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Die Rezeption des Buches Lambda der Metaphysik des Aristoteles und dessen Prinzipienlehre

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Academic year: 2022

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DIE REZEPTION DES BUCHES L DER METAPHYSIK DES ARISTOTELES UND DESSEN PRINZIPIENLEHRE

Dissertation

zur Erlangung des akademischen Grades Doctor philosophiæ

(Dr. phil.)

eingereicht

an der Philosophischen Fakultät I der Humboldt-Universität zu Berlin

und verteidigt am 3. Juni 2011

von Mag. phil. Enrique José García de la Garza

Der Präsident der Humboldt-Universität zu Berlin Der Dekan der Philosophischen Fakultät I

Gutachter

1. Prof. Dr. Christoph Helmig 2. Prof. Dr. Christof Rapp

(2)

Para Carlos mi hermano in memoriam

(3)

to\ de\ tou=to zhtei=n e)sti\ to\ th\n e(te/ran a)rxh\n zhtei=n, w(j a)\n h(mei=j fai/hmen, o(/qen h( a)rxh\ th=j kinh/sewj

Metaphysica A3 984a25-27

(4)

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT | 1

EINLEITUNG | 5

1. Das vorsokratische Denken über das Göttliche | 10

2. Ursprung und Gebrauch der Begriffe „Theologie“ und „natürliche Theologie“ | 14

3. Skizzierte Rekonstruktion der Gotteslehre Platons | 16 4. Die aristotelische qeologikh/ | 19

5. Die Untersuchung der Prinzipien: sofi/a, prw/th filosofi/a und qeologikh/ | 22

1. KAPITEL: L IST THEOLOGIE | 30

1. Die Überlieferung von L unter den peripatetischen Denkern | 30 2. Themistius’ Paraphrase | 35

3. Wandlungen in der Interpretation von L unter den Neoplatonikern | 39 4. Die syrische Schule und die Araber | 42

5. Moderne Kommentatoren | 43

5.1 Philologische und philosophische Kommentare des XIX. Jahrhunderts in Deutschland | 44

5.2 Sir William David Ross | 51

5.3 Weitere Kommentatoren des XX. Jahrhunderts | 53

2. KAPITEL: LIST OUSIOLOGIE | 60 1. Ursprung dieser Interpretation | 60 2. Michael Fredes Interpretation | 64 3. Kritik an Fredes Position | 80

3. KAPITEL: L IST ERSTE PHILOSOPHIE | 89

1. Lindsay Judson: ein Kompromiss zwischen Theologie, Archäologie und Ousiologie | 89

2. Kritik an Judsons Position | 95

(5)

4. KAPITEL: L IST ARCHÄOLOGIE | 99

1. Stephen Menn: L ist Archäologie – die letzte Phase der Suche der sofi/a | 100 2. Kritik an Menns Position | 111

5. KAPITEL: L IST SOPHIA | 117 1. Die Architektur von L | 119

1.1 Das strategische Programm von L | 119

1.2 A map of Metaphysics L(nach dem Beispiel von M. Burnyeat) | 126 1.3 Entscheidende Begriffe in L | 135

2. Ist L abhängig oder unabhängig von der Metaphysik? | 136 2.1 Gemeinsamkeit eines Projektes: A und L | 139

2.2 Auf der Suche nach der archäologischen Rolle von L innerhalb der Metaphysik | 143

3. Wortuntersuchung | 146

4. Meine eigene Position: L ist sofi/a | 148

4.1 Eine schwache ousiologische Lesart von L | 149

4.2 Meine Position Menns archäologischer Lesart gegenüber| 157 4.3 Ein Einwand | 162

SCHLUSSWORT | 165

ANHÄNGE

1. Ein Reiseführer für L | 171 2. Tabelle: Begriffe in L | 195

BIBLIOGRAPHIE |

1. Aristoteles Literatur: kritischer Text, kommentierte Übersetzungen | 7 2. Antike Kommentare zu Aristoteles | 199

3. Weitere Kommentare zu Aristoteles | 200 4. Spezialliteratur zur Metaphysik L | 201 5. Spezialliteratur zu Aristoteles | 205 6. Klassische Autoren | 212

7. Weitere Fachliteratur | 213 8. Verschiedenes | 218

19 197

(6)

VORWORT

Gegenstand dieser Arbeit ist das zwölfte Buch der Metaphysik des Aristoteles.

Es liegen zwar bereits zahlreiche Studien über das Buch L vor, aber bis jetzt hat noch niemand die verschiedenen Interpretationen, die im Laufe der Geschichte über diesen Text entstanden sind, zu analysieren versucht1. Aufgrund der Tatsache, dass L ein wesentlicher Text nicht nur für das Verständnis des komplexen Denkens des Aristoteles ist, sondern auch für eine bessere Verständigung der westlichen Zivilisation, ist eine Untersuchung dieses wichtigen Buches erstrebenswert.

Viele Autoren haben sich schon mit der Metaphysik befasst, wie zum Beispiel Alexander von Aphrodisias, Themistius, Symplikios, Philoponos, dann Thomas von Aquin oder Averroës, und später Bekker, Bonitz, Schwegler, Ross, Guthrie, Merlan, Gadamer, Jaeger, Tricot. Sie alle schrieben Kommentare dazu. Von besonderer Bedeutsamkeit sind Leo Elders2, Giovanni Reale3, Michael Bordt4 und Erwin Sonderegger5, da es sich bei ihren Kommentaren zum Buch L um die wenigen aktuellen unserer Zeit handelt. Jedoch liegt das Problem darin, dass Elders und Reale von einer völlig veralteten Auslegung – die L für ein theologisches Werk hält – ausgehen. Bordt und Sonderegger verlassen allerdings die alte Interpretation. In dieser Hinsicht hat auch das XIV.

Symposium Aristotelicum kürzlich den Untersuchungen zum Buch L einen neuen Impuls gegeben6. Eine besondere Rolle in dieser Arbeit spielen Joseph Owens7, Richard Sorabji8, Michael Frede9 und Stephen Menn10. Owens äußerte hier zum

1 Als die erste Version dieser Arbeit bereits vorlag, ist ein Kommentar zu L samt historischem Überblick über die verschiedenen Interpretationen erschienen. Vgl. Sonderegger (2008).

2 Vgl. Elders (1972).

3 Vgl. Reale (1993).

4 Vgl. Bordt (2006).

5 Vgl. Sonderegger (2008).

6 Vgl. Frede & Charles, Hgg. (2000).

7 Vgl. Owens (1979).

8 Vgl. Sorabji (1990a).

9 Vgl. Frede (2000a) und (2000b).

10 Vgl. (masch. Manuskript), The aim and the argument of Aristotle’s Metaphysics, vor allem den dritten Teil „The true path“. Da betrachtet Menn Bücher Q und L als eine thematische Einheit.

Menn (masch. Manuskript), § „Q and the ongoing investigation peri\ a)rxw=n“, 1: „I think that L is, as it appears to be, the intended culmination of the Metaphysics, and that the main purpose of Q is to provide the premises and the conceptual apparatus that Aristotle will need for L’s determinations peri\

a)rxw=n“. Vgl. auch Menn (2009), 211-221 und 253-265.

Nota bene: Da ich nur über ein unvollendetes Manuskript – erstmals aus Anlass eines Seminars in Berlin, später online zugänglich – mit verschiedenen Seitenbezeichnungen verfüge, muss ich in Menns Fall auf ganze Abschnitte (§) hinweisen. Das Manuskript ist auch unter

(7)

ersten Mal die Vermutung, dass L keine theologische Untersuchung war.

Sorabji hat einige erste Hinweise gegeben, um der Interpretation eines

„transformierten“ Aristoteles nachzuforschen. Frede steht für das Aufbrechen der alten, theologischen Hermeneutik des L-Textes. Das ist der heutige Ausgangspunkt. Darauf basierend schreibt Menn einen erleuchtenden, bisher noch unveröffentlichten Kommentar.

