• Keine Ergebnisse gefunden

Der Radikale Konstruktivismus und der soziale Konstruktionismus:

2 Wissenschaftstheoretische Einordnung

2.1 Der Radikale Konstruktivismus und der soziale Konstruktionismus:

Der Radikale Konstruktivismus hat seine Wurzeln in der „rationalistischen Philosophie“, kon-kret in Kants kritischer Philosophie91, und konzentriert sich auf die Frage, wie „der individuelle Geist das konstruiert, was er für Realität hält.“92 Der Radikale Konstruktivismus fußt auf drei er-kenntnistheoretischen Gedankensystemen: der operativen kybernetischen Erkenntnistheorie nach von Foerster, der biologischen Theorie der Autopoiese nach Maturana und Varela so-wie dem entwicklungspsychologischen Konstruktivismus nach Ernst von Glasersfeld.93 Auch Gerhard Roth ist mit seinen Ergebnissen im Bereich der Neurobiologie den Vertretern des Radikalen Konstruktivismus zuzurechnen.94

Die Vertreter des Radikalen Konstruktivismus kritisieren „vor allem den realistischen Grundsatz einer prinzipiell erkennbaren Realität.“95 Den Konstruktivismus betreffend hat Ernst von Glasers-feld festgestellt: „Der [Radikale] Konstruktivismus leugnet keineswegs eine ontologische Realität, doch er behauptet, dass wir sie nicht rational erfassen können.“96

Gerhard Roth merkt zu Ernst von Glasersfelds Feststellung an, dass eine gewisse Ungenau-igkeit in der Aussage liege, denn es sei davon auszugehen, dass es eine Realität gibt, doch allein dieser Tatbestand wird rational erfasst. Er argumentiert deshalb, dass der Begriff „rati-onal“ dem Begriff „objektiv wahr“ weichen sollte, um darauf hinzuweisen, dass der Mensch eine Wirklichkeit bildet, die Realität aber für sich – ob der biologischen und sozialen Ge-schichte eines Menschen – nicht erfasst werden kann:97Die phylogenetischen und frühontoge-netisch festgelegten Strukturen und Arbeitsweisen von Sinnesorganen und primären Sinneszentren

90 Vgl. Frindte, Wolfgang: Radikaler Konstruktivismus und Social Constructionism – sozialpsychologische Folgen und die empirische Rekonstruktion eines Gespenstes. In: Fischer, Hans Rudi: Die Wirklichkeit des Konstruktivis-mus: zur Auseinandersetzung um ein neues Paradigma. Heidelberg 1995, S. 106ff. Vgl. Gergen, Kenneth J.:

a.a.O., S. 66f und S. 81. Vgl. Knorr-Cetina, Karin: Spielarten des Konstruktivismus. In: Soziale Welt. Jahrgang XXXX/1989, o.S.

91 Vgl. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Akademie-Textausgabe, Band III, 2. Auflage, 1787.

92 Gergen, Kenneth J.: a.a.O., S. 81.

93 Lattmann, C.: Der Konstruktivismus und seine Bedeutung für die Betriebswirtschaftslehre. In: MR, 4. Jg., Heft 3, S. 230f.

94 Vgl. Frindte, Wolfgang: a.a.O., S. 107. Gergen, Kennth J.: a.a.O., S. 81. Foerster, Heinz von: Wissen und Ge-wissen. Frankfurt am Main 1993. Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Frankfurt am Main 1996.

95 Mitterer, Josef: Der Radikale Konstruktivismus: „What difference does it make?“ In: Fischer, Hans Rudi / Sieg-fried J. Schmidt: Wirklichkeit und Welterzeugung. Heidelberg 2000, S.60.

96 Von Glaserfeld, Ernst: o.A. Zitiert nach: Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Welt. In: Fischer, Hans Rudi / Siegfried J. Schmidt: Wirklichkeit und Welterzeugung. Heidelberg 2000, S. 165.

