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Eine solche Rekonstruktion führt beispielsweise auch Michael Bordt in seinem jüngsten Buch, Platons Theologie, durch57. Für diese skizzierte Rekonstruktion mit dem Ziel einer Darstellung der platonischen Gotteslehre folge ich seinem Beispiel. Im Großen und Ganzen lassen sich zwei Richtungen ausmachen, Platons Gotteslehre zu interpretieren. Einerseits verstehen Kommentatoren wie

54 Vgl. Jaeger (1947), 10-11.

55 Robert W. Sharples (2002) und David T. Runia (2002) sind der Meinung, das Göttliche sei ein Gegestand an sich der Physik.

56 De civitate Dei 6, 5: „Secundum autem ut naturale dicatur, iam et consuetudo locutionis admittit“.

Jaeger vermutet, dass es Marius Victorinus war, der Augustinus’ Aufmerksamkeit auf Varros Theologie gelenkt hat. Lieberg ist hingegen der Meinung, die Unterscheidung hätte bereits Vorgänger; vgl. Lieberg (1982).

57 Vgl. Bordt (2006b).

Eduard Zeller, Werner Jaeger, André-Jean Festugière, Hans J. Krämer oder Lloyd P. Gerson diese Lehre auf eine metaphysische Art; andererseits verteidigen etliche Spezialisten wie Victor Brochard oder Stephen Menn ein kosmologisches Verständnis der platonischen Gotteslehre58. Bordt seinerseits weist auf eine Entwicklung der Lehre Platons hin. Er versucht beide Lektüren zu vereinen, das Ergebnis mag als eine dritte Lesart gelten.

Die Mehrheit der Kommentatoren sind sich darüber einig, dass Platon im Phaidon die Welt durch den nou=j erklären will. Es wird ihm vorgeworfen, dass er sein Projekt nicht abgeschlossen hat. Bordt ist jedoch nicht dieser Ansicht.

Seiner Meinung nach begann Platon in der Politeia einen Dialog, den er im Timaios fortführte. In der Politeia vertritt Platon das, was man möglicherweise einen schwachen Monotheismus nennen könnte59. Darin ist „Der Gott“ das Urbild aller existierenden Götter, die Ihn lediglich nachahmen. Wenn Platon aber in demselben Werk über das oberste Prinzip spricht, dann ist Gott gar nicht gemeint. Das oberste Prinzip und Gott werden streng unterschieden. Im Symposion scheint dies offensichtlich anders zu sein, zumal das Schöne als etwas „Göttliches“ beschrieben wird. Das Adjektiv „göttlich“ wird zu dem Zweck gebraucht, um eine „nicht-menschliche“ – das heißt, eine

„übermenschliche“ – Natur darzustellen. Damit ist also auf keinen Fall gemeint, dass Gott mit der Schönheit oder mit dem Schönen zu identifizieren sei. Es geht darin also nicht um Gott, sondern um eine übermenschliche Schönheit.

In seinen späteren Werken denkt Platon über dieses Thema anders. Er spricht nicht mehr über das Schöne, sondern über den nou=j. Doch sowohl in den Nomoi als auch im Timaios identifiziert er diesen nou=j mit dem obersten Gott60. Der nou=j ist ein Gott sowohl für die Götter als auch für die Menschen, erklärt er in einem schwierigen Passus. Bordt legt diesen Passus so aus, als ob Platon sagen wolle, beide –Menschen und Götter– sollen den nou=j als Gott anerkennen61. Obwohl darüber heftig diskutiert wird, ist eines jedoch klar: Der

nou=j liegt auf einer höheren Ebene als die Götter. Im metaphysischen Sinne deutet die Politeia an, Gott sei identisch mit dem obersten Prinzip. Aber erst in

58 Diese Klassifikation stammt aus Bordt (2006b). Dort spricht er über eine dritte Hermeneutik, die sogenannte „religiöse“ Interpretation.