Trotz dieser Mühe gibt es noch immer zwei Lücken: Bisher ist die Geschichte der verschiedenen Interpretationen von L kaum geforscht worden11. Aus welchem Grund? Die Kommentatoren haben sich zuerst auf den Inhalt des Buches konzentriert. Dass es sich um ein theologisches Buch handeln sollte, war selbstverständlich. Doch die Frage nach der Absicht des Autors blieb aus, und damit auch die entsprechende Untersuchung, die die Interpretation des Buches hätten verändern können12. Bereits dies ist eine Meta-Ebene. Die erste Stufe müsste also eine historische Revision der verschiedenen Meinungen sein. Die zweite Lücke besteht darin, dass bis jetzt eine „Karte“ von L –der Name geht zurück auf Burnyeats Map zu Metaphysik Z13– fehlte, die dem Leser die Meilensteine und die verschiedenen Wege aufzeigt. Ich versuche, beiderlei Lücken zu füllen, um eine neue Lesart des Textes anzubieten. Die vorliegende Arbeit soll also die Entstehung verschiedener Interpretationen des Buches L der Metaphysik verdeutlichen.

In meiner Arbeit stelle ich eine Doppel-Perspektive vor: eine historische –die ich keineswegs „doxographisch“ nennen würde– und eine philosophische.

Zunächst untersuche ich die verschiedenen Hermeneutiken, die L im Laufe der Jahrhunderte erhielt. Diese Transformation der antiken Autoren ist den

www.philosophie.hu-berlin.de/institut/lehrbereiche/antike/mitarbeiter/menn/contents zu finden (aufgerufen am 2. Oktober 2013). Eine kurze Fassung seiner Interpretation hat er bereits in seinem Beitrag zum XVI. Symposium Aristotelicum veröffentlicht.

11 Erwin Sonderegger ist eine eher unbekannte Ausnahme. Er übt Kritik gegen die theologische Interpretation von L: „Es ist erstaunlich, mit welcher Energie die Standardinterpretation immer wieder, leicht verändert, frischgehalten wird. Gewiss, ein Teil der Energie erklärt sich durch bestimmte religiös-vitale Interessen. Die dauernde Neuaufbereitung des mittalterlichen Aristotelismus erfüllt in verschiedenen Ausprägungen des Christentums einen Zweck im Aufbau der Lehre und behält dadurch einen Sitz im Leben, der einen Teil des Interesses erklärt.

Doch reicht das Interesse an der Standartinterpretation, dass Met. L tatsächlich eine Theologie enthalte, über (neu)scholastische und christliche Grenzen hinaus. Was hängt denn überhaupt daran, dass die Metaphysik von Aristoteles wirklich eine Metaphysik enthalte, und dass Aristoteles in Met. L wirklich eine Theologie in irgendeiner Form behaupte? All das wäre weniger erstaunlich, wenn – abgesehen für die genannten Bereiche – irgendeine Form der je rekonstruierten Theologie für irgendjemanden relevant wäre. Das ist aber nicht der Fall“;

Sonderegger (2008), 163.

12 Sonderegger (2008), xxiii „Es ist heute dringender als je, erneut zu fragen, wovon Aristoteles in Met. L überhaupt spricht“.

13 Vgl. Burnyeat (2001).

(8)

Experten durchaus bekannt. Die historische Perspektive beginnt mit den Peripatetikern. Darauf folgen die Diskussionen der ersten syrischen Übersetzer, abschließend wird die verfälschte Interpretation der Neoplatoniker untersucht.

Absichtlich vermeide ich den Dialog mit den Scholastikern und den Kommentatoren der Renaissance, da sie das bestehende Missverständnis nur vergrößern, und so mache ich einen Sprung bis zum deutschen XIX.

Jahrhundert, als sich die philosophische Hermeneutik die Kenntnisse der Philologie –vor allem in Deutschland– zu Nutzen machte. Später untersuche ich die Autoren des XX. Jahrhundertes und die von heute.

Frede hat gefragt14, was Aristoteles tatsächlich untersuchen wollte, als er L

schrieb. Meinen Standpunkt zu den Absichten des Stagiriten erkläre ich im zweiten Stadium dieser Arbeit. Ich bin der festen Überzeugung, dass Aristoteles eine Diskussion über die ersten Prinzipien in L darlegen wollte.

Diese Interpretation versuche ich in meiner Arbeit zu prüfen. Doch als ich die erste Version dieses Textes schon fertig hatte, wies Christof Rapp mich darauf hin, dass Stephen Menn (damals bei McGill University, Kanada, mittlerweile bei der Humboldt-Universität zu Berlin) gerade an einem Kommentar zur vollständigen Metaphysik arbeitete. Da seine Worte zum zwölften Buch meiner Interpretation sehr ähnlich sind, versuche ich mich auf den letzten Seiten von Menn abzugrenzen.

* * *

Im technischen Ablauf folge ich dem griechischen Text der Metaphysik, den Werner Jaeger fixierte15. Wenn ich die Werke des Aristoteles im Hauptteil nenne, dann verwende ich tendenziell ihren deutschen Namen. Wenn es allerdings um ein Zitat geht, dann nenne ich den Titel in den Fußnoten bei dem lateinischen Namen. Die Abkürzungen der aristotelischen Werke versuche ich zu vermeiden. Wenn es um die Metaphysik geht, dann zitiere ich das Buch und das Kapitel zusammen mit den bekkerischen Zeilen, ansonsten gebe ich nur das Buch und die bekkerische Zeile an.

Meine Bemühungen gehen dahin, einen angemessenen Stil zu finden, in dem die Argumente punktuell präsentiert und verfolgt werden, um dem Leser

14 Frede (2000b), 55: „The question is, though, which enquiry it is that Aristotle has in mind“.

15 Vgl. Jaeger, Hg. (1957).

(9)

einen leicht verständlichen Text bieten zu können. In einigen Passagen –wie in der „Karte“ selbst oder im „Reiseführer“ zu L– verwende ich absichtlich eine abgekürzte Darstellungsweise.

* * *

Die kurzen, präzisen und hilfreichen Hinweise von Christof Rapp, seine Kolloquien und ein Wochenendeseminar über L haben mir geholfen, mich Aristoteles anzunähern. Eine entscheidende Hilfe war die Unterstützung von Christoph Helmig, der im Rahmen der Graduate School of Ancient Philosophy Anfang 2008 nach Berlin kam. Später übernahm er die Betreuung meiner Arbeit. Seine studentische Hilfskraft, Sabrina M., hat die sprachliche Qualität des Textes verbessert. Bei der Konrad-Adenauer-Stiftung möchte ich mich für die finanzielle Unterstützung bedanken. Dies gilt insbesondere Herrn Berthold Gees und Professor Wolfram Sterry.

Dank der vertrauensvollen und engen Freundschaft zu Renée H., Fernando B., Luis G., Jesús M., Daniel S., Mario G. und Wolfgang D. konnte ich mich bei meinem ersten Aufenthalt in Berlin kulturell integrieren. Ein besonderes Dankeschön erhalten mein Freund Stefan M. und Professor Alejandro Vigo.

Während meines zweiten Aufenthalts in Berlin habe ich mich oft an Renée und Jesús gewandt. Marcela, Tamara und Sophie waren auch immer bereit, mich zu bestärken, sowie mein guter, alter Freund Fernando G. Ohne die rettende Hilfe von Marion S. und Elke H. hätte ich diese Arbeit nicht vollenden können.

Die erste Person, die ich in Berlin kennen gelernt habe und die ich leider nie wieder sah, war Tanja W. Sie hat mir einen ganz besonderen und wertvollen Rat erteilt: „Lass dich überraschen!“ – eine für mich noch unbekannte deutsche Redewendung. Diese hat meine Promotion und mein bisheriges Leben tief geprägt.

Prenzlauer Berg, November 2010 Polanco, März 2015

(10)

EINLEITUNG

Das Buch L der Metaphysik ist dafür bekannt, ein sehr komplizierter Text des aristotelischen Corpus zu sein. Trotz Unstimmigkeiten hat diese Schrift die abendländische Philosophie und Theologie tief geprägt, denn Aristoteles bietet dort als erster Philosoph einen Beweis für einen einzigen Gott an. Aus diesem Grund halten viele diesen kurzen Text für einen der Grundsteine des philosophischen Monotheismus. In den Kommentaren zur Metaphysik aus dem XIX. und XX. Jahrhundert wird häufig behauptet, L sei der Gipfel des Corpus16, da es die philosophische Gotteslehre des Stagiriten darstellen sollte. Schon seit langem ist dieses Buch als die „theologische Abhandlung des Aristoteles“

bekannt.