97 Roth, Gerhard: a.a.O., S. 165.

legen fest, wie das bewusste Objekt grundlegend die Welt sieht; sie geben sozusagen feste Konstruk -tions- und Interpretationsschemata vor, in die individuell hinein gelernt wird.“98

Die radikal-konstruktivistische Theorie geht demnach davon aus, dass es eine Realität gibt und die Wirklichkeit ein Teil dieser Realität ist. Es ist anzunehmen, dass sich das persönliche Erleben eines Individuums von dem eines anderen Individuums unterscheidet, egal, ob grundsätzlich oder marginal. In jedem Fall ist es aus Sicht des radikalen Konstruktivismus deutlich, dass Menschen „weder in der Lage sind, eine Welt, die unabhängig vom Bewusstsein existiert, zu erkennen, noch die Welt, die wir durch Interaktion und Kommunikation schaffen, in ihren sozialen Beschaffenheiten erschließen können.“99 Die VertreterInnen des Radikalen Konstrukti-vismus beziehen sich hier auf Erkenntnisse aus der Neurobiologie und definieren das Gehirn als selbstreferentielles System100, das keinen Zugang zur Außenwelt hat.101 Das bedeutet, dass alles, was wir von der Welt wissen, das Ergebnis der individuellen Konstruktion von Wirklichkeit ist. Damit geht es im Theoriemodell des Radikalen Konstruktivismus auch nicht mehr um eine Überprüfung dieser Wirklichkeiten an der oder an einer Realität, sondern „an die Stelle von Wahrheitskriterien treten die Nützlichkeit und Paßfähigkeit individueller Konstruktionen im Hinblick auf die von uns und anderen je angestrebten Ziele.“102 Der Radikale Konstruktivismus eröffnet damit im Bereich der Empirie einen Zugang zu neuen Werten und erschließt so neue Entdeckungsräume.

Der soziale Konstruktionismus bezieht Interaktionen und Kommunikationen als Aspekte des Sozialen und deren Bedeutung für die Konstruktion von Wirklichkeit stärker ein als der Radi-kale Konstruktivismus. Das heißt, das im sozialen Konstruktionismus die Welt, die wir er-schließen können, die Welt ist, die wir im sozialen Prozess selbst schaffen und bezeichnen:

„Der individuelle Geist erschafft weder Sinn und Bedeutung noch Sprache. Ebenso wenig ent-deckt er die wahre Beschaffenheit der Welt. Sinn und Bedeutung ergeben sich aus aufeinan-der bezogenen Interaktionen zwischen Menschen – aus Diskussionen, Verhandlungen und Übereinstimmungen. Aus dieser Sicht sind Beziehungen die Grundlage für alles, was

98 Roth, Gerhard: a.a.O., S. 166.

99 Frindte, Wolfgang: a.a.O., S. 108f.

100 Selbstreferenzielle Systeme verändern die Zustände ihrer Komponenten in operational geschlossener Weise.

In Bezug auf das menschliche Gehirn heißt das: seine Selbstreferenzialität ist dadurch gekennzeichnet, dass seine Aktivität zu veränderter neuronaler Aktivität führt. Doch: nicht die neuronale Aktivität an sich erhält das Gehirn; erhalten wird es durch die Organe des Organismus, deshalb ist ein selbstreferentielles System nicht not-wendigerweise selbsterhaltend. Vgl. Hejl, Peter M.: Konstruktion der sozialen Konstruktion – Grundlinien einer konstruktivistischen Sozialtheorie. In: von Foerster, Heinz/Ernst von Glaserfeld/Peter M. Hejl/Siegfried J.

Schmidt/Paul Watzlawick: Einführung in den Konstruktivismus. Zürich 2002, a.a.O., S. 114, 130f., 135f. Vgl. Hejl, Peter M./Heinz K. Stahl: a.a.O., S. 110. Vgl. Maturana, Humberto R./Francisco Varela: a.a.O., S. 50ff.

101 Vgl. Roth, Gerhard: Erkenntnis und Realität. Das reale Gehirn und seine Wirklichkeit. In: Schmidt, Siegfried J.:

Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt am Main 1987, S. 252f. Vgl. zum Aufbau des Gehirns auch Kapitel 5 dieser Arbeit.

102 Frindte, Wolfgang: a.a.O., S. 109.

bar ist. Nichts existiert für uns – als verstehbare Welt voller Objekte und Personen -, bis wir in Beziehungen eintreten.“ 103

Das heißt, erst durch Sprache und die Verständigung mit einer anderen Person wird die Welt in der Sicht des sozialen Konstruktionismus für das Individuum verstehbar und fühlbar. Das Soziale ist hier der soziale Austausch mittels Sprache.104

Hier liegt ein wichtiger Unterschied zwischen dem Radikalen Konstruktivismus und dem so-zialen Konstruktionismus: Während Erstgenannter sich auf neurobiologische Erkenntnisse und damit auf „harte“ Fakten aus der Hirnforschung bezieht, nimmt der Soziale Konstruktio-nismus Bezug auf die „weichen“ Faktoren des Sozialen. Das bedeutet wiederum nicht, dass

„das Soziale“ bei den VertreterInnen des Radikalen Konstruktivismus außer Acht gelassen würde. Peter Hejl bezieht, laut Frindte, eine gemäßigte Position des Radikalen Konstrukti-vismus, wenn er aufzeigt, dass Individuen parallelisierte Zustände innerhalb eines sozialen Systems ausbilden können und ihre Interaktionen in Bezug auf eine gemeinsame Zielset-zung (beispielsweise ein formuliertes Ziel für das Unternehmen: Umsatzsteigerung) einen sozialen Bereich abbildet.105 Auch Schmidt bringt eine Komponente des Sozialen in den Ra-dikalen Konstruktivismus, wenn er schreibt: „Konsens in der sprachlichen Kommunikation kann also nicht primär durch Rekurs der Kommunikationspartner auf identische Gegenstände der Realität oder auf autonome Bedeutungseinheiten im Text erklärt werden, sondern nur durch Rekurs auf Kon-ventionen, die als Konstruktionsregeln für die Bildung von Kommunikation sozialisationsgeschichtlich internalisiert werden.“106Schmidt nimmt hier Bezug auf die Interaktion zwischen den Individu-en, die in der Kommunikation nicht nur verstanden wird als Austausch auf einer gemeinsa-men Wissensbasis, sondern auch in Bezug auf bestehende Konventionen (Höflichkeit, Zuhö-ren, Nachfragen, o.ä.).

Frindte verdeutlicht den Unterschied zwischen dem Radikalen Konstruktivismus und dem sozialen Konstruktionismus wie folgt:

Während Roth […] feststellt, dass wir nicht mit den Augen, sondern mit, oder besser: in den vi-suellen Zentren des Gehirns sehen, und damit den individuell und neurobiologisch ausgelegten Begriff des Psychischen im RK [Radikalen Konstruktivismus] anspricht, fundamentiert der SC [Social Constructionism] mit seinem psychologischen Begriffsverständnis quasi den extremen Gegensatz. Im Sinne des SC wäre die Rothsche Feststellung etwa folgendermaßen zu

103 Gergen, Kenneth J.: a.a.O., S. 67.

104 Frindte, Wolfgang: a.a.O., S. 113.

105 Hejl, Peter M.: a.a.O., S. 127f. Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel 4.1.

106 Schmidt, Siegfried J.: a.a.O., S. 319.

paraphrasieren: Wir sehen mit den Augen unserer sozialen Gemeinschaft, oder besser: mit Hil-fe des sozialen Verständigungsprozesses in unserer Sprachgemeinschaft.“107

Frindte hat in seinem Aufsatz zum Radikalen Konstruktivismus und zum Sozialen Konstrukti-onismus zunächst beide erkenntnistheoretischen Modelle gegenüber gestellt, um neben den Differenzen die Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Gemeinsamkeit beider Modelle darin besteht, dass „Menschen keinen oder nur einen indirek -ten Zugang zu einer „objektiven“, externalen Welt haben und demzufolge diese Welt eigendynamisch und selbständig konstruieren“.108 Der Unterschied besteht im Verständnis der Konstruktion über Selbstorganisation: „Im RK konstruiert sich der Einzelne, als Beobachter, aufgrund der neurobiologi-schen und physiologineurobiologi-schen Bedingungen seines Gehirns eine eigene, individuelle Welt. Dabei bilden die individuellen Konstruktionen die Grundlage für das menschliche Handeln wie auch die „sinnvolle Begründung“ für sein Handeln.“109 Im SC hingegen, werden die Konstruktionen ausschließlich über den sozialen Diskurs geschaffen. In der Kommunikation und Interaktion finden die Indi-viduen dann die Gründe für ihr Handeln.110

2.2 Thesen zur Verknüpfung von Systemtheorie, Radikalem Konstruktivismus und