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L IST ARCHÄOLOGIE

2. Kritik an Menns Position

Ich finde Menns Kommentar zu L brillant314. Er versteht die Metaphysik als eine Untersuchung über die Ursachen der ewigen Bewegung im Sinne der traditionellen Ideen der früheren Philosophen, das heißt ein von Aristoteles geführter Dialog mit seinen eigenen Vorfahren. Ihm geht es auch um die Frage nach der (Ewigkeit der) Bewegung und deren Prinzipien. Diese Frage stellt Aristoteles aus Anlass des Problems der ewigen Bewegung der Himmel, das er schon in De generatione et corruptione angesprochen hatte. In L6 aber verwendet er zum Zweck der Konfrontation ein Argument, das offensichtlich von Demokrit stammt. Klar ist, dass alle Dinge der Welt mit Ausnahme der beweglichen Himmel und der Himmelskörper vergänglich sind. Gibt es eine spontane Bewegung im Himmel, die jener der vier Elemente entsprechen würde? Das könnte man dem Äther zuschreiben, denn Aristoteles denkt, dieser folge einer natürlichen kreisförmigen Bewegung. Trotzdem sei der Äther nicht der beste Kandidat dafür, denn er kann die verschiedenartigen Bewegungen der Sphären mit ihren verschiedenen Winkeln und Geschwindigkeiten nicht ausreichend erklären. Die Frage bleibt zwar offen, jedoch kommt Aristoteles später in L8 wieder darauf zurück.

Jedoch ist Aristoteles mit seinen Vorfahren insofern einverstanden, als es ein erstes Prinzip gibt, das die Bewegung aller Dinge erklären kann. Die Eleaten waren die Ersten, die die materiellen Ursachen erforschten, und später folgte auch Platon dem Weg der formalen Ursachen. Aristoteles will aber keine der

314 Er versteht die Bücher Q und L als eine starke thematische Einheit, die man nicht abspalten darf; vgl. Menn (masch. Manuskript), „Part III: The true path“.

beiden Ursachen, wie er jeweils in L2 und L3 bespricht, weiterführen. Trotzdem nimmt er Platons Nuance über eine causa efficiens, nämlich die des nou=j auf und beschließt in diese Richtung weiter zu forschen. Diese Suche nach dem ersten Prinzip steht in einer engen Verbindung mit der Suche nach dem Guten, seitdem Anaxagoras und Empedokles – zuerst – und Platon – danach –, das Gute als ein (Mit)Prinzip etablierten. Aristoteles strebt jedoch eine bessere Erklärung des Guten an, da er unzufrieden mit den Erläuterungen seiner Vorfahren ist. Und so stellt er sich die Frage, ob dieses Prinzip die numerische Einheit des to\de besitzt oder nicht. So muss die Suche nach dem ersten Prinzip mit der Untersuchung der Substanz beginnen, da ja die gesuchte und gewünschte numerische Einheit des to\de der Substanz zuzuschreiben ist315. All dies präsentiert Aristoteles als Hintergrund gleich am Anfang der Metaphysik.

Dem Programm nach ist es nämlich in A und in den Aporien von B zu finden.

Aus diesem Grund verweist L immer wieder auf diese Textstellen. Als Antwort auf die Aporien gilt L als der einzig richtige Abschluss des gesamten Werkes.

Deshalb zweifelt Menn daran, dass L ein eigenständiger Text ist. Dieser Text ist eine kompakte Schrift, dessen einzelne Teile gut miteinander verbunden sind.

Sämtliche Teile des zwölften Buches zielen nur auf die (Suche nach der) sofi/a

ab. Deshalb bezeichnet Menn L als „Archäologie“, das heißt die Untersuchung der ersten Prinzipien. Das ganze Buch bezweckt es. Dies erreicht der Stagirit erst bei L10.