59 Vgl. Bordt (2006b), 93.

60 Nomoi 897b1 und Timaios 29ff. Zu bemerken ist, dass Platon derselben Tradition des Anaxagoras und des Diogenes nachgeht.

61 Vgl. Nomoi 897b1: „[...] nou=n me\n proslabou=sa a)ei/ qeo\n o)rqw=j qeoi=j [...]“. Vgl. auch Bordt (2006b), 234.

den Nomoi drückt Platon dies explizit aus: Aus Hesiod stammt die Idee, dass die Vernunft die Basis des Kosmos und der Gerechtigkeit sei, indem der Dichter Zeus zum Ausgangspunkt aller Dinge machte. Dadurch sollen die Gesetzgeber die Gesetze auf Gott selbst aufbauen, das heißt, die Gesetze müssen ein rationales Fundament haben und sich nach einem Vernunftprinzip –wie die Gestirne im All– richten62. Der nou=j verfügt also über eine ordnungschaffende, strukturierende Funktion (ko/smei, diako/smei). Der Demiurg, der die Weltseele und die Götter erschafft, stellt sich als das Bild des nou=j dar. Im Philebus widerspricht Sokrates Philebus, dass der göttliche nou=j (nicht der menschliche) das Gute sei. Das Gute spielt in der Weltordnung und -struktur eine Rolle, und verursacht, dass alle Sachen gut sind. Leider fehlt in diesem Dialog eine detailliertere Argumentation zu dieser Aussage. Harold F. Cherniss seinerseits empfindet es als falsch, diese Lesart auszuschließen: Das Gute kommt seiner Meinung nach vor dem nou=j und verursacht ihn63. Für Bordt hingegen ist an dieser Stelle ausschließlich der menschliche nou=j gemeint. Sokrates beziehe sich auf eine Passage von Hesiod: Der nou=j ist König von Himmel und Erde. Es ist offensichtlich, dass Platon die Identität zwischen dem Guten und dem nou=j

nicht ausspricht, was seine These jedoch nicht widerlegt. Das Gute muss als

nou=j verstanden werden64, da der nou=j keine Idee ist, sondern ein Etwas, und weil die Idee des Guten keine Idee neben der anderen Idee ist, sondern sich jenseits der ou)si/a befindet, so Bordt65. Auf diese Weise verbindet Platon zwei Sphären, die bis dahin einander fremd waren: die religiöse und die metaphysische. Bezüglich der Religion folgt er dem Beispiel von Hesiod, Solon und Aischylos, indem er Gott als gut bezeichnet. Andererseits teilt Platon die Meinung der Vorsokratiker –mit der Ausnahme Diogenes’ von Apollonia, wie bereits erwähnt–, indem er Gott nicht mit dem obersten Prinzip identifiziert.

Seine Neuerung durch Platon besteht darin, dass diese zwei Kontexte zum ersten Mal in Zusammenhang gebracht werden. In diesem Sinne ist Platon der erste, der Gott in einen klaren metaphysischen Kontext bringt.

Folgende Frage bleibt allerdings unbeantwortet: Inwiefern darf man überhaupt über eine Theologie Platons reden? Hatte der Athener die Absicht, eine programmatische Darstellung der Gottheit anzufertigen? Meiner Meinung

62 Aristoteles holt diese Idee in L nach und entwickelte sie weiter.

63 Vgl. Politeia 517c3.

64 Vgl. Bordt (2006b), 246.

65 Vgl. Politeia 509b9.

nach ist dies nicht sehr wahrscheinlich. Bei Platon findet sich der Name „Gott“

immer im Rahmen einer Welterklärung: Gott ist ein wesentlicher Teil seines metaphysischen Systems, jedoch kein Element für seine Forschungen. Es bestehen klar definierbare Inkongruenzen zwischen den frühen und späten Dialogen. Es fehlen Details der lediglich skizzierten These des späteren Platons.

