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Ist L abhängig oder unabhängig von der Metaphysik?

L IST SOPHIA

2. Ist L abhängig oder unabhängig von der Metaphysik?

Im Jahre 1834 behauptet Brandis zum ersten Mal, L sei ein Buch für sich selbst, das heißt, es sei kein Teil der Metaphysik. Obwohl Schwegler sehr früh (1846) seine Zweifel daran äußert, weil er glaubt, die Antworten zu den Aporien in L

zu finden, gewinnt Brandis’ Idee dank Jaeger und Ross an Zuspruch. Schwegler selbst entdeckt die von Pseudo-Alexander beobachtete Spaltung des Buches in zwei Hälften wieder – eine Lesart, die von Bonitz weiterhin intensiv unterstützt wird. Später vereinen sich bei Jaeger beide Ideen, das heißt die brandissche und die schweglersche Lesart. Jaeger argumentiert, L könne aufgrund seiner Zweiteilung nicht zur Metaphysik gehören. Diese vermutete Teilung sollte gleichzeitig die wichtigsten Diskussionen der Metaphysik widerspiegeln. Peu à peu erklärt sich L durch diese Hermeneutik von der Metaphysik unabhängig.

Dieser Status erreicht seinen Höhepunkt, als Ross L fast ein Jahrhundert später zu einem Werk des Aristoteles über systematische Theologie erklärt. Die Argumente dafür, L als ein eigenständiges Werk anzusehen, sind im Grunde genommen drei: (a) L zitiert kein anderes Buch der Metaphysik; (b) L mag sich nicht dem Rest der Metaphysik beziehungsweise den zehn ursprünglichen Büchern anpassen; (c) L befasst sich mit einem anderen Thema, nämlich mit den immateriellen Substanzen. In diesem Zusammenhang lautet Fredes Ausgangspunkt: Die philosophische community hält L für ein eigenständiges Werk353. Frede und Patzig sind sogar der Meinung, Aristoteles habe zuerst L

und erst danach die Substanzbücher geschrieben354:

Vielmehr scheint es so zu sein, dass L bereits geschrieben war, als die Metaphysik entstand, und dass sich Aristoteles hilfsweise dieses Textes bediente, um zunächst einmal überhaupt irgendeine Behandlung der Frage der immateriellen ousia zu haben.

353 Dies war damals immer noch umstritten; vgl. zum Beispiel Reale (1968) und (1997).

354 Frede & Patzig (1986), 23. Etliche Jahre später meint Frede; vgl. Frede (2000a), 3: „It still remains the case the L looks like an independent treatise which has just been inserted into the Metaphysics, a treatise which could as well have been inserted at the end of the Metaphysics rather than as the twelfth book, a treatise which has not been integrated even superficially into the surrounding text, which in its first part runs parallel to the discussion provided by the central books, and in that sense reduplicates it [...]“.

Tatsächlich sind Parallelen und Ähnlichkeiten zwischen L und den Substanzbüchern zu finden: Gödeckemeyer355 sieht beispielsweise eine Menge Ähnlichkeiten, Ross356 beobachtet später auch einen Parallelismus zwischen Z 7-9 und L2-3, um bloß zwei Beispiele zu nennen. Das Positive an Fredes Forderung, L als ein eigenständiges Buch anzunehmen, ist, dass es eine frische Lesart des Buches gebracht hat, ohne den Versuch, es a priori und a fortiori in Zusammenhang mit dem Rest der Metaphysik zu bringen. Fredes Erläuterung unterstützt tatsächlich die zunehmende Distanzierung der Kommentatoren zur theologischen Interpretation von L. Mit den philologischen Untersuchungen hat diese (erwünschte) „Entdeckung“ der Eigenständigkeit des zwölften Buches –das heißt, die angeführte Nicht-Zugehörigkeit zur Metaphysik von L– die Kommentatoren dazu geführt, L anders zu verstehen.

Um den Erfolg dieses „unabhängigen“ Verständnisses von L zu verstehen, muss man zwei Faktoren einbeziehen: (a) Das Problem der Integration der zwei Hälften von L, die bis damals fremd und unzusammenhängend waren, scheint damit gelöst zu sein. (b) Angeblich will die erste Zeile des L-Textes eine Theorie über die Substanz vorstellen, ohne eine klare Verbindung zu den vorherigen Seiten der Metaphysik herzustellen357. Seit Owens und vor allem dem XIV.

Symposium Aristotelicum im Jahre 1996 –Michael Fredes Vortrag überragt an diesem Punkt alle Anderen–, wird L als ein Aufsatz verstanden, der einzig und allein von der Substanz handelt. Das ist die jüngste Interpretation, die seit der Veröffentlichung der Akten des genannten XIV. Symposium Aristotelicum im Jahre 2000 allgemein akzeptiert und verbreitet wurde358. Das Verständnis der Eigenständigkeit von L bringt allerdings eine Schwierigkeit mit sich, auf die man gleich am Anfang von Fredes Arbeit stößt. Folgendes Zitat ist zwar lang, aber es lohnt sich, Fredes Meinung darüber zu kennen359:

The reason why this is crucial [L als selbstständiger Aufsatz, der ursprünglich zur Metaphysik nicht gehört] is that this assumption brings with it a certain approach to

355 Beispielsweise: L1 1069a18 soll Z1-2 entsprechen; L1-2 1069b3-34 ! H1 1042a24ff. und H5 1044b21ff.; L3 1069b35-1070a9 ! Z7-9; L3 1070a9-13 ! Z3 1029a2-7 und H1 1042a26-31; L3 1070a13-30 !Z8 1033b20-1034a8 und H3 1043b19-23; vgl. Gödeckemeyer (1907) und (1908).

356 Ross (1924), xxix.

357 Vgl. den Abschnitt ‚Eine schwache ousiologische Lesart von L’ im vorliegenden Kapitel dieser Arbeit.

358 Als eine der ersten akribischen Gegenreaktionen gilt Donini (2002). Für ihn wäre das ganze L Physik, müsste man L1-5 als Physik betrachten.

359 Frede (2000a), 4-5.

the text. If it originally was an independent treatise, we should approach it as such. And that is to say that in our interpretation of it we should not feel constrained by the assumption that the view it presents has to fit in with the view presented by what precedes and what follows L in the Metaphysics, that the arguments it advances fit in with an overall argument of the rest of the Metaphysics. For, given that the questions the Metaphysics raises as a text have not been fully resolved, we do not even know whether there is such a thing as an overall argument of the Metaphysics, whether there is an overall view presented by this writing. We do not know whether all the parts are informed by one and the same conception of the metaphysical enterprise. It seems safe to say that L is a metaphysical treatise, but we should not even presume from the outset that the conception of metaphysics underlying it is the same as that underlying other parts of the Metaphysics. In this sense we should approach it as a treatise by itself, try to understand it on its own terms, without letting our understanding of this be prejudged and constrained by what we believe we know about the rest of the Metaphysics so as to bring L in line with the text as a whole.

Damit deutet Frede an, dass wir L nicht zu einem Teil des Werkes, das wir unter dem Titel Metaphysik kennen, zählen sollten, selbst wenn es ein authentisches Werk des Aristoteles sei. Um dies zu erklären, hat sich der Gebrauch des Wortes „Projekt“ eingebürgert. So findet man Ausdrücke, die behaupten, L sei ein anderes Projekt als das der Metaphysik. Der Begriff

„Projekt“ kann leicht zu Missverständnissen führen. Es ist deswegen notwendig, seine doppelte Bedeutung zu erklären. „Projekt“ könnte sich gut auf den generellen Plan beziehen. Das Projekt der Politik ist beispielsweise die Begründung von Bedingungen für eine optimale Regierung der Polis360, während andererseits das Projekt der Poetik darin besteht, die Gründe und Elemente der Kunst des Dichters (Epos, Tragödie, Dithyramben-Dichtung, Komödie) zu etablieren361. Diese beiden Ideen könnte man „Verlagsprojekte“

oder vielleicht besser „bibliographische Projekte“ bezeichnen, da sie exoterische Werke des Stagiriten sind. So unterscheidet man sie von den schon bekannten Pragmatien. Die zweite Bedeutung des Ausdrucks ist eher philosophisch. Im Werk Politik stellt Aristoteles sein politisch-philosophisches Projekt vor, während er sein ästhetisches Projekt in der Poetik nur teilweise darstellt. Beide

360 Höffe (2005), 478: „(politei/a; lat. civilitas, res publica) meint damit die rechtlich-soziale, auch ökonomische und sittliche Ordnung eines Gemeinwesens, einschließlich dessen Ämtern, Gesetzen und maßgeblichen Zielen“.

361 Rapp (2005), 472: „Die ‚p.t.’ [poiêtikê (sc. technê)] untersucht, welche Wirkung jede Art von Dichtung hat, wie man die dargestellte Handlung komponieren muss und aus welchen Teilen ein Stück besteht, wenn die entsprechende Dichtung gut gelingen soll (Poet. 1, 1447a8ff.)“.

Werke – sowohl die Politik als auch die Poetik – gehören einem allgemeinen philosophischen Projekt seines Autors an. Im Gegensatz dazu gehören die Parva naturalia zum Beispiel eher zu einem anderen Projekt, einem biologischen. Was bedeutet also, dass L „ein anderes Projekt“ als das von der Metaphysik sei, oder dass L ein „eigenständiges Buch“ repräsentiere? Wer diese Ausdrücke verwendet, gebraucht die erste Bedeutung des Begriffs „Projekt“: L wurde nicht als ein Teil der Metaphysik geschrieben. Es ist trotzdem evident, dass beide Texte Teile eines gemeinsamen Projektes im Sinne der oben genannten zweiten Bedeutung sind: Beide sind Teile des metaphysischen Projektes des Stagiriten, Kernstücke seines Versuches, die Welt zu erklären. Mit dem Ausdruck

„eigenständige Schrift“ wird also vor allem angedeutet, dass L eine redaktionelle Einheit bildet. Dies heißt aber nicht, dass dieses Buch ein absolutes und fremdes Projekt verfolgt. Man kann –und muss sogar– Brücken zu anderen Gliedern der Metaphysik und des Corpus bauen, um L besser zu verstehen. Die redaktionelle Autarkie von L bedeutet insofern nicht, dass alle notwendigen Elemente für das Verständnis des Textes im Text selbst zu finden sind. Au contraire: Da L die Suche der ersten Prinzipien darstellt, sollte man möglichst viele Vorkenntnisse aus anderen Büchern der Metaphysik und des Corpus sammeln.

2.1 Gemeinsamkeit eines Projektes: A und L

Betrachtet man L als Ganzes, bemerkt man, dass es tatsächlich Gemeinsamkeiten mit dem allgemeinen Projekt der Metaphysik hat, unabhängig davon, ob sich dieses während des Lebens seines Autors weiterentwickelte oder nicht, oder ob verschiedene Darstellungen mehrerer Projekte in L enthalten sind oder nur eine einzige. Selbst wenn L ursprünglich nicht zum Buch Metaphysik gehörte, schließt dies nicht aus, dass wir es als einen Teil des ganzen metaphysischen Projekts des Aristoteles verstehen müssen. Um es anders auszudrücken: Der Leser muss im Hinterkopf behalten, dass das zwölfte Buch mit dem weitreichenderen metaphysischen Projekt des Aristoteles verbunden ist. Der Leser muss sich bewusst sein, dass L unumstritten ein Teil davon ist362.

362 Ein Beispiel zur Verdeutlichung: Im Gegensatz dazu sind die zoologischen Schriften kein Teil des metaphysischen Projektes.

Nur mit den notwendigen Vorkenntnissen über die aristotelische Lehre der Metaphysik ist man in der Lage, L richtig zu interpretieren.

Aristoteles bearbeitet L mit demselben Geist und demselben Impuls, wie beim Schreiben der Metaphysik beziehungsweise des ganzen Corpus. Als Bestätigung dafür dienen beispielsweise die zahlreichen Teile des L-Textes, die mit Passagen anderer Bücher der Metaphysik verwandt sind. Burnyeat hat etwas dazu zu sagen: Seiner Meinung nach gab es ein großes und allgemeines Projekt – oder sogar mehrere Projekte –, um die erste Philosophie fortzuführen. Keins davon scheint aber vollendet worden zu sein. Er denkt, L sei ein Teil davon, selbst wenn es ein anderes Projekt als das von ABGE, ZHQ, I oder MN war. Das heißt, L ist doch Bestandteil des metaphysischen oder erst-philosophischen Projektes des Aristoteles gewesen, genau wie die anderen schon genannten Teile, auch wenn es offenbar zu einem anderen bibliographischen Projekt gehören würde363:

That is why I belongs in the Metaphysics alongside ZHQ and L. But this does not make it the link between ZHQ and L. There is no such link. [...] But it [I] has no organic connection with either of the Books that flank it. [...] L does not belong in the sequence.

The Metaphysics as we have it is a patchwork, irretrievably incomplete. There was an overall plan for developing first philosophy, or several such plans. But none was ever completed. L was completed. But if, as we saw earlier, L begins where Z begins, it is unlikely to have been part of any plan that included ABGE, ZHQ, or I and MN.

Das metaphysische Projekt des Aristoteles verfügt über verschiedene Aspekte, Diskussionen und Fragen, aber grundsätzlich ist es ein weiterer Aspekt der Frage par excellence der vorsokratischen Philosophie: die Frage nach der beweglichen Realität und ihrer Prinzipien. Fredes Vorschlag – L als einen vollständig vom Rest der Metaphysik unabhängigen Text anzuerkennen – scheint unsinnig, wenn nicht sogar unmöglich. Wie kann man überhaupt L

begreifen, wenn man noch nicht einmal Grundkenntnisse über die darin enthaltenden Begriffe hat?364

363 Burnyeat (2001), 140.

364 Es ist außerdem umstritten – Frede und andere Autoren behaupteten es dennoch –, dass die Metaphysik tatsächlich von Aristoteles stammt. Man kann also weder so tun, als ob L nicht das Werk des Autors der Metaphysik, noch ob L das einzige Werk des Autors sei. Da L eine Schrift des Aristoteles ist, sollte es als ein aristotelischer Aufsatz gelesen, verstanden und begriffen werden.

Zuerst Schwegler und später auch Merlan behaupten, dass Aristoteles in L Metaphysics, and in picking up that discussion now he is identifying the skopo/j of L, not in the first instance as ousiology, but as archeology.

Die erste Äußerung des Aristoteles am Anfang des zwölften Buches lautet:

peri\ th=j ou)si/aj h( qewri/a“ („Über die Substanz geht die Betrachtung“)367. Es ist für viele nicht völlig klar, ob mit „h( qewri/a“ das ganze Buch L bezeichnet wird oder etwas anderes. Diskussionen darüber gab es sowohl früher als auch heute.

365 Vgl. Merlan (1946), 21, Fußnote 66.

366 Menn (masch. Manuskript), § „L1, the status of L1-5, and the skopo/j of L“, 13-23. In seinem Beitrag zum XVI. Symposium Aristotelicum erwähnt Menn diese Idee mehrere Male, wie zum Beispiel (2009), 212-213: „Aristotle had described wisdom as the science of the a)rxai/ and first causes, and he regards this as the consensus of all who pursue knowledge for its own sake. Each pre Socratic physicist tries to explain all things by tracing them back to the a)rxai/, where the a)rxai/ are the first of all things, whatever there was before the ordered world came to be out of them: the correct a)rxh/ for beginning the narrative discourse about the world is with the a)rxh/ or a)rxai/ from which the world itself began, and the only first causes that we can use to explain the things in the world are the a)rxai/ that we have posited at the beginning [...] Aristotle’s predecessors thus agree that wisdom will be a knowledge of the a)rxai/, even if they have very different views on what these a)rxai/ are, how they are causes, and what discipline leads us to know them. When Aristotle says that wisdom is the science of the a)rxai/, he does not mean ‘a)rxh/’ simply in the broad sense in which it is coextensive with ‘cause’ (in that sense, all sciences are sciences of a)rxai/), but in the same strict sense in which the physicists and Academics meant it, the first of all things. And in A and B he is pursuing the questions of what these a)rxai/ are, how they are causes (and of what), and whether any of the disciplines that have so far been practised as means to the a)rxai/ – physics, dialectic, and Pythagorizing mathematics – have succeeded in reaching the a)rxai/, or whether some new discipline must be found. Aristotle will claim, in Metaphysics E1, that wisdom must be a ‘first philosophy’ considering separately existing immaterial things, distinct from physics (which deals with things that have separate existence but are material) and from mathematics (which, Aristotle says, deals with things that are immaterial but do not exist separately); dialectic, as a science of immaterial, separately existing Platonic Forms, might be such a first philosophy if there were Platonic Forms, but there are not, and a fourth discipline is needed. And one of Aristotle’s reasons for raising aporiai about the a)rxai/ (both in A and in B) is to show that earlier philosophers, and the disciplines they practise, are not able to solve these aporiai, and thus to motivate the Metaphysics’ project of constructing a new discipline for reaching the a)rxai/; he will take up many of the aporiai in L, and will argue there that he is able to solve the aporiai, and (especially in thepolemical conclusion L10, 1075a15-1076a4) that his competitors are not.“

367 Metaphysica L1 1069a18. Eine ähnliche Idee findet man am Anfang des Buches E, im Passus 1025b3-4: „ai( a)rxai\ kai\ ta\ ai)/tia zhtei=tai tw=n o)/ntwn, dh=lon de\ o(/ti $(= o)/nta“ („Die Prinzipien und Ursachen des Seienden, und zwar insofern es Seiendes ist, sind der Gegenstand der Untersuchung“; Hermann Bonitz’ Übersetzung). Darin darf man eine Kontinuität der aristotelischen Forschung erblicken.

Man geht davon aus, es beziehe sich doch auf das ganze Buch L, sofern es sich dabei tatsächlich um ein eigenständiges Buch handelt.

Ich sehe im Wort „qewri/a“ dennoch ein weiteres Zeichen für das Verhältnis zwischen A und L, um zu argumentieren, dass es doch ein Teil eines breiteren Werkes – nämlich der Metaphysik – ist. Das Substantiv „qewri/a“ stammt von dem Verb „qewre/w“ und bedeutet „sehen“. A1 ist voll von Referenzen zu diesem und weiteren ähnlichen Verben des Sehens, wenn Aristoteles über die gerade begonnene Untersuchung der Prinzipien aller Dinge spricht. In A5 986b13 und b18 zum Beispiel verwendet er auch den Ausdruck „ske/yij (tw=n ai)ti/wn)“, um sich erneut über die vorliegende Untersuchung der Prinzipien zu äußern. Das Substantiv stammt von einem ähnlichen Verb des Sehens: „ske/ptomai“; es heißt so viel wie „anschauen“, „betrachten“ oder „beobachten“368. Gleich danach kommt wiederum das Substantiv „zh/thsij“ vor, welches von dem Verb „zhte/w“ stammt. Damit bezieht man sich nicht nur auf die „Suche“ und die

„Untersuchung“, sondern auch auf den Begriff „Bewunderung“ – ein Wort, dass Brücken zu den Verben des Sehens baut, denn „Bewunderung“ ist ein Schlüsselbegriff in den Büchern A und a der Metaphysik369. Aristoteles vergleicht sogar die philosophische Suche mit dem Sehen („o)/mmata“) der Fledermäuse370. Diese visuelle Metapher wird in demselben Kontext später wieder verwendet371. Als einziges Gegenbeispiel könnte man das Verb „qigga/nw“ anführen, welches eher einen taktilen Aspekt andeutet: „umarmen“ oder „sich mit etwas befassen“372. Mit dem Wort des Sehens in der ersten Zeile von L mag Aristoteles also andeuten, dass diese Untersuchung dieselbe Untersuchung wie im ersten Buch ist.

368 Vgl. auch a3 998a17-18: „dio\ skepte/on prw=ton ti/ e)stin h( fu/sij“.

369 Vgl. auch dem Wort „zhth/simoj“, einem verwandten Wort, das auch der Bedeutung Sehen nahe kommt: ‚Jener Ort, wo man Wild findet’.

370 Metaphysica a1 993b9-11: „w(/sper ga\r ta\ tw=n nukteri/dwn o)/mmata pro\j to\ fe/ggoj e)/xei to\ meq¡

h/me/ran, ou/(tw kai\ th=j h(mete/raj yuxh=j o( nou=j pro\j ta tv= fu/sei fanerw/tata pa/ntwn“ („Wie sich nämlich die Augen der Fledermäuse gegen das Tageslicht verhalten, so verhält sich die Vernunft unserer Seele zu dem, was seiner Natur nach unter allem am offenbarsten ist“;

Hermann Bonitz’ Übersetzung). Bonitz gibt „nukteri/j“ als „Eule“ fehlerweise wieder.

371 Vgl. zum Beispiel Metaphysica A5 986b24: „[...] a)ll¡ ei)j to\n o(/lon ou)rano/n a)poble/yaj to\ e(/n ei)=nai/

fhsi to\n qeo/n“ („[...] sondern im Hinblick auf den ganzen Himmel sagt er, das Eine sei Gott“;

Hermann Bonitz’ Übersetzung).

372 Vgl. Metaphysica A7 988b18. Ähnlicherweise ist „a)kroa/seij“ (aus „a)kroa/omai“: „zuhören“,

„anhören“) in a3 994b32 zu finden. Ich nehme dies nicht als Gegenbeispiel, da es dort nur sehr allgemeinen angesprochen wird.

2.2 Auf der Suche nach der archäologischen Rolle von L innerhalb der Metaphysik

Auf der anderen Seite schreibt Aristoteles ausführlich über die Substanz in den sogenannten mittleren Büchern der Metaphysik. Eine der darin erhaltenen Hauptideen lautet, die Substanz sei das Erste373. Diese Idee konvergiert mit dem Anfang von L. Jedoch könnte die genannte Konvergenz wieder zu einer falschen Auslegung des Textes führen und gewissermaßen – aus Gewohnheit oder aufgrund von Trägheit – auch ein Hindernis darstellen, L anders zu lesen.

Die Konvergenz beabsichtigt meiner Meinung nach, keine noch ausführlichere Version der (teilweise) bereits bekannten Substanzlehre auf den Tisch zu bringen, sondern erfordert eher eine neue Diskussion.

Die Fredesche ousiologische Lesart ist nicht gerade ökonomisch. Wozu eine andere Darstellung derselben Lehre? In der Tat bietet L nur wenige Neuigkeiten über die Substanzlehre an374. Ich teile Fredes Einschätzung nicht, dass Aristoteles sich auch hier erneut prinzipiell über die Substanzen äußern will. Ich gehe deshalb davon aus, dass Aristoteles in Wahrheit etwas anderes als eine neue Darstellung seiner Substanzlehre erarbeiten will. Ich erachte L

also eher für einen Versuch, die (ersten) Prinzipien zu erklären. Der Kontrast zu Fredes Position ist nun offensichtlich. Er behauptet, die Substanzlehre führe zwangsläufig zur Untersuchung der Substanzprinzipien. Dieses sei also der

also eher für einen Versuch, die (ersten) Prinzipien zu erklären. Der Kontrast zu Fredes Position ist nun offensichtlich. Er behauptet, die Substanzlehre führe zwangsläufig zur Untersuchung der Substanzprinzipien. Dieses sei also der