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L IST ERSTE PHILOSOPHIE

2. Kritik an Judsons Position

Michael Frede hatte bereits die Einheit eines einzigen Projektes in L verteidigt, nämlich aus zwei Gründen: Weil er die Unabhängigkeit des Buches L vom Rest der Metaphysik betonte und weil er fälschlicherweise bei der Interpretation des ganzen Buches ausschließlich auf den Passus 1069a34-b2 setzte. Judson erbt Fredes Interpretation, indem er sich auf die Diskussion jener Passage stützt, und so treibt er auch die Fredesche Hermeneutik bis zu ihren letzten Konsequenzen. Gerade deswegen leugnet er, L sei ein voll und ganz ousiologischer Text, wie Frede es wollte. Seinerseits hält Judson L für die im Corpus einzige systematische Darstellung der ersten Philosophie. Er denkt, dass

L die Prinzipien aller Dinge sucht, und so habe es Aristoteles bereits in L1 erörtert. So schreibt Judson dieses Projekt dem Buch L – vor allem den Kapiteln 4 und 5 – gerne zu. Danach sucht er eine entsprechende Interpretation, die Hinweise darauf liefern soll: „Of course, this explanation might turn out to be unworkable; but we should, naturally, try first for an interpretation which makes it work“279. Es mag sein, wie Judson will, dass L die einzige aristotelische Schrift über die erste Philosophie ist. Aber das sollte man nicht als Ausgangspunkt, sondern eher als Endpunkt auffassen, wenn es überhaupt der Fall sein soll280. Anders ausgedrückt: Um die Absicht des Stagiriten in L zu begreifen, ist die Frage, ob es in dem Text um die erste Philosophie geht, eher falsch gestellt.

Diese Frage darf man später stellen, denn erst am Ende kann man sie entweder positiv oder negativ beantworten. Eine sinnvolle Einstiegsfrage lautet vielmehr zum Beispiel: „Wovon handelt L eigentlich?“. Es scheint, als hätte Judson L

rückwärts gelesen: In dem in L1 vorgestellten Programm äußert sich Aristoteles nicht über die erste Philosophie und erst am Ende merkt der Leser des Buches, dass L doch bereits von Anfang an etwas darüber zu sagen hatte. Doch zu dieser Erkenntnis kommt man erst nebenbei. Es könnte gut sein, dass

277 Judson (2007), 13.

278 Judson (2007), 13: „[...] or at least as co-ordinate parts of the same project“.

279 Judson (2007), 13.

280 Darüber wird im letzten Kapitel dieser Arbeit ausführlicher diskutiert.

Aristoteles es sich so gewünscht hat. Doch wenn Judson dieses Programm L

zuschreibt, räumt er etwas Nebensächlichem zu viel Bedeutung ein, denn in L1 ist keine Aussage über eine vermeintliche erste Philosophie zu finden.

Die Judsonsche Auffassung über die erste Philosophie gleicht einem Konstrukt aus verschiedenen Teilen. Da es eine symmetrische Korrespondenz zwischen L und der ersten Philosophie geben soll, muss auch die Architektur von L komplex sein. So erkennt er eine ungewöhnliche architektonische Zusammenstellung von L: Programmdarstellung (L1), Ousiologie (L2-3), Archäologie (L4-5) und Theologie (L6-10), wobei er die Ousiologie von der Archäologie abhängig macht281. Die Ousiologie ordnet sich letztendlich der Archäologie unter, da die erste Hälfte von L bei Judson als eine archäologische Schrift gilt282. Zunächst reduziert er die Untersuchung aller Prinzipien – die Archäologie – auf eine Analyse der Prinzipien der sichtbaren Substanz283. Diesem von Judson vorgeschlagenen Modell nach würde L folgendermaßen aussehen: Laut dem Programm des ersten Kapitels wäre L eine Untersuchung der Prinzipien aller Dinge im Kosmos. Aber Aristoteles untersucht faktisch nur die Prinzipien der sichtbaren Substanzen – das macht er in L2-5. Diese Untersuchung muss allerdings, so Judson, noch von der Theologie – durch L 6-10 – bestätigt werden. So will Judson die Idee der Spaltung von L in zwei Hälften überwinden. Die Ansicht Judsons, L von dieser Spaltung zu befreien und die Kapitel L1-5 als wesentliche Teile des gesamten Projektes anzuerkennen, ist richtig. Selbst wenn er diese Aufteilung expressis verbis ablehnt, räumt er doch ein, dass verschiedene Themen in beiden Teilen behandelt werden müssen, um die Kohärenz des gesamten Projektes zu bewahren. Judson sieht in den beiden Teilen von L kein doppeltes Programm, sondern zwei Teile eines einheitlichen Programms, und zwar „a general investigation of natural substances qua being substances“ und „a sketch of

281 Judson (2007), 9: „[...] L is ‘both’ an investigation of the different kinds of substance [Ousiologie]

and an account of the principles of substance [Archäologie] – and, moreover, [...] it seems concerned with the existence and particular nature of just one of these kinds of substance [göttliche Substanz] and shows little or no apparent interest in the principles of that kind“.

282 Judson (2007), 26: „it certainly might seem as if chapters 1-5 investigate only the general principles of ‘natural substances’, and it is of course true that chapters 2-5 are explicitly characterized as concerned with the two kinds of natural substance […]“.

283 Judson (2007), 28: „it is thus quite plausible to imagine that Aristotle took the first half of L to have investigated the principles of ‘all’ substances: he can do this within the overall structure of the book because in arriving at the principles of natural substance he has arrived at the principles of all. We can in this way give due weight to the generality of the opening of L1 ‘and’ to the focus on the principles of natural substances in chapters 2-5“.

departmental theology“284. So muss er nun die Kohärenz zweier vermeintlicher Teile eines einzigen Planes erklären. Um das zu erreichen, vervielfacht Judson die Mittel und fügt sogar manch neuen Begriff hinzu: science of being, departmental science, (general) theology und general metaphysics. Eine ökonomische Erklärung liefert er nicht. Alles wird nur noch komplexer.

In seiner Sprache ist der schwierigste Begriff der der Theologie. Da die Theologie ein doppeltes Antlitz besitzt, muss sie genauestens erklärt werden.

Obwohl sie eine punktuelle Disziplin ist – ein departmental science, wie Judson sagen würde –, ist sie gewissermaßen auch universell: „kaqo/lou [...] o(/ti prw/th“.

Sie ist also eine eigenständige Wissenschaft und zugleich ein wesentlicher Teil der ersten Philosophie, die er zuweilen285 auch Wissenschaft vom Seiendem – science of being – nennt. Somit versteht Judson die Theologie als eine von der allgemeinen Metaphysik abhängige Disziplin, und führt dann beides in einem einzigen Begriff –„erste Philosophie“– zusammen. Gegen seine eigene Interpretation macht Judson folgenden Einwand: Wenn die Theologie von L

nur die Metaphysik validieren will, wieso sind in L7-10 so viele Details zu finden? Er denkt, diese Details seien wohl notwendig, um die Aktivität des nou=j

zu verstehen [L7 und 9]; außerdem wird dort erklärt, wie der Kosmos, der von einem Prinzip abhängt, eine ordentliche Einheit ist [L10]. Judsons Antwort scheint ungenügend. Auf der einen Seite äußert er sich nicht über die Rolle von

L8, auf der anderen Seite behauptet er, dass diese vielen Details faktisch nur für die Theologie als Fachdisziplin wichtig sind. Für diese interessiert sich Judson jedoch nicht. Wäre (das zentrale Interesse der Theologie in) L die erwähnte Validation der generellen Metaphysik, dann schiene L7-10 vielmehr eine inhaltslose Abschweifung zu sein.

Judson „konstruiert“ also aus der Theologie und der generellen Metaphysik die erste Philosophie. So schließt er den Kreis und erklärt: L ist ein Aufsatz über die erste Philosophie286 und alle seine Teile kreuzen sich im Ziel. Der metaphysische Bereich kann L1-5 annektieren, weil die generelle Untersuchung der Substanzprinzipien, die dort stattfindet, ein wesentlicher Teil der ersten

284 Judson (2007), 2. Der Begriff departmental science wird nicht weiter erklärt. Dafür macht er Gebrauch von einem anderen Begriff (general theology), der von Frede stammt. Außerdem liefert er noch ein weiteres Beispiel: Ein gewisses Buch der Metaphysik; vgl. Frede (1987), 94.

285 Vgl. Judson (2007), 35.

286 Vgl. Judson (2007), 3 und 36.

Philosophie ist287. Die Theologie ist insofern vorhergehend, da sie das System und somit auch die erste Philosophie validiert. In diesem Sinne rehabilitiert Judson eine neue Variante der theologischen Lesart. Gleichzeitig will er eine

„generell-metaphysische“ Lesart oder „erste-philosophieartige“ Lesart etablieren.

287 Vgl. Judson (2007), 4-5. Dies behauptet schon Frede. Jaeger und Ross sind aber der Meinung, L1-5 sei Bestandteil der Physik. Vgl. auch Metaphysica G2 1003b15-19: „dh=lon ou)=n o(/ti kai\ ta\ o)/nta mia=j qewrh=sai v(= o)/nta. pantaxou= de\ kuri/wj tou= prw/tou h( e)pisth/mh, kai\ e)c ou(= ta\ a)/lla h)/rthtai, kai\

di¡ o(\ le/gontai. ei) ou)=n tou=t¡ e)sti\n h( ou)si/a, tw=n ou)siw=n a)\n de/oi ta\j a)rxa\j kai\ ta\j ai)ti/aj e)/xein to\n filo/sofon („Also gehört offenbar auch alles Seiende als Seiendes einer einzigen Wissenschaft an. Überall geht aber die Wissenschaft vornehmlich und zunächst auf das Erste, von dem das übrige abhängt und wonach es benannt ist. Ist dies nun die Substanz, so muss der Philosoph die Prinzipien und die Ursachen der Substanz (erfasst) haben“; Hermann Bonitz’ Übersetzung).