Außerdem geht er auf zwei wichtige Punkte nicht ausreichend ein: Gott, das Gute und den nou=j kann er nicht verbinden66, weiterhin ist noch unklar, wie der

nou=j die Seele bewegt. Dies zu lösen, bleibt dem Aristoteles und dem Speusippos67 überlassen. Meine Arbeit widmet sich allerdings nur der aristotelischen Lehre.

4. Die aristotelische qeologikh/

Der Begriff „muqologei=n“ war schon im IV. Jahrhundert vor Christus üblich.

Unter anderem machen Xenophon, Isokrates und Platon Gebrauch von ihm.

Wie bereits erwähnt, erfindet Platon allenfalls einen neuen Ausdruck –

qeologi/a“, der zum ersten Mal in der Politeia erscheint68–, um diese Idee auszudrücken. Die qeologi/a beschreibt die Vorstellung der Dichter bezüglich der Götter und ihren Ahnen.

Aristoteles kümmert sich allerdings nicht wirklich um die qeolo/goi, da sie seiner Auffassung nach lediglich von Mythen handeln und falsche Meinungen verbreiten. Er zieht diejenigen Personen vor, die rationale Beweise bieten, und erfindet neue Kognaten des Wortes, wie zum Beispiel das Substantiv

qeolo/goj“, das Verb „qeologei=n“ und das Partizip aktiv „qeologh/santej69. Er verwendet diese Begriffe immer in Bezug auf Dichter wie Homer, Hesiod, Orpheus und so fort. Die Substantive „qeolo/goj“ und „qeologi/a“ und das Verb

qeologei=n“ verwendet er immer für ihre Erzählungen70. Diesen Erzählungen wird die Weisheit über das Menschliche entgegengestellt. Deshalb

66 Vgl. Nomoi 883-885.

67 Nach Speusippos’ hängt der nou=j, der identisch mit Gott ist, vom ersten Prinzip ab; vgl. sein Fr.38.

68 Vgl. Politeia 2 379a5.

69 Diese Begriffe sind bei anderen Autoren nicht zu finden. Wenn „qeologi/a“ ein alltägliches Wort wäre, so wie Bordt es vorschlägt, dann hätte Aristoteles höchstwahrscheinlich diese Kognaten nicht erfunden. Bordts Vermutung scheint eher unplausibel zu sein.

70 Das Substantiv „qeologi/a“ findet sich auch im aristotelischen Corpus, es kommt genau einmal vor. Zweifellos ist der Sinn des Wortes ähnlich dem platonischen. Vgl. Metereologica 2 353a35.

unterscheidet der Stagirit zwischen „fusikoi/“ und „qeolo/goi“ oder

qeologh/zantej“. Aristoteles nennt all jene Denker wie die Ionier, Empedokles, Anaxagoras und die Atomisten, die die Ursachen der Welt unter den stofflichen Dingen suchen, „Physiker“71. Aristoteles’ Unterscheidungskriterium zwischen

„Theologe“ und „Physiker“ besteht darin, ob der Autor über die Götter und deren Abstammungen schreibt oder nicht: Wird darüber gedichtet, bezeichnet er den Schriftsteller, der sich auf diese mythologische Weise ausdrückt, als

„Theologe“72. Die Theologen versuchen zu vermeiden, sich mit Zeus anzufeinden73. Deshalb räumen sie ein, dass die Götter erste Substanzen sind.

Obwohl Aristoteles akzeptiert, dass die Mythen teilweise wahr sind, schenkt er diesen Autoren keine große Aufmerksamkeit74.

Gott an sich scheint nie ein philosophisches Thema für Aristoteles gewesen zu sein. Es gibt keinen Beweis dafür, dass er einen Aufsatz über die Götter geschrieben hat. Es liegen jedoch andere Hinweise vor. Diogenes Laertios zum Beispiel berichtet, der Stagirit habe ein Buch Über das Gebet (Peri\ eu)xh=j a’) geschrieben. Auf einer persönlichen Ebene ist bekannt, dass der Stagirit in seinem letzten Willen darum gebeten hat, Athene der Weisen und Zeus dem Weisen jeweils eine Statue zu errichten und die Statue seiner Mutter Phaistis Demeter zu widmen75. Aristoteles verrät aber keine weiteren persönlichen Glaubensüberzeugungen. Selbst wenn man im Corpus etliche Seiten über Gott findet76, wird Gott stets in einer anderen Diskussion genannt.

Im Buch E der Metaphysik findet sich allerdings eine interessante Begriffsvariante, die schnell die Aufmerksamkeit des Lesers gewinnt: Das Adjektiv „qeologiko/j, das von dem Substantiv „qeologikh/“ abstammt77.

71 Vgl. Metaphysica A 983b29, B 1000a9, L 1071b27, L 1075b26 und N 1091a34; Meteorologica 2 353a34-b5. All jene Philosophen, die metaphysische Erklärungsversuche anstreben, wie zum Beispiel Pythagoras oder die Eleaten, werden nicht „fusikoi/“ genannt.

72 Vgl. zum Beispiel Metaphysica B 1000a9 und a18. Diese von Aristoteles stammende Unterscheidung wurde auch weiterhin verwendet – allerdings ausschließlich im peripatetischen Kreis –, zum Beispiel von Eudemus und Philodemus. Dementsprechend ist die von Hippias stammende Unterscheidung (Homer/Thales, Hesiod/Parmenides) erfolgreicher, da die Stoa und die Neoplatoniker oft Gebrauch davon machen.

73 Vgl. Annas (1976), 213.

74 Vgl. zum Beispiel De motu animalium 3 699a27-32; Meteorologica 2 353a35f. Eudemus differenziert diesbezüglich beispielsweise die verschiedenen Abstammungen der Götter. Diesen Unterschied nutzt Gábor Betegh um zu beweisen, dass sich das aristotelische Projekt vollkommen von dem Eudemischen unterscheidet; vgl. Betegh (2002).

75 Diogenes Laertios, Vitae philosophorum E 22.11. Vgl. auch Barnes (1995), 2-3.

76 Bemerkenswert sind die letzten Kapitel von L, die Ethica Nicomachea 10, 7, die Ethica Eudemia 7, 12 und 8, 3 unter anderen.

77 Nicht mit dem Adverb „qeologikw=j“ zu verwechseln. Platon benutzt es schon in der Politeia 10 617d. Zweimal kommt der Begriff „qeologikh/“ vor (Metaphysica E 1026a19 und K 1064b13).

Aristoteles erfindet dieses Substantiv, um sich von der genannten muqologi/a zu entfernen und den wissenschaftlichen Charakter hervorzuheben. Dort erklärt der Stagirit die qeologikh/ als eine theoretische Wissenschaft, so wie die Mathematik und die Physik78. Jedes Mal wenn Aristoteles sich über die Theologiké äußert, spricht er ihr einen theoretischen Charakter zu. Damit stellt Aristoteles –offensichtlich zum ersten Mal– die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Annäherung zum Göttlichen vor79. Aber zweierlei darf nicht vergessen werden: Einerseits spricht Aristoteles die Bedingungen für diese Wissenschaft nicht aus, wodurch eine Rekonstruktion erschwert wird.

Andererseits geht Aristoteles dieser Wissenschaft selbst nicht nach: Er beschränkt sich darauf, ihre Grundlagen festzulegen. Deshalb werden die Dichter in den folgenden Jahrhunderten trotz der Thronerhebung der Wissenschaft vom Göttlichen durch Aristoteles weiter mit dem Wort „qeolo/goj“ bezeichnet. Der Grund dafür scheint allzu offensichtlich: Es ist lediglich ein theoretischer Rahmen für eine Wissenschaft, der Aristoteles selbst nicht nachgeht. Niemanden überrascht es also, dass die ursprüngliche platonische Bedeutung noch lange –sogar von Cicero, Philodemos und Strabon–

beibehalten wird. Erst mit Plutarch beginnt der Begriff „qeologi/a“ sich der heutigen Bedeutung anzunähern. Der Neuplatoniker bezeichnet damit die Untersuchung der göttlichen Gegenstände, die für ihn im Gegensatz zu der

muqologi/a stehen, die ihrerseits eher für phantasievolle Erzählungen steht80. Aus diesen Gründen vermeide ich das Wort „Theologie“ in der vorliegenden Arbeit, um möglichst keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. Selbst Aristoteles verwendet diesen Begriff in L nicht. Auch andere Autoren wie zum Beispiel Donini finden diese Maßnahme aus denselben Gründen auch empfehlenswert:

„In questa situazione, mi domando se non sarebbe semplicemente doveroso rinunciare all’uso del termine teologia a proposito della concezione aristotelica esposta in L81.

Bedauernswerteweise unterscheidet die Realenzyklopädie von Pauly-Wissowa zwischen

qeologi/a“ und „qeologikh//“ nicht; vgl. Ziehen (1934), 2031-2032.

78 Metaphysica E 1026a18-19: „w(/ste trei=j a)/n ei)=en filosofi/ai qewrhtikai/, maqhmatikh/, fusikh/, qeologikh/ [...]“; vgl. auch Metaphysica E 1025b1-18. Über die Physik: E 1025b18-1026a7 und Z 1035b26-28. Über die Mathematik: E 1026a7-10 und E 1026a14-15.

79 Man vermutet, die Theologiké wäre in De philosophia systematisch dargestellt worden. Es fehlen allerdings die entscheidenden Hinweise, um dies belegen zu können.

80 Vgl. Plutarch, Quaestiones convivales I 1 614 D. Nach Robert Flacelières Meinung spielt auch die Polemik von Kleombrotos von Sparta eine Rolle im Ursprung dieser neuen Bedeutung des Begriffs. Außerdem soll Plutarch Platon als einen echten Theologen verehrt haben. Vgl.

Flacelière (1974).

81 Donini (2002), 188, Fußnote 15.

5. Die Untersuchung der Prinzipien: sofi/a, prw/th filosofi/a, Archäologie und qeologikh/

Philip Merlan erklärt überzeugend82, wie Aristoteles die Dreiteilung der ontologischen Bereiche –das Sichtbare, die Zahlen und die Formen– von Platon erbt. Mehrere Schüler der Akademie, wie zum Beispiel Xenokrates, werden dieses Schema überarbeiten. Aristoteles soll in diesem Sinne auch keine Ausnahme gewesen sein. Er hat seine eigene Dreiteilung: das vergängliche Sichtbare, das ewige Sichtbare und das Unsichtbare. Eine jede Wissenschaft, so Aristoteles, ist einer Substanz zuzuordnen, die erforscht werden soll. Merlans Meinung nach ist die Physik eine Innovation, denn bei Platon gab es keine Wissenschaft, die sich mit dem Sichtbaren befasste. Andererseits ist eine Wissenschaft, die die unsichtbaren Substanzen studiert, doch keine Neuigkeit, denn es gab schon seit langem die Mathematik als Wissenschaft der Zahlen.

Platon selbst wollte auch die Formen mittels der Philosophie untersuchen.

Aristoteles begründet aber nicht nur die Physik. Anstatt mit der platonischen Mathematik und der Philosophie befasst er sich vor allem mit der Theologiké, der Untersuchung der unsichtbaren Substanzen, die weder Zahlen noch Formen sind, sondern eher unsichtbare Beweger der himmlischen Sphären83. Dafür muss Aristoteles in L8 den Weg aus der Philosophie in die Astronomie verfolgen84. Ähnlich hierzu hatte Platon im Timaios den Weg aus der Philosophie zur Mathematik gefunden.

