. 346ff.

143 Mit dem Begriff des „lebenden“ Systems schließt Hejl an die Luhmannsche Differenzierung von nicht-lebenden und nicht-sinnkonstituierenden Systemen an, welche sich auf die vorherigen Ausführungen (siehe Abbildung 5) bezieht.

144 Hejl, Peter M.: Konstruktion der sozialen Konstruktion – Grundlinien einer konstruktivistischen Sozialtheorie.

A.a.O., S. 127.

müssen eine gemeinsame Realität und damit einen Bereich sinnvollen Handelns und Kommunizierens erzeugt haben und auf ihn bezogen interagieren.“145 Damit wird seine Definition übertragbar auf verschiedene Bereiche wie Wirtschaft, Kultur oder Gesellschaft. Für die vorliegende Arbeit ist Hejls Definition besonders geeignet, da er das Individuum und seine Bedeutung innerhalb sozialer Systeme zum Gegenstand macht und berücksichtigt. Zwar teilt er die Auffassung Luhmanns, dass Individuen als soziokulturelle Persönlichkeiten der Systemumwelt zuz u-rechnen sind.146 Dennoch hebt er hervor, dass in Unternehmen vor allem den Systemmit-gliedern (Akteur/-innen), das heißt, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in ihren unter-schiedlichen Funktionen, ein besonderes Gewicht zukommt.147 Ohne die gemeinsame, ziel-gerichtete Arbeit jedes Systemmitglieds wäre ein Unternehmen kein soziales System. Es konstituiert sich über den Bereich des „sinnvollen Handelns“. Die über Kommunikation und Handlung transportierten Ziele eines Unternehmens werden über die jeweiligen Systemmit-glieder gesteuert und verwirklicht. Deshalb ist die Berücksichtigung des Individuums in der Definition der sozialen Systems eine logische Konsequenz mit folgenden Vorteilen: Es kann Abstand davon genommen werden, „dem“ Unternehmen Eigenschaften und Intentionen zu-zuweisen wie dies beispielsweise in der CI- Konzeption der Fall ist. Das Unternehmen wird nicht länger als eine Persönlichkeit betrachtet und beschrieben; die Unternehmensidentität entfällt. Vielmehr können den im System handelnden Personen, das heißt, den AkteurInnen, Handlungen zugeschrieben werden. Genau daraus ergibt sich weiterhin der Vorteil einer empirischen Unternehmensforschung.148 So erscheint die Frage nach der Bildung von Un-ternehmensidentität in einem anderen Licht.

Die Aufnahme des Individuums in die Theorie sozialer Systeme erfolgt bei Hejl nicht unein-geschränkt: Für ihn gehört nur ein bestimmter Personenkreis innerhalb eines Unternehmens zum sozialen System. Er legt fest, dass nur die an der Realitätskonstruktion des Unterneh-mens beteiligten Personen zum sozialen System gehören, sofern die Arbeit oder die Ent-scheidungen dieser Personen zur „Grundlage von FirmenentEnt-scheidungen“ gemacht wird bzw. werden. Alle Personen, welche nicht an der sozialen Konstruktion des Unternehmens teilhaben, gehören folglich auch nicht zum sozialen System „Organisation“.149 Beispielhaft anzuführen sind hier das Reinigungspersonal, das Personal zur Verteilung der Post o.ä. Die-ser Einschränkung Hejls möchte ich in meiner Arbeit so nicht folgen, da die Grenze sozialer Systeme willkürlich gezogen würde. Schließlich geht aus Hejls Ausführungen nicht hervor, ab welcher Ebene Personen nicht mehr auf die Realitätskonstruktion wirken (zählen dazu

145 Ebd.

146 Der Umwelt-Begriff wird weiter unten in diesem Kapitel erklärt, da der System -Begriff mit dem Umwelt-Begriff direkt verknüpft ist, aber eine umfassende Darlegung an dieser Stelle mich zu weit weg von den Ausführungen zu Sozialsystemen führen würde. Hejl, Peter M./Heinz K. Stahl: Managem ent und Selbstregulierung. A.a.O., S. 113.

147 Ebd.

148 Vgl. Schmidt, Siegfried J.: Unternehmenskultur. a.a.O., S. 48.

149 Vgl. Hejl, Peter M.: Konstruktion der sozialen Konstruktion – Grundlinien einer konstruktivistischen Sozialtheo-rie. A.a.O., S. 128.

auch Sachberarbeiter/-innen aus Fachbereichen oder Subunternehmen?). Hejls Einschrän-kung zeigt, dass ein besonderes Augenmerk auf die Definition der Grenze sozialer Systeme gelegt werden muss.150

Sind die Voraussetzungen zur Bildung von Sozialsystemen erfüllt, wie Hejl sie definiert hat, ergibt sich eine Besonderheit in Bezug auf die Natur von Sozialsystemen: Sie können als geschlossene Systeme betrachtet werden. Systeme in der Natur oder als Teil der Gesell-schaft weisen spezifische Charakteristika/Verhaltensweisen in Bezug auf ihren Selbsterhalt und/oder Ihre Reproduktion auf. Maturana und Varela haben dies anhand der Theorie auto-poietischer System dargestellt. Sie konnten belegen, dass autopoietische Systeme (selbster-zeugende Systeme) geschlossene Systeme sind.151

Menschliche soziale Systeme (anders als soziale Systeme in der Natur, wie Insekten) verfü-gen über eine operationale Geschlossenheit, die sich aus der Strukturkoppelung ihrer Mit-glieder ergibt, aber sie sind offen gegenüber Informationen aus der Umwelt (Informations-aufnahme o.ä.). Mit dieser Einordnung sind soziale Systeme geschlossene Systeme und verfügen nichtsdestotrotz über eine gewisse Offenheit:

„..dies konstituiert auf der Ebene selbstreferentieller Systeme die Notwendigkeit einer genaue-ren Fassung des Grundproblems lebender Systeme: dass sie weder … als geschlossene Sys-teme begriffen werden können, die nach einem Schöpfungsakt gemäß ihrer Entelechie, Le-benskraft oder Letztbestimmung sich verwirklichen ohne äußeres Zutun; noch dass sie offene Systeme sind im Sinne einer durchgängigen Abhängigkeit von ihrer Umwelt.“152

Die Einordnung eines Sozialsystems kann aufgrund der Systementstehung und des System-erhalts als „synreferenziell“ beschrieben werden.153 Damit unterscheidet er sich von anderen Systemtypen, deren Natur autopoietisch (selbsterzeugend), selbsterhaltend oder selbstrefe-rentiell ist.154

Mit dem Begriff Synreferenzialität ist nichts anderes gemeint als die Interdependenz, also die gegenseitige Abhängigkeit, lebender Systeme in einem gemeinsamen sozialen Interaktions-umfeld (wie ein Unternehmen es darstellt), das sinnorientiertes Handeln ermöglicht. Mit an-deren Worten: Die lebenden Systeme (Menschen) innerhalb eines Sozialsystems (hier: Un-ternehmen) haben mindestens ein gemeinsames Ziel. Dieses Ziel wurde aufgrund von

150 Ebd.

151 Vgl. Maturana, Humberto: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Braun-schweig/Wiesbaden 1982, S. 58.

152 Willke, Helmut: a.a.O., S.59.

153 Vgl. Hejl, Peter M.: a.a.O., S. 135f.; Vgl. Hejl, Peter M. / Heinz K. Stahl: Management und Selbs tregulierung.

A.a.O., S. 112ff. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Frankfurt 1984, S. 110.

154 Vgl. Maturana, Humberto R. / Francisco J. Varela: a.a.O., S. 50f. Vgl. auch: Hejl, Peter M.: a.a.O., S. 114ff.

alen Interaktionen zu einer sozial erzeugten, gemeinsamen Realität und ermöglicht wei-tere Interaktionen.155

Mit der Einführung des Begriffs der Synreferenzialität hat Hejl wichtige Aspekte bei der Ana-lyse und Definition sozialer Systeme hervorgehoben. Er hat die Interaktion der Individuen in den Mittelpunkt gestellt und ihr sinnvolles, zielgerichtetes Handeln im Sinne des/der Unter-nehmensziele auf gemeinsame Wissensbestände, Wirklichkeitskonstrukte, Werte, Normen und Handlungswissen zurückgeführt. Er begründet weiter, dass diese Wissensbestände vom System weitestgehend selbst erzeugt und im weiteren Verlauf differenziert ausgebildet wer-den.156 Einschränkend ist festzuhalten, dass natürlich nicht alle Systemmitglieder über identi-sches Wissen verfügen, sondern ein im System in teilweiser Parallele zur Systemorganisation distribuiertes Wissen, das durch Schnittstellen und damit durch Anknüpfbarkeit gekennzeichnet ist.“157

Die Vernetzung der Akteure und Akteurinnen ermöglicht aufeinander abgestimmte Handlun-gen, da das distribuierte Wissen sich in einer Art Schnittmenge zwischen den Mitgliedern des Sozialsystems befindet – seien diese Komponenten nun Teilsysteme oder Individuen. Vor diesem Hintergrund kann das Sozialsystem Organisation nicht mehr als autopoietisches Sys-tem typisiert werden, weil die Autopoiesis innerhalb eines SozialsysSys-tems sich allein auf die Kommunikationen, aber nicht auf die Menschen und ihre Verbindungen beziehen kann.158 Der Mensch hingegen, welcher sich als biologisches System selbst erhält, kann weiterhin als autopoietisches System im Sinne von Maturana und Varela verstanden werden.159 Wird die Selbstreferenzialität des lebenden Systems anerkannt, folgt daraus,dass dieSelbstreferenz die Synreferenz des Sozialsystems „konditioniert“. Hejl meint mit „konditioniert“, dass „die Synreferenzialität des Systems die Selbstreferenzialität von Komponenten als ‚kritische Umweltvariab-le’ bzw. als kritischen Input berücksichtigen muss.“160