In unserer Zeit zeigen die Kommentatoren ein erneutes Interesse für das Verständnis dieses Textes. Erst vor kurzem wurde die Frage nach dem zwölften Buch der Metaphysik erneut gestellt. Diese Frage ist sehr wichtig, da das Verständnis des Buches und die richtige Interpretation vollständig von den entsprechenden Antworten abhängen. In den 1980er Jahren hatte Richard Sorabji schon darauf hingewiesen, dass die theologische Lesart des L-Buches eine Fehldeutung oder Transformation neoplatonischen Ursprungs sei. Sorabji konzentrierte seine Kritik vor allem auf Ammonios. Im Jahre 2000 erklärt Michael Frede die Behauptung, L sei ein theologisches Buch, für falsch. Seiner Meinung nach sei L eher ein Aufsatz über die Substanz. Fredes Begründungen setzen sich aus einer präzisen Exegese eines kurzen Passus zusammen (1069a34-b2). Sein Verständnis dieses Textes spielt eine entscheidende Rolle in der jüngsten Hermeneutik zu L. Positiv ist, dass Fredes Interpretation das Hauptproblem der inneren Kohärenz des Buches löst. Leider bringt sie auch neue Probleme mit sich. Deshalb ist die Fredesche Hermeneutik nicht völlig überzeugend.

Heutzutage arbeiten Stephen Menn und Lindsay Judson intensiv an eigenen Kommentaren zu L. Ihre Manuskripte versprechen interessante Lektüren zu

16 Vgl. zum Beispiel Deely (2001), S. 84: „[...] it is enough to indicate that, with this notion of the Unmoved Mover, beyond and over against all movers caught up in the cosmic mechanism, we reach the summit fo being in ancient Aristotelian speculative philosophy“. Burnyeat unter anderen hält Z widerum für den „Everest“ der antiken Philosophie. Vgl. Burnyeat (2001), 1. In der spanischen Sprache kommt diese Redewendung („cumbre de la Metafísica“) in Bezug auf L öfters vor. Auf Deutsch bezieht sie sich eher auf Feuerbachs und Schellings Aussagen.

(11)

werden. Judson vertritt die Position, L sei eine Abhandlung über die prw/th filosofi/a. Menn dagegen versteht L als Archäologie, das letzte Stück eines umfassenderen Projektes Aristoteles’ über sofi/a. Meine Position liegt Menns nah, doch ich versuche, mich von ihr zu distanzieren. Diese Arbeit besteht aus fünf Teilen: (a) eine Diskussion über die Interpretation, die L für ein theologisches Buch hält; (b) die Position Fredes mit Hinsicht auf ihre historische Entstehung; (c) eine kurze Auseinandersetzung mit einem Essay von Lindsay Judson; (d) die Analyse der Hermeneutik von Stephen Menn in einem noch unveröffentlichten Kommentar zur Metaphysik; und anschließend (e) die Darstellung meiner eigenen Interpretation des zwölften Buches der Metaphysik des Aristoteles um ein neues Verständnis seines Werkes anzubieten, als einen Aufsatz über die sofi/a, die Suche der ersten Prinzipien.

Meines Erachtens steht das Problem des Hauptthemas und des Zieles von L

in einem engen Zusammenhang mit dem Problem der Textstruktur. Es besteht eine klare Korrelation zwischen dem Textaufbau und dessen Interpretation.

Eine Diskussion über die Hauptfrage von L ist nur sinnvoll, wenn die Frage nach der Architektur dieser Schrift beantwortet wird. In dieser Arbeit wird die Beziehung zwischen Hermeneutik und Gestaltung verdeutlicht, denn die Betrachtungsweise eines Textes hängt letztendlich vom jeweiligen Verständnis seiner Struktur ab. Ich analysiere vier verschiedene Interpretationen des zwölften Buches chronologisch. Jede Interpretation entspricht einem eigenen Verständnis der Form. Diese erläutere ich jeweils in vier verschiedenen Kapiteln. Im fünften und letzten Kapitel stelle ich meine eigene Position dazu vor. Die nachstehende Tabelle zeigt die fünf verschiedenen Interpretationen des Buches L der Metaphysik17 mit einigen Hinweisen, die bei der Lektüre dieser

17 Sonderegger mag eine weitere Interpretation entdeckt haben, eine gewisse „noosologische“.

Selbstverständlich haben sich mehrere Autoren mit der nou=j-Lehre in L beschäftigt, doch meines Wissens ist keiner der Meinung, L sei ein Buch darüber. Vgl. Sonderegger (2008), 153- 162. Er denkt, diese noosologische Lesart entstünde aus der theologischen Interpretation. Unter die Vertreter einer solchen Interpretation zählt er Franz Brentano, William David Ross, Joseph Owens, Hans-Georg Gadamer, Klaus Oehler, Hans Joachim Krämer, Fernando Inciarte, Horst Seidl, Hellmut Flashar, Karen Gloy, Giovanni Reale, Thomas de Koninck, „und einige Referenten beim Xth [sic anstatt XIV.] Symposium Aristotelicum“, die „in sehr vielen Beziehungen das mittelalterlichen Denken weiterführen“: Sonderegger (2008), 154. Er hält die sogenannte noosologische Interpretation für falsch: „Dass die no/hsij noh/sewj („Denken des Denkens“) mit zum Kern der Überlegungen von Met. L gehört, bildet wohl de stärkste gemeinsame Überzeugung aller an diesem Text Interessierten. Sie gehört auch zur Überzeugung dieser Darstellung. Beinahe ebenso generell ist die Zustimmung zur These, dass mit dem Ausdruck

no/hsij noh/sewj“ das Denken Gottes gemeint sei, obwohl das so nirgends im Text zu lesen ist.

Das ergibt sich nur dann, wenn man das ausdrückliche Thema von Kapitel 9, den Nous, stillschweigend als Gott fasst“; Sonderegger (2008), 153.

(12)

Arbeit helfen sollen: der Gegenstand der aristotelischen Untersuchung und die Struktur des L-Textes.

ALLGEMEINES SCHEMA DIESER ARBEIT

L IST

THEOLOGIE L IST

OUSIOLOGIE L IST ERSTE PHILOSOPHIE

LIST

ARCHÄOLOGIE LIST SOPHIA

AUTOR

[Ursprung:

Neoplatoniker]

von al-Kindi (gest.

873)

bis Christoph Horn (2002)

Joseph Owens (1951) Michael Frede (2000)

Lindsay Judson

(2007) Stephen Menn

(Manuskript 2013) Enrique García de la Garza (2013)

GEGENSTAND

Gott Substanz erste Prinzipien

[L1-5: Substanz + Prinzipien = Meta- physik]

[L6-10: Gott]

Basis: Theologie

erste Prinzipien

[L1-5: Prinzipien]

[L6-10: unsichtbare Substanz]

[Ziel:sofi/a]

erste Prinzipien [Beginn:

vergängliche Substanz]

[„Archäologie“ in der Perspektive der Vorsokratiker]

TEXTSTRUKTUR

(L1-5 |L6-10)

L1-5:

Zusammenfassung vonK

L6-10: Theologie

* List der Höhepunkt der Metaphysik

* Bonitz und Jaeger:

List ein

eigenständiger Text

(L1-5 |L6-10) L1-5: sichtbare Substanz L6-10:

unsichtbare Substanz

* L ist ein eigenständiger Text

(L1-5 |L6-10)

L1: Programm L2-3:Ousiologie L4-5: Archäologie L6-10: Theologie

* L gehört zur Metaphysik

(L1-5 |L6-10)

L1: Programm L2-3: weder Materie noch Form L4-5: Prinzipien der sichtbaren Substanz L6-10: die unsichtbare Substanz

* L gehört zur Metaphysik

(L1 |L2-7 |L8-10) L1: Programm L2-3: weder Materie noch Form

L4-5: Diee)ne/rgeia ist der Weg L6-7: Die erste Substanz ist e)ne/rgeia

L8-10: drei weitere Fragen zur ersten Substanz

* L gehört zur Metaphysik

Das erste Kapitel dieser Arbeit enthält einen grundsätzlichen, historischen Überblick über die theologische Interpretation des Buches L. Dieser Hermeneutik zufolge will Aristoteles einen theologischen Text „über Gott“

verfassen. Ich folge den bedeutendsten Peripatetikern, um zu zeigen, dass Aristoteles in den Augen seiner Schüler keine theologische Schrift verfassen wollte. Diese Interpretation entstand erst im frühen Mittelalter. Auf den letzten Seiten des Kapitels konzentriere ich mich auf einige Kommentatoren des XIX.

und XX. Jahrhunderts, die mit dieser Lesart einverstanden sind, darunter auch David Ross, dessen Ausgabe der Metaphysik von großer Bedeutung für die Forschung ist. In diesem Kapitel wird auch gezeigt, wie die theologische Interpretation die Spaltung des Buches in zwei Hälften (L1-5 und L6-10) verursachte. Dieser Riss wurde jahrhundertelang als „Nebeneffekt“ zu Gunsten der Theologie in Kauf genommen. Das zweite Kapitel untersucht das Verständnis von L als einen Text über die Substanz an sich. L wäre demnach

(13)

also eine weitere Diskussion über dasselbe Thema der mittleren Bücher der Metaphysik. Um sie zu benennen, verwende ich den Neologismus „Ousiologie“.

Damit will Michael Frede –der wichtigste Vertreter der ousiologischen Lesart–

auch das Problem der Spaltung der Schrift in zwei Teile lösen. In diesem Abschnitt bringe ich alle Elemente seiner Lesart in die Diskussion ein und kritisiere seine Position. Im dritten Kapitel lenke ich die Aufmerksamkeit auf einen Autor unserer Zeit, der sich gerade mit einer neuen Hermeneutik von L

befasst: Lindsay Judson. Judson versucht sich an einem Mittelweg zwischen der theologischen und der ousiologischen Interpretation. Er verteidigt also die Aussage, L sei die Schrift, in der Aristoteles auf die erste Philosophie, die sogenannte „generelle Metaphysik“, stößt – deshalb sei dies ein Buch über Metaphysik oder erste Philosophie. Dafür nimmt Judson das alte Problem der Zweiteilung des Textes in Kauf. Seiner Meinung nach ist L1-5 ein Aufsatz über die Ousiologie und L6-10 über Theologie. Im vierten Kapitel führe ich einen Dialog mit Stephen Menn, dessen Interpretation meiner eigenen ähnelt. Menn löst das Problem der Spaltung in einer effektiveren und überzeugenderen Weise als Frede. Laut Menn ist L ein Teil, und zwar der letzte, eines breiteren Projektes, welches Aristoteles in seinem ganzen Werk Metaphysik verfolgt: Die Suche nach der sofi/a. In diesem Sinne ist die Metaphysik ein Text über sofi/a, während L bloß ein Teil davon sein sollte, nämlich „Archäologie“, das heißt, die Untersuchung der ersten Prinzipien. Für Menn ist die Archäologie also ein Teil der sofi/a, genau wie L auch nur ein Teil der Metaphysik ist. Im letzten Kapitel dieser Arbeit mache ich meine eigene Position deutlich. Das abschließende Kapitel ist demnach das wichtigste, weil es einen neuen Interpretationsvorschlag präsentiert: Dieser besteht zum einen aus einer Karte, die die Architektur des Textes aufschlüsselt, um das Lesen zu vereinfachen, zum anderen aus der Untersuchung meiner eigenen Interpretation. Ich bin mit Menn insofern einverstanden, als die Archäologie eine entscheidende Rolle im

L-Text hat. Ich verstehe die Beziehung zwischen Archäologie und sofi/a jedoch anders, und das zeigt den Unterschied zwischen der Mennschen Interpretation und meiner eigenen18. L ist also ein Text über sofi/a, den Aristoteles mit den Diskussionen über die ersten Prinzipien der alten Philosophen verbindet. Doch

18 „Archäologie“ verknüpft die aristotelische Forschung der ersten Prinzipien mit den Untersuchungen der alten Philosophen. Der Begriff erstreckt sich also bis zu Thales. „sofi/a allerdings wird wiederum nur innerhalb des Corpus Aristotelicum benutzt, um die besagte Forschung der ersten Prinzipien anzudeuten.

(14)

L analysiert die Prinzipien aller Substanzen und ist somit auch ein archäologischer Text, wie Menn es gezeigt hat. Die Karte zu L verwandelt sich in einen längeren Reiseführer und befindet sich im Anhang dieser Arbeit.

Weiterhin liegt im Anhang eine Tabelle vor, in der die Häufigkeit der in L meist verwendeten Begriffe dargestellt wird.

Die vorliegende Arbeit basiert auf der Untersuchung der Vorgeschichte der theologischen Interpretation von L. Hierfür bin ich folgendermaßen vorgegangen: Zuerst gehe ich darauf ein, dass die Vorsokratiker keinerlei theologische Absicht in ihren philosophischen Diskussionen verfolgten, obwohl sie Begriffe wie „Gott“ oder „das Göttliche“ oft verwendet haben. Eine Erklärung der Begriffe „Theologie“ und dem von Jaeger verwendeten Begriff

„natürliche Theologie“ finde auch ich unerlässlich. Selbst bei Platon ist kein echtes theologisches Interesse zu finden, obwohl verschiedene Autoren sich bemüht haben, die platonische Gotteslehre zu rekonstruieren. Zunächst beschäftige ich mich mit einer Interpretation solcher Gotteslehre, nämlich der von Michael Bordt. Im vierten Punkt lenke ich die Aufmerksamkeit auf die Unterscheidung des Stagiriten zwischen der von Erzählungen geprägten

„Theologie“ und der theoretischen Wissenschaft „qeologikh/“. Zuletzt beantworte ich die Frage nach den Prinzipien und deren Zugehörigkeit zu einer bestimmten philosophischen Wissenschaft. Dies führt zu einer notwendigen Unterscheidung der Begriffe „sofi/a“, „prw/th filosofi/a“ und „qeologikh/“.

Ich verteidige die Position, dass Aristoteles zu keiner Zeit einen

„theologischen“ Diskurs beabsichtigt hat. Beweise dafür sind die Schriften seiner Schüler und der peripatetischen Kommentatoren. Die Hauptthese ist dieselbe wie die von Sorabji: Die Neoplatoniker haben L anders gelesen, transformiert und schließlich als eine theologische Abhandlung verstanden.

Diese Lesart wird über die syrische Schule, die Araber und die Scholastiker hinaus überliefert, bis sie die modernen Kommentatoren erreichte19. Bei Sorabjis Aufsatz fehlt jedoch dieser historische Überblick.

19 Sonderegger ist der Meinung, auch der Autor von De mundo teile eine gewisse Verantwortung in dieser Konfusion, und zwar wegen einer Zeile gleich am Anfang im ersten Buch (391b4): „[...]

qeologw=men peri\ tou/twn sumpa/ntwn [...]“. Er schreibt: „Der Text beginnt also mit dem Entschluss, die Kosmologie mit Gott in Beziehung zu bringen. Er führt sein Vorhaben in dem Sinne durch, dass er die Welt beschreibt, um sie als Werk Gottes zu loben. [...] Das ‚Theologisieren’ ist besonders gut in Kap. 6 fassbar, wo sich eine Darstellung der gestuften Verursachung des Kosmos durch Gott findet, und in Kap. 7, wo der Anonym von der Einzigkeit Gottes spricht, obwohl er unter vielen Namen verehrt werde [...]“; Sonderegger (2008), 121.

(15)

1. Das vorsokratische Denken über das Göttliche

Wie in jeder anderen Gesellschaft des Altertums versuchten auch die Denker des antiken Griechenlands die Welt zu verstehen. Damals waren die Erklärungen der kosmologischen Ereignisse in einer systematischen Mythologie verpackt. Mithilfe solcher Gottheiten hat der damalige Mensch den Eindruck gewonnen, dass er so einige Phänomene erklären konnte. Unter den Griechen galten Homer und Hesiod als die ersten Autoren, die über Götter, Halbgötter, Heroen und derlei mythologische Figuren Gedichte schrieben. Die Ankunft der Philosophie in Ionien initiiert in der Ideengeschichte des alten Griechenlands eine neue Phase. Nach und nach prägt die Mythologie immer weniger das Verständnis der Natur und deren Phänomene. An deren Stelle tritt ein Prozess der Rationalisierung – die erste Aufklärung auf europäischem Boden. Die ersten Fragen nach dem Ursprung und Antworten über den Ursprung der Bewegung bezeichnen die Anfänge der Philosophie. Im Laufe der Jahrhunderte entwickeln die Philosophen verschiedene Vorstellungen über diese Themen.

Die ältesten Philosophen versuchen sich also von der Mythologie zu entfernen, um rationelle Erklärungen zu finden. Trotzdem können sie die Frage nach der ersten Ursache der Bewegung der Dinge innerhalb einer rationell geordneten Welt noch immer nur durch das Göttliche beantworten. Dieser offenbare Widerspruch ist Teil eines komplexeren Prozesses: „Der Kampf gegen partikulare, traditionell geglaubte Manifestationen der Gottheit geht Hand in Hand mit einer immer stärkern, abstrakten Radikalisierung der Gottesvorstellung“20.

Die Argumente der Naturphilosophen beziehen sich grundsätzlich auf physische Stoffe, auch wenn Thales von Milet (624 – 546 v. Chr.) ausnahmsweise behauptet, alles Dingliche besitze etwas Göttliches21. Leider führt er diesen Gedankengang nicht weiter fort, oder zumindest ist kein weiteres Fragment mit Äußerungen darüber vorhanden. Deswegen ist seine wahre Meinung darüber noch immer unklar. Beweise dafür, dass er einen göttlichen Begriff in die philosophischen Diskussionen hinzufügt, liegen nicht vor, obwohl er höchstwahrscheinlich die Position seines Landsmanns und

20 Gigon (1972), 46.

21 Vgl. DK A22-23. Nach Geoffrey S. Kirk ist die Zuordnung des ciceronischen Zitates (De natura deorum 1, 25) zu Thales, der Geist – mens – sei Gott (Fr. 23), nicht richtig. Vgl. Kirk & Raven &

Schofield, Hgg. (1983), Fußnote zur Nummer 93.

(16)

Zeitgenossen Anaximander bereits kannte. Es ist denkbar, dass beide zueinander Kontakt gepflegt haben.

In der Philosophie beginnen die Diskussionen hinsichtlich des Göttlichen tatsächlich erst mit Anaximander von Milet (611 – 547/46 v.Ch.). Er verwendet den Begriff „a/)peiron“, welcher das Unsterbliche beziehungsweise Unvergängliche beschreibt22. In diesen beiden Eigenschaften findet Aristoteles den göttlichen Charakter der anaximanderischen Unbegrenztheit23. Eine Identifizierung des Göttlichen mit Gott liegt allerdings nicht vor24. Zwar ist Werner Jaeger mit Aristoteles einverstanden, dass das anaximanderische

a/)peiron etwas Göttliches ist25, so spricht sich Gregory Vlastos dagegen aus, weil dies eine extrapolierte Lektüre des Stagiriten sei. Trotzdem ist Vlastos auch der Meinung, das dass a/)peiron die Rollen beziehungsweise Funktionen der mythologischen Götter übernimmt. Wahrscheinlich ist eine derartige göttliche Charakterisierung keine Überraschung für die Zeitgenossen Anaximanders gewesen26. Von Anaximander lernt man also zweierlei: (a) Das einfachste Prinzip hat einige Eigenschaften, die den Göttern der verschiedenen Mythologien bereits zugeschrieben wurden. (b) Deshalb gewinnt diese vage, entgötterte Figur eine Stellung in der philosophischen Diskussion der Bewegungsursache.

Während Anaximander die Unbegrenztheit lehrt, entwickelt ein anderer Zeitgenosse einen weiteren Begriff: den nou=j. Hermotimos aus Klazomenai (VI.

Jahrhundert v. Chr.), Lehrer von Anaxagoras, soll der Erste gewesen sein, der eine nou=j-Lehre vertrat, berichtet Aristoteles27. Inwiefern man diesem aristotelischen Bericht Vertrauen schenken darf, ist schwer einzuschätzen.

Abgesehen davon, weiß die Forschung sehr wenig über Hermotimos, dessen Gedankengänge und obskuren sowie phantastischen Vorschläge. Damals glaubten die Menschen, er selbst sei Pythagoras, der nach einer

22 Charles S. Pierce nennt als abductive conclusion jene Ursachen, zu denen man nicht direkt kommt, sondern deren Präsenz man nur erahnt, um ein Phänomen zu erklären. Man sieht zum Beispiel nicht das Feuer, sondern den Rauch. Von daher kann man das Feuer herleiten. In diesem Sinne dürfte Pierce sagen, das a/)peiron sei auch eine abductive conclusion.

23 Vgl. Physica 3 203b13-15.

24 Vgl. DK 12A15.

25 Jaeger (1947), 203-206, Fußnote 44.

26 Darüber gibt es eine Diskussion: Nach Jaeger adjektiviert Anaximander selbst das a)/peiron als qei=on. Vlastos hält es für einen späteren Zusatz des Aristoteles. Vgl. Vlastos (1952), 113, Fußnote 75.

27 Metaphysica A 984b15.

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Seelenwanderung in einer späteren Lebensperiode wieder auf die Erde kam28. Noch deutlicher und einflussreicher scheint Xenophanes von Kolophon (570 – 503 v. Chr.). Er führt die von Hermotimos begonnene Diskussion weiter. Seiner Hauptthese nach ist das Prinzip des Kosmos ein nou=j. Kurt von Fritz weist auf die ursprünglich sinnliche Bedeutung des Wortes hin29. Dieser „primitive“ nou=j

ist rund und besitzt einen Körper. Wichtig hierbei ist, dass er zum ersten Mal einen bewegungslosen Beweger bezeichnet. Anaxagoras von Klazomenai (500 – 428 v. Chr.) macht einen entscheidenden Fortschritt, als er das Göttliche mit dem nou=j seiner Vorfahren verbindet. Neben dem vermischten Stoff stellt dieser einen unendlichen und reinen nou=j als zweites Prinzip dar, der alles (auch ihn selbst) regiert30. Dieser nou=j bewegt und trennt das, was seit unendlicher Zeit bewegungslos war und zusammen gehörte31. Damit stellt Anaxagoras zum ersten Mal die Frage nach der Beziehung von Gott zur Welt32. Außerdem äußert er sich zum ersten Mal überhaupt über eine effiziente Ursache im Rahmen des ersten Prinzips. Diese beiden Ideen werden vor allem bei Aristoteles eine wichtige Rolle in seinen späteren Untersuchungen spielen. Die nou=j-Vorstellung des Anaxagoras ist allerdings nicht unproblematisch. Vor allem scheint es plausibel, dass der nou=j räumlich-zeitlich ausgedehnt ist33. Die Beziehung zwischen seinem Wissen und der Bewegung bleibt aber unklar. Diogenes Laertios glaubt, der nou=j selbst sei der Ursprung der Bewegung. Diese These halten sowohl Plato34 als auch Aristoteles35 für unzureichend, zumal ein Stoff noch immer als Grundprinzip erkannt wurde. Zuletzt geht Diogenes von Apollonia (499 – 428 v. Chr.) noch einen Schritt weiter: Er verwendet eine philosophische Sprache, um auszusagen, dass alles dem unsterblichen und ewigen Gott unterzuordnen ist36. So identifiziert er auch Gott mit dem ersten Prinzip. Damit ist der Grundstein für die aristotelische Forschung gelegt.

Lloyd P. Gerson fasst die Versuche der ersten Denker zusammen: „[...] it is therefore reasonable to hypothesize that natural theology arose because science, at least

28 Vgl. Wellmann (1913), 904-905.

29 Das Wort hieß früher „riechen“ oder „sehen“. Vgl. von Fritz (1945), 232-242; (1946), 12-34.

30 Vgl. DK 46B12.

31 Vgl. Physica 8 250b24ff.

32 Die Neoplatoniker werden später auf diesen Punkt und auf Empedokles’ Theorie der Liebe und des Hasses im Rahmen der aristotelischen Diskussion über Gott und dessen Kausalität zur Welt aufmerksam.

33 Vgl. DK 59B14.

34 Vgl. zum Beispiel Phaidon 97bff.

35 Vgl. zum Beispiel Metaphysica A 984a1ff.

36 Vgl. DK 64B5.

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as many of the Pre-Socratics conceived of it, needed god or gods“37. Streng genommen

„braucht“ die vorsokratische Wissenschaft aber keinen Gott oder Götter. Wer einen Blick auf die vorsokratischen Diskussionen wirft, findet keine echte Theologie. Die Aussagen der ersten Denker beziehen sich eher auf die Prinzipien des Kosmos und der Bewegung: Die Hauptfrage bleibt stets die Bewegungsursache und das Prinzip des Alls. Der Gott oder die Götter geben hierzu freilich eine Antwort. Es geht aber weniger um eine mögliche, geplante oder sogar gewünschte Theologie, als um einen echten theologischen Diskurs.

Meiner Meinung nach bleibt das unverändert – auch über Aristoteles’ L hinaus.

Es ist manchmal hilfreich, Vergleiche und Metaphern zu verwenden, um komplexe oder abstrakte Situationen anschaulicher darzustellen. Ein Sinnbild in dieser Diskussion über das Bewusstsein des (un)nötigen Gottes unter den frühen Denkern könnte vielleicht auch hier hilfreich sein. Beispielsweise die Entdeckung Amerikas: Die Wikinger hatten bereits erste Erfahrungen in der Annäherung an die sogenannte Neue Welt gemacht, aber erst mit Kolumbus wird Amerika im eigentlichen Sinne „entdeckt“. Hinter dem Begriff

„Entdeckung“ verbirgt sich das Bewusstsein eines bisher unbekannten Landes und des Weges, der dorthin führt. Man sagt „die Entdeckung Amerikas“, weil es sich tatsächlich um die Entdeckung eines verlässlichen Hin- und Rückverkehrs handelte. Die religiösen Mythen lassen damals auf den Glauben an eine andere, fremde Realität schließen, so wie die Wikinger an dieses Land glaubten. In diesem Sinne betrachten die Vorsokratiker Gott eher als eine

„Entdeckung“ denn als eine „Notwendigkeit“38. Auf diese Weise finden die griechischen Philosophen eine überzeugende –und in diesem Sinne auch bessere– Welterklärung als in der Mythologie. Durch den Vergleich mit solchen phantasievollen Erzählungen sieht man den echten Wert des durch die Vernunft „entdeckten“ Gottes. Jetzt darf man sich fragen, was für eine Rolle dieser Gott für das Weltverständnis tatsächlich spielte.

In einem ersten Stadium unterscheidet Xenophanes den obersten Gott –er

„sieht alles, denkt alles, hört alles“39– von der vagen göttlichen Vorstellung des Anaximanders. In einem nächsten Schritt beginnt er diese Gottesvorstellung von allen menschlichen Darstellungen zu reinigen, bis er letztendlich einen völlig spirituellen Gott konzipiert. In einer späteren Facette seiner Arbeit

37 Gerson (1990), 3.

38 Kant würde über das Finden einer Bedingungsmöglichkeit reden.

39 Xenophanes Fr. B24.

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kritisiert Xenophanes zum ersten Mal den Anthropomorphismus der mythischen Figuren: „Ein Gott ist der größte unter den Göttern und den Menschen, er ist den Sterblichen weder in seiner Gestalt noch in seinem Geist ähnlich“40. Damit beginnt die Differenzierung der mythologischen Dichtung von einer (noch primitiven) philosophischen Annäherung zu Gott, das heißt den ersten aufgeklärten Beschreibungen von Gott41. Eine richtige Theologie ist dies nicht, aber es lässt sich ahnen, in welche Richtung sich die Diskussion bewegen wird. Es ist offensichtlich, dass Xenophanes irgendeine Art theologisches Denken aufbaut. „Gerade die kritische Funktion der neuen philosophischen Theologie kommt bei Xenophanes zum vollen Selbstbewußtsein“42, behauptet Jaeger. Dieser Versuch soll als die erste Darstellung einer „natürlichen“ Theologie gelten43. Trotzdem bleibt für die griechische Philosophie beziehungsweise für die Geschichte der (natürlichen) Theologie Xenophanes’ Bedeutung umstritten44. In diesem Sinne ist er bloß ein Vordenker, da kein einziger Philosoph der Antike eine systematische Gotteslehre dargelegt hat. Olof Gigon fasst es folgendermaßen zusammen: „Die maßgebende antike Darstellung der Vorsokratiker hat die Theologie nicht berücksichtigt“45. Um dies genauer einzuordnen, muss man sich mit der Geschichte des Begriffs „qeologi/a“ befassen.

2. Ursprung und Gebrauch der Begriffe „Theologie“ und „natürliche Theologie“

Nach Gerson kennen schon die Vorsokratiker den Unterschied zwischen den theologischen, rein rationell und aufgeklärten Forschungen und den mythologischen Erzählungen, in denen der Mensch versucht, sich den Kosmos auf eine primitive, zu dieser Zeit noch unaufgeklärte Weise begreifbar zu machen46. In dieser traditionell verstandenen Theologie war Thales von Milet ein Vorreiter. Er war der Ansicht, dass das Göttliche in allen Dingen vorzufinden sei, aber das, was später als „natürliche Theologie“ bezeichnet

40 Xenophanes Fr. B23.

41 Vgl. DK 21B18: „ou)=loj o(ra|=, ou)=loj de\ noei=, ou)=loj de/ t¡a)kou/ei“.

42 Jaeger (1947), 59.

43 Vgl. zum Beispiel Gerson (1990), 17ff.

44 Vgl. Rapp (1997), 85.

45 Gigon (1954), 43.

46 Gerson (1990), 5.

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wird, beginne erst mit Anaxagoras. Wie ich bereits im ersten Abschnitt erwähnt habe, teile ich Gersons Meinung diesbezüglich nicht. Meiner Auffassung nach entsteht das Denken über –oder genauer gesagt „gegen“– das Göttliche erst mit Xenophanes. Doch darauf werde ich erst später eingehen.

Woher stammt der so häufig verwendete Begriff „Theologie“? Offenbar ist der älteste Hinweis auf eine „natürliche Theologie“ unter den Griechen bei Thales von Milet zu finden, weil dieser berichtet haben soll, dass Pherekydes von Syros kein Gebrauch von Mythen gemacht habe, sondern eine rein rationelle Annäherung zum Göttlichen anstrebe47. Seltsam jedoch ist, dass der Begriff in seiner ursprünglichen Form ein Adjektiv gewesen sein soll.

Tatsächlich ist das Zitat verfälscht und stammt aus der hellenistischen Zeit48. Doch das Wort „qeologi/a“ kommt zum ersten Mal im zweiten Buch der Politeia vor. Der Kontext ist die Diskussion zwischen Sokrates und Adeimantos über die Erziehung der Bürger, damit sie gerecht urteilen und handeln können. Als Sokrates anmerkt, dass für die mythologischen Erzählungen der Dichter einige Regeln (tu/poi) nötig seien, ist Adeimantos sogleich einverstanden: „Richtig [...], aber eben diese, die Regeln in Bezug auf die Theologie, welche wären es?“49. Eine Diskussion über die genaue Bedeutung des Wortes an dieser Stelle wird bereits seit langem geführt. Heutzutage verteidigen Kommentatoren wie Viktor Goldschmidt50 oder Michael Bordt51 die Position, dass an dieser Stelle ausschließlich mythologische Erzählungen gemeint seien. Zu diesem Zweck berufen sie sich auf Sokrates’ Antwort bezüglich der Mythologie: „Eben diese, sagte ich, wie der Gott tatsächlich ist, so muss er immer dargestellt werden, wenn jemand in Epen, Liedern oder in einer Tragödie von ihm dichtet“52. Mit dem Terminus „Theologia“ soll Platon also keine rationelle Untersuchung des Göttlichen bezeichnet haben, sondern ein Teilgebiet der Mythologie. Zur Unterstützung dieser Interpretation weist Goldschmidt darauf hin, dass die Variante „muqologi/aj“ anstatt „qeologi/aj“ im Codex Marcianus (T) vorkommt53. Bei Platon ist „qeologi/a“ an keiner anderen Stelle zu finden. Bordt vermutet,

47 Vgl. DK 11A1; auch Metaphysica N 1091b8-10.

48 Vgl. Gerson (1990), 239, Fußnote 2.

49 Politeia 2 379a5: „o)rqw¤j, eãfh: a¦ll' au¦to£ dh£ tou¤to, oi¥ tu¢poi peri£ qeologi¢aj ti¢nej aän eiåen;

50 Vgl. Goldschmidt (1949), 141-172.

51 Bordt (2006b), 43-54.

52 Politeia 2 379b1: „toioi/de pou/ tinej, h)=n d` e)gw/: oi(=j tugxa/nei o( qeo\j w)\n, a)ei\ dh/pou a)podote/on, e)a\nte tij au)to\n e)n e)/pesin poih=| e)a/nte e)n me/lesin e)a/nte e)n tragw|di/a|“.

53 Vgl. Goldschmidt (1949), 147. Dagegen behauptet Naddaf, Platon verfüge bereits über eine wissenschaftliche, philosophische Theologie; vgl. Naddaf (2004).

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dieses sei damals ein alltägliches Wort ohne eine bestimmte wissenschaftliche Bedeutung gewesen. Da keine weiteren Textstellen vorhanden sind, ist es sehr kompliziert, dies zu beweisen.

Die Adjektivisierung der „Theologie“ erfolgte erst zu einem späteren Zeitpunkt. Uns erreicht der Begriff „natürliche Theologie“ nicht durch eine griechische Überlieferung. In Antiquitates rerum humanarum et divinarum unterscheidet Marcus Terentius Varro (116 – 27 v. Chr.) drei Arten der Theologie: die Mystische, die Politische und die Natürliche. Nach dieser Differenzierung zu urteilen, ist die Götterwelt der Dichter ein Objekt der mystischen Theologie, die Politische umfasst die Staatsreligion und die Natürliche ist die Lehre der Philosophen über das Wesen Gottes54. Auf diesen Begriff stieß Varro in stoischen Quellen, er wird jedoch erst durch Augustinus (354 – 430) verbreitet55. Gemäß seines De civitate Dei war dieser Ausdruck schon vor ihm von anderen Schriftstellern eingeführt worden56. Damit bezeichnet der Kirchenvater rückwirkend die philosophischen Diskussionen bezüglich Gottes, die bereits durch eine Vielzahl von griechischen Denkern und Schulen geführt worden sein sollen. Einige Kommentatoren haben derlei Diskussionen bei Platon gefunden. Er hat sich um einen philosophischen Diskurs bemüht, in dem Gott eine zentrale Rolle spielt. Dies heißt selbstverständlich nicht, dass er eine theologische Lehre expressis verbis aufstellen wollte. Trotzdem ist es nicht unmöglich, seinen Gedankengang hinsichtlich Gottes zu rekonstruieren.

3. Skizzierte Rekonstruktion der Gotteslehre Platons

Eine solche Rekonstruktion führt beispielsweise auch Michael Bordt in seinem jüngsten Buch, Platons Theologie, durch57. Für diese skizzierte Rekonstruktion mit dem Ziel einer Darstellung der platonischen Gotteslehre folge ich seinem Beispiel. Im Großen und Ganzen lassen sich zwei Richtungen ausmachen, Platons Gotteslehre zu interpretieren. Einerseits verstehen Kommentatoren wie

54 Vgl. Jaeger (1947), 10-11.

55 Robert W. Sharples (2002) und David T. Runia (2002) sind der Meinung, das Göttliche sei ein Gegestand an sich der Physik.

56 De civitate Dei 6, 5: „Secundum autem ut naturale dicatur, iam et consuetudo locutionis admittit“.

Jaeger vermutet, dass es Marius Victorinus war, der Augustinus’ Aufmerksamkeit auf Varros Theologie gelenkt hat. Lieberg ist hingegen der Meinung, die Unterscheidung hätte bereits Vorgänger; vgl. Lieberg (1982).

57 Vgl. Bordt (2006b).

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Eduard Zeller, Werner Jaeger, André-Jean Festugière, Hans J. Krämer oder Lloyd P. Gerson diese Lehre auf eine metaphysische Art; andererseits verteidigen etliche Spezialisten wie Victor Brochard oder Stephen Menn ein kosmologisches Verständnis der platonischen Gotteslehre58. Bordt seinerseits weist auf eine Entwicklung der Lehre Platons hin. Er versucht beide Lektüren zu vereinen, das Ergebnis mag als eine dritte Lesart gelten.

Die Mehrheit der Kommentatoren sind sich darüber einig, dass Platon im Phaidon die Welt durch den nou=j erklären will. Es wird ihm vorgeworfen, dass er sein Projekt nicht abgeschlossen hat. Bordt ist jedoch nicht dieser Ansicht.

Seiner Meinung nach begann Platon in der Politeia einen Dialog, den er im Timaios fortführte. In der Politeia vertritt Platon das, was man möglicherweise einen schwachen Monotheismus nennen könnte59. Darin ist „Der Gott“ das Urbild aller existierenden Götter, die Ihn lediglich nachahmen. Wenn Platon aber in demselben Werk über das oberste Prinzip spricht, dann ist Gott gar nicht gemeint. Das oberste Prinzip und Gott werden streng unterschieden. Im Symposion scheint dies offensichtlich anders zu sein, zumal das Schöne als etwas „Göttliches“ beschrieben wird. Das Adjektiv „göttlich“ wird zu dem Zweck gebraucht, um eine „nicht-menschliche“ – das heißt, eine

„übermenschliche“ – Natur darzustellen. Damit ist also auf keinen Fall gemeint, dass Gott mit der Schönheit oder mit dem Schönen zu identifizieren sei. Es geht darin also nicht um Gott, sondern um eine übermenschliche Schönheit.

In seinen späteren Werken denkt Platon über dieses Thema anders. Er spricht nicht mehr über das Schöne, sondern über den nou=j. Doch sowohl in den Nomoi als auch im Timaios identifiziert er diesen nou=j mit dem obersten Gott60. Der nou=j ist ein Gott sowohl für die Götter als auch für die Menschen, erklärt er in einem schwierigen Passus. Bordt legt diesen Passus so aus, als ob Platon sagen wolle, beide –Menschen und Götter– sollen den nou=j als Gott anerkennen61. Obwohl darüber heftig diskutiert wird, ist eines jedoch klar: Der

nou=j liegt auf einer höheren Ebene als die Götter. Im metaphysischen Sinne deutet die Politeia an, Gott sei identisch mit dem obersten Prinzip. Aber erst in

58 Diese Klassifikation stammt aus Bordt (2006b). Dort spricht er über eine dritte Hermeneutik, die sogenannte „religiöse“ Interpretation.

59 Vgl. Bordt (2006b), 93.

60 Nomoi 897b1 und Timaios 29ff. Zu bemerken ist, dass Platon derselben Tradition des Anaxagoras und des Diogenes nachgeht.

61 Vgl. Nomoi 897b1: „[...] nou=n me\n proslabou=sa a)ei/ qeo\n o)rqw=j qeoi=j [...]“. Vgl. auch Bordt (2006b), 234.

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den Nomoi drückt Platon dies explizit aus: Aus Hesiod stammt die Idee, dass die Vernunft die Basis des Kosmos und der Gerechtigkeit sei, indem der Dichter Zeus zum Ausgangspunkt aller Dinge machte. Dadurch sollen die Gesetzgeber die Gesetze auf Gott selbst aufbauen, das heißt, die Gesetze müssen ein rationales Fundament haben und sich nach einem Vernunftprinzip –wie die Gestirne im All– richten62. Der nou=j verfügt also über eine ordnungschaffende, strukturierende Funktion (ko/smei, diako/smei). Der Demiurg, der die Weltseele und die Götter erschafft, stellt sich als das Bild des nou=j dar. Im Philebus widerspricht Sokrates Philebus, dass der göttliche nou=j (nicht der menschliche) das Gute sei. Das Gute spielt in der Weltordnung und -struktur eine Rolle, und verursacht, dass alle Sachen gut sind. Leider fehlt in diesem Dialog eine detailliertere Argumentation zu dieser Aussage. Harold F. Cherniss seinerseits empfindet es als falsch, diese Lesart auszuschließen: Das Gute kommt seiner Meinung nach vor dem nou=j und verursacht ihn63. Für Bordt hingegen ist an dieser Stelle ausschließlich der menschliche nou=j gemeint. Sokrates beziehe sich auf eine Passage von Hesiod: Der nou=j ist König von Himmel und Erde. Es ist offensichtlich, dass Platon die Identität zwischen dem Guten und dem nou=j

nicht ausspricht, was seine These jedoch nicht widerlegt. Das Gute muss als

nou=j verstanden werden64, da der nou=j keine Idee ist, sondern ein Etwas, und weil die Idee des Guten keine Idee neben der anderen Idee ist, sondern sich jenseits der ou)si/a befindet, so Bordt65. Auf diese Weise verbindet Platon zwei Sphären, die bis dahin einander fremd waren: die religiöse und die metaphysische. Bezüglich der Religion folgt er dem Beispiel von Hesiod, Solon und Aischylos, indem er Gott als gut bezeichnet. Andererseits teilt Platon die Meinung der Vorsokratiker –mit der Ausnahme Diogenes’ von Apollonia, wie bereits erwähnt–, indem er Gott nicht mit dem obersten Prinzip identifiziert.

Seine Neuerung durch Platon besteht darin, dass diese zwei Kontexte zum ersten Mal in Zusammenhang gebracht werden. In diesem Sinne ist Platon der erste, der Gott in einen klaren metaphysischen Kontext bringt.

Folgende Frage bleibt allerdings unbeantwortet: Inwiefern darf man überhaupt über eine Theologie Platons reden? Hatte der Athener die Absicht, eine programmatische Darstellung der Gottheit anzufertigen? Meiner Meinung

62 Aristoteles holt diese Idee in L nach und entwickelte sie weiter.

63 Vgl. Politeia 517c3.

64 Vgl. Bordt (2006b), 246.

65 Vgl. Politeia 509b9.

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nach ist dies nicht sehr wahrscheinlich. Bei Platon findet sich der Name „Gott“

immer im Rahmen einer Welterklärung: Gott ist ein wesentlicher Teil seines metaphysischen Systems, jedoch kein Element für seine Forschungen. Es bestehen klar definierbare Inkongruenzen zwischen den frühen und späten Dialogen. Es fehlen Details der lediglich skizzierten These des späteren Platons.

Außerdem geht er auf zwei wichtige Punkte nicht ausreichend ein: Gott, das Gute und den nou=j kann er nicht verbinden66, weiterhin ist noch unklar, wie der

nou=j die Seele bewegt. Dies zu lösen, bleibt dem Aristoteles und dem Speusippos67 überlassen. Meine Arbeit widmet sich allerdings nur der aristotelischen Lehre.

4. Die aristotelische qeologikh/

Der Begriff „muqologei=n“ war schon im IV. Jahrhundert vor Christus üblich.

Unter anderem machen Xenophon, Isokrates und Platon Gebrauch von ihm.

Wie bereits erwähnt, erfindet Platon allenfalls einen neuen Ausdruck –

qeologi/a“, der zum ersten Mal in der Politeia erscheint68–, um diese Idee auszudrücken. Die qeologi/a beschreibt die Vorstellung der Dichter bezüglich der Götter und ihren Ahnen.

Aristoteles kümmert sich allerdings nicht wirklich um die qeolo/goi, da sie seiner Auffassung nach lediglich von Mythen handeln und falsche Meinungen verbreiten. Er zieht diejenigen Personen vor, die rationale Beweise bieten, und erfindet neue Kognaten des Wortes, wie zum Beispiel das Substantiv

qeolo/goj“, das Verb „qeologei=n“ und das Partizip aktiv „qeologh/santej69. Er verwendet diese Begriffe immer in Bezug auf Dichter wie Homer, Hesiod, Orpheus und so fort. Die Substantive „qeolo/goj“ und „qeologi/a“ und das Verb

qeologei=n“ verwendet er immer für ihre Erzählungen70. Diesen Erzählungen wird die Weisheit über das Menschliche entgegengestellt. Deshalb

66 Vgl. Nomoi 883-885.

67 Nach Speusippos’ hängt der nou=j, der identisch mit Gott ist, vom ersten Prinzip ab; vgl. sein Fr.38.

68 Vgl. Politeia 2 379a5.

69 Diese Begriffe sind bei anderen Autoren nicht zu finden. Wenn „qeologi/a“ ein alltägliches Wort wäre, so wie Bordt es vorschlägt, dann hätte Aristoteles höchstwahrscheinlich diese Kognaten nicht erfunden. Bordts Vermutung scheint eher unplausibel zu sein.

70 Das Substantiv „qeologi/a“ findet sich auch im aristotelischen Corpus, es kommt genau einmal vor. Zweifellos ist der Sinn des Wortes ähnlich dem platonischen. Vgl. Metereologica 2 353a35.

(25)

unterscheidet der Stagirit zwischen „fusikoi/“ und „qeolo/goi“ oder

qeologh/zantej“. Aristoteles nennt all jene Denker wie die Ionier, Empedokles, Anaxagoras und die Atomisten, die die Ursachen der Welt unter den stofflichen Dingen suchen, „Physiker“71. Aristoteles’ Unterscheidungskriterium zwischen

„Theologe“ und „Physiker“ besteht darin, ob der Autor über die Götter und deren Abstammungen schreibt oder nicht: Wird darüber gedichtet, bezeichnet er den Schriftsteller, der sich auf diese mythologische Weise ausdrückt, als

„Theologe“72. Die Theologen versuchen zu vermeiden, sich mit Zeus anzufeinden73. Deshalb räumen sie ein, dass die Götter erste Substanzen sind.

Obwohl Aristoteles akzeptiert, dass die Mythen teilweise wahr sind, schenkt er diesen Autoren keine große Aufmerksamkeit74.

Gott an sich scheint nie ein philosophisches Thema für Aristoteles gewesen zu sein. Es gibt keinen Beweis dafür, dass er einen Aufsatz über die Götter geschrieben hat. Es liegen jedoch andere Hinweise vor. Diogenes Laertios zum Beispiel berichtet, der Stagirit habe ein Buch Über das Gebet (Peri\ eu)xh=j a’) geschrieben. Auf einer persönlichen Ebene ist bekannt, dass der Stagirit in seinem letzten Willen darum gebeten hat, Athene der Weisen und Zeus dem Weisen jeweils eine Statue zu errichten und die Statue seiner Mutter Phaistis Demeter zu widmen75. Aristoteles verrät aber keine weiteren persönlichen Glaubensüberzeugungen. Selbst wenn man im Corpus etliche Seiten über Gott findet76, wird Gott stets in einer anderen Diskussion genannt.

Im Buch E der Metaphysik findet sich allerdings eine interessante Begriffsvariante, die schnell die Aufmerksamkeit des Lesers gewinnt: Das Adjektiv „qeologiko/j, das von dem Substantiv „qeologikh/“ abstammt77.

71 Vgl. Metaphysica A 983b29, B 1000a9, L 1071b27, L 1075b26 und N 1091a34; Meteorologica 2 353a34-b5. All jene Philosophen, die metaphysische Erklärungsversuche anstreben, wie zum Beispiel Pythagoras oder die Eleaten, werden nicht „fusikoi/“ genannt.

72 Vgl. zum Beispiel Metaphysica B 1000a9 und a18. Diese von Aristoteles stammende Unterscheidung wurde auch weiterhin verwendet – allerdings ausschließlich im peripatetischen Kreis –, zum Beispiel von Eudemus und Philodemus. Dementsprechend ist die von Hippias stammende Unterscheidung (Homer/Thales, Hesiod/Parmenides) erfolgreicher, da die Stoa und die Neoplatoniker oft Gebrauch davon machen.

73 Vgl. Annas (1976), 213.

74 Vgl. zum Beispiel De motu animalium 3 699a27-32; Meteorologica 2 353a35f. Eudemus differenziert diesbezüglich beispielsweise die verschiedenen Abstammungen der Götter. Diesen Unterschied nutzt Gábor Betegh um zu beweisen, dass sich das aristotelische Projekt vollkommen von dem Eudemischen unterscheidet; vgl. Betegh (2002).

75 Diogenes Laertios, Vitae philosophorum E 22.11. Vgl. auch Barnes (1995), 2-3.

76 Bemerkenswert sind die letzten Kapitel von L, die Ethica Nicomachea 10, 7, die Ethica Eudemia 7, 12 und 8, 3 unter anderen.

77 Nicht mit dem Adverb „qeologikw=j“ zu verwechseln. Platon benutzt es schon in der Politeia 10 617d. Zweimal kommt der Begriff „qeologikh/“ vor (Metaphysica E 1026a19 und K 1064b13).

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