Es ist ein Fehler der Kommentatoren, wenn sie das Wort „Theologiké“ nicht verwenden, sondern die nicht-aristotelische Variante „Theologie“. Dieses Wort hat heute –abgesehen von seiner ursprünglichen Bedeutung bei Platon– eine doppelte Bedeutung: Im christlichen Sinne ist sie die Forschung über Gott und in einem –falschen– aristotelischen Sinne bezeichnet sie die Forschung der unsichtbaren Substanz85, die in der aristotelischen Philosophie einen göttlichen

82 Vgl. Merlan (1946), 1-3.

83 In seinem englischen Aufsatz verwendet Merlan das Wort theology; vgl. Merlan (1946), 3-6.

84 Deshalb will Merlan nach Physik 2 198a29 zwischen Physik, Astronomie und Theologie (sic) unterscheiden. In Physik 8.6 deutet Aristoteles bereits auf sein astronomisches System hin. Ist die Astronomie Teil der Mathematik oder eher der Physik? Man muss auch bedenken, dass Aristoteles die Sterne für Lebewesen hält. Merlan lässt die Frage offen.

85 Mithilfe der Astronomie beweist Aristoteles, dass es nicht mehr als 47 beziehungsweise 55 verschiedene unbewegte Beweger geben kann. Zu diesem Punkt konnte aber keinesfalls die Theologiké kommen, da diese Kenntnis ausschließlich vom astronomischen System abhängig ist. Über die Zahl der Kugeln beziehungsweise der unbewegten Beweger vgl. unter anderen Fazzo (2012), 293ff.

Charakter besitzt. Einige Kommentatoren verwenden den Ausdruck im zweiten Sinne, jedoch verfälscht – L handle von der unsichtbaren Substanz und soll gerade deshalb ein theologisches Werk sein. In diesem Sinne ist der Begriff eher in seiner ersten Bedeutung zu verstehen. Andere, wie beispielsweise Ross, gehen zu weit, wenn sie die Meinung vertreten, L sei grundsätzlich eine Schrift über Gott sowie über andere göttliche Substanzen. Damit glauben sie nicht nur irgendein theologisches Thema zu erkennen – sie schreiben dem Stagiriten sogar die Absicht zu, er hätte eine solche Theologie verfassen wollen.

Aristoteles’ Gründe, die Untersuchung von L zu beginnen, sind jedoch ganz andere. Aristoteles interessiert sich für eine kausale Welterklärung. Im Laufe der Metaphysik bleibt er seinen Untersuchungen über die Kosmoskausalität treu.

Die Erlangung einer aufgeklärten philosophischen Erklärung der Bewegung war ursprünglich der Reiz der ersten Denker. Bei dieser philosophischen Untersuchung der Kausalität „entdeckt“ oder „begegnet“ der Stagirit dem Göttlichen – dies gilt auch für seine Vorläufer. Deshalb muss sich Aristoteles damit erst einmal genauer befassen. Wenn die Gottheit im Buch L der Metaphysik vorkommt, handelt es sich um eine „Entdeckung“ –durch die Weltkausalitätsforschung–, nicht um einen Teil eines Systems, in dem man bereits a priori einen Platz für Gott hätte. Aristoteles hat also überhaupt kein Interesse daran, eine systematische Gottesdarstellung oder gar eine Gotteslehre anzubieten. Dafür sind die Möglichkeitsbedingungen weder historisch noch kulturell oder philosophisch gegeben.

Auch wegen des an Gott orientierten Endes von L wird seit langem darauf beharrt, dass das zwölfte Buch ein Text über Theologiké (oder über