Ein großer Vorteil der Mennschen Interpretation liegt darin, dass sie die Beziehung der verschiedenen Teile innerhalb und jenseits von L erkennt: Alle Teile befinden sich also an ihrem richtigen Platz. Leider ist seine Gliederung des

L-Textes noch unvollständig und teilweise nicht überzeugend. In dem mir vorliegenden Manuskript sind, wie oben gesagt, große Lücken zu finden (L3,

L6, L7 und L9)316. Menn trennt L6 und L7 voneinander, obwohl sie eigentlich

315 Menn sieht in L1 vier Argumente, um zu beweisen, dass L von der Substanz handelt (sic). Da L1 das Programm darstellt, ist es schwer zu akzeptieren, dass Aristoteles beabsichtigt, dafür zu

„argumentieren“. Mir scheint es vielmehr, dass die besagten vier Punkte eher „Gründe“

darstellen, warum man die Prinzipien der Substanz suchen sollte. (Etwas Ähnliches findet sich in a2 – vgl. zum Beispiel 994a1-11 –, wo Aristoteles behauptet, es existierten keine unendlichen Ketten von Ursachen.) Das Problem liegt darin, dass Menn denkt, die Untersuchung der Prinzipien sei Teil der Suche nach der Substanz. Meiner Meinung nach ist jedoch genau das Gegenteil der Fall: Aristoteles muss sich mit der Substanz befassen, denn er interessiert sich für die ersten Prinzipien. Anders ausgedrückt: Die Substanz ist der Ausgangspunkt seiner Suche nach den Prinzipien.

316 Man darf allerdings nicht vergessen, dass es sich hierbei um eine unvollendete Arbeit handelt.

zusammen gehören, um die Rolle der e)ne/rgeia als das erste Prinzip zu verdeutlichen317. Er betrachtet L6, L9 und L10 als eine Einheit, um die noch ungelösten Aporien aus dem Buch B zusammen zu lösen. Diese Lösung der Aporien zeigt den Weg der sofi/a. Aber damit stößt Menn auf ein neues Problem: Was hat es mit L1-5 auf sich? Menn bietet eine seltsame Erklärung an:

L1-5 weist keine sofi/a an sich auf, sondern einen (vagen, charakterlosen)

„Beitrag zur sofi/a“ („contribution towards wisdom“)318. Die beste Beschreibung, die Menn für L2-5 findet, lautet, dass es instrumental sei. Auf der anderen Seite wäre es schwer zu akzeptieren, dass L doch eine archäologische Schrift ist, denn – laut Menn – geht es in L6-10 nicht um die Prinzipien der unsichtbaren Substanzen. Dieses versteht nur derjenige, der L6-10 für eine präzise Studie über die unsichtbaren Substanzen im Rahmen einer breiteren Untersuchung der Prinzipien der sichtbaren Substanzen hält. Nur so macht es Sinn, das gesamte L

für eine Archäologie zu halten. Ich teile Menns Meinung nicht, L2-5 sei in der Forschung der sofi/a instrumental. Diese Kapitel sind meines Erachtens durchaus ein Teil – und zwar der erste – der Suche nach der sofi/a. Damit meine ich, dass alle Kapitel von L eine Darstellung der sofi/a sind. Das wird ausführlicher im nächsten Kapitel dieser Arbeit diskutiert. Bedeutend ist hier, dass diese Darstellung unvollständig ist. Man wünscht sich vor allen Dingen eine umfassende Analyse der Natur der unsichtbaren Substanzen und der ersten Substanz sowie der Rolle der e)ne/rgeia als erstes Prinzip.

Menns spezifisches Verständnis der Archäologie als Disziplin, die auf die

sofi/a abzielt, impliziert eine völlig andere Einteilung der verschiedenen Wissenschaften. Folgendes Schema zeigt, wie Menn sich deren Beziehungen vorstellt: Die Archäologie ist ein Teil der sofi/a, die wiederum ein Teil der

qeologikh/ ist. Die qeologikh/ wird von der Astronomie unterstützt, hingegen die Archäologie von der Ousiologie mittels der Forschung des to/de. Dieses Schema unterscheidet sich stark von jenem am Anfang dieser Arbeit, das meiner eigenen Vorstellung entspricht.

317 Damit will Menn der von Merlan und Laks kommentierten Einheit L6-7 widersprechen; vgl.

Merlan (1946), 18 und Laks (2000), 207.