„Theologie“) ist. L ist nicht das einzige Werk des Stagiriten, das mit ähnlichen Worten endet, wie bereits von Menn beobachtet wurde: Physik, De generatione et corruptione, De anima, Nikomachische und Eudemische Ethik haben alle ein solches an Gott orientiertes Ende. In L widmet Aristoteles sich jedoch etwas völlig anderem. Gott an sich ist keineswegs das Ziel der aristotelischen Untersuchungen. Wäre dies der Fall, wäre anzunehmen, dass Aristoteles höchstwahrscheinlich eine zusätzliche Schrift darüber verfasst hätte. Es liegen jedoch keine Hinweise vor, dass er darüber ex professo schrieb. Was man unter dem heutigen Begriff „Theologie“ versteht, ist im aristotelischen Corpus nicht

zu finden – nicht einmal im Buch L86. Deshalb kommen mehrere erklärungsbedürftige Schlüsselbegriffe ins Spiel, die zu unterscheiden sind:

sofi/a, prw/th filosofi/a und qeologikh/ und auch die Neologismen „Ousiologie“

und „Archäologie“. Tatsächlich kreuzen sich diese Begriffe. Burnyeat erklärt dieses Phänomen folgendermaßen87:

It is because ‘all things are explained by reference to their primary case’ that the core task of first philosophy turns out to be an investigation into the causes and principles of substantial being. Substantial being is primary, so the most general science there is must culminate in the primary cause of the primary kind of substantial being, namely, God.

Es ist also unabdingbar, diese Begriffe zu unterscheiden. Folgendes Schema repräsentiert die verschiedenen Disziplinen, wie sie meiner Ansicht nach zu gliedern sind:

86 Für einen Überblick der entsprechenden Stellen vgl. die ‚Tabelle’ als Anhang dieser Arbeit.

Auch in anderen Werken des Corpus sind die Begriffe „qeo/j“, „qeoi/“ und „to\ qei=on“ zu finden.

Für einen ausführlichen Überblick vgl. Bonitz (1870), 325: „qeo/j, qeoi/, to\ qei=on“. Er zitiert folgende Passagen der Metaphysik in seinem Index Aristotelicus: A2 983a1-2, 983a8, K7 1064a37, L7 1072a23, 1072a25-26, 1072b14, 1072b18, 1072b29, L9 1074b21. Des Weiteren: Topica 4 126a35, 126a38, 5 128b19, 132b11, 6 136b7; Physica 8 259a14; De caelo 1 271a33, 279a28, 279a32, 2 286a9;

De generatione et corruptione 2 336b32ff.; De mundo 2 391b11, 6 397b14, 400b8; De partibus animalium 2 656a8, 4 686a28; Ethica Nicomachea 7 1154b26, 8 1158b35, 1159a4, 10 1177a15, 8 1178b7-32, 10 1179b22; Magna ethica 2 1200b13, 11 1208b29ff., 15 1212b35, 1249b16; Ethica Eudemia 7 1238b27, 10 1242a33, 1242b20, 12 1244b8, 1245b17, 14 1248a26, 1248a28, 15 1249b14, 1249b16-17, 1249b20; Politica 3 1287a29, 7 1323b23, 1325b28.

87 Burnyeat (2001), 139.

Ousiologie

qeologikh/

(unsichtbare Substanzen)

menschliche sofi/a (prw/tai a)rxai/)

* Innerhalb des Corpus: prw/th filosofi/a

* Neologismus in Bezug auf die alten Denker: „Archäologie“

Homonymie

Astronomie göttliche sofi/a

(no/hsij noh/sewj)

Der Stagirit verfolgt in der Metaphysik eine Untersuchung der Prinzipien.

Deshalb erklärt er gleich zu Anfang seines Werkes, was er unter „sofi/a“ versteht88:

Göttlich aber dürfte allein sie [die sofi/a] im zweifachen Sinne sein: Einmal nämlich ist die Wissenschaft göttlich, welche der Gott am meisten haben mag, und zum anderen die, welche das Göttliche zum Gegenstand haben dürfte. Bei dieser Wissenschaft allein trifft beides zugleich ein; denn Gott gilt allein für eine

Göttlich aber dürfte allein sie [die sofi/a] im zweifachen Sinne sein: Einmal nämlich ist die Wissenschaft göttlich, welche der Gott am meisten haben mag, und zum anderen die, welche das Göttliche zum Gegenstand haben dürfte. Bei dieser Wissenschaft allein trifft beides zugleich ein; denn Gott gilt allein für eine