318 Menn (masch. Manuskript), § „L1, the status of L1-5 and the skopo/j of L“, 14.: „I think that […]

Aristotle does not describe L1-5 as physics; they are instead intended as a contribution toward wisdom“.

qeologikh/

Menns Kommentare über L8 und L10 sind zweifellos bemerkenswert: Seine mathematische Ausbildung bereichert das Verständnis des schon veralteten astronomischen Systems des Stagiriten319. Diese Erklärung hilft, L8 gegen die allgemeine Behauptung, es gehöre nicht zum zwölften Buch, in den Kontext von L einzugliedern. Überdies bringt Menn die in L10 vorliegende Diskussion über das Gute nicht nur mit Anaxagoras, Empedokles und Platon, sondern sogar mit Plotin in Verbindung. Die Mennsche Verteilung der verschiedenen Teile von L10 trägt dazu bei, den Text genauer zu interpretieren: Laut Menn ist es vielmehr ein Dialog mit den früheren Philosophen und kein historischer Überblick, um eine neue Diskussion vorzubereiten, zumal keine neue Diskussion in L vorliegt. Korrekt ist, dass Menn L mit anderen Büchern des Corpus in Verbindung bringt, um die sehr kompakten, manchmal sogar telegraphischen Argumentationen zu ergänzen, vor allem Physik 8, De anima 3 und De generatione et corruptione.

Nur mithilfe dieser Texte versteht man einen wesentlichen Punkt von L

richtig, und zwar, dass die e)ne/rgeia des ersten Bewegers keine Bewegung ist, sondern no/hsij. Die „no/hsij“ als Attribut (sic)320 verhüllt den Kommentatoren

319 Vielleicht übertreibt Menn ein bisschen, wenn er behauptet, Aristoteles habe das astronomische Wissen seiner Zeit revolutioniert, indem er dessen Prinzipien verändert hat. Vgl.

Menn (masch. Manuskript), § „The argument continued: why astronomical or cosmic reversals require a single eternal motion“, 27: „In insisting that the first and governing motions are uniform circular motions, Aristotle is endorsing the conclusions, and, more importantly, the methodological principles, of Eudoxian mathematical astronomy, as against pre-Socratic-style narrative physics. This leads Aristotle to a radical re-working of physics“.

320 Hierbei möchte ich den Gebrauch des Wortes „Attribut“ („attribute” im englischen Original) kritisieren. Es erinnert an die göttlichen Attribute der theologischen Lehre, was uns wieder zur theologischen Lesart zurückführen würde. Treffender wäre, das griechische Wort

sofi/a to/de

Archäologie Ousiologie

Astronomie

das Attribut „e)ne/rgeia“. Die e)ne/rgeia der ersten Substanz ist kein Prädikat, weil sie wesentlich e)nergou=sa ist. Menn schließt damit den Kreis der aristotelischen Metaphysik: Gottes eigenes Denken ist die von Aristoteles gesuchte sofi/a. Die

sofi/a gewinnt hier eine doppelte Bedeutung, nämlich die von Gott und die von den Menschen: Einerseits ist sie die von Aristoteles gesuchte Wissenschaft, andererseits ist sie Gottes eigenes Denken321. Die zentrale Bedeutung ist die, die sich auf Gott bezieht. Nur per Homonymie wird das menschliche Wissen der Prinzipien auch sofi/a genannt322. Dies kann zu Missverständnissen führen, denn der menschlichen Natur ist es nicht gegeben, die no/hsij der no/hsij noh/sewj

zu besitzen. So stößt Menn auf die längst bekannte Diskussion, ob die Theologie und die sofi/a auf L bezogen sind. De philosophia sollte die Theologie des Aristoteles dargestellt haben. „Theologie“ bedeutet für Aristoteles den Diskurs über die immateriellen Substanzen. Andererseits ist die sofi/a die Wissenschaft der ersten Ursache, das heißt des Guten als erstes Prinzip323. Die sofi/a ist also kein Wissen der Formen – pace Platon –, sondern Wissen des Prinzips. So löst Menn den Konflikt zwischen beiden Begriffen. Dafür reduziert er den Unterschied zwischen beiden auf eine quantitative Frage. Die Theologie ist umfangreicher als die sofi/a: Sie befasst sich mit allen unbewegten Bewegern, während sich die sofi/a lediglich mit dem Ersten beschäftigt. Menn führt die Idee bezüglich der Ähnlichkeit zwischen dem ersten Beweger und den anderen Bewegern der Sphären fort. Er vertritt teilweise die Meinung, zwischen ihnen bestehe kein Unterschied. Die einzige Differenz zwischen dem ersten Beweger und den weiteren wäre die Position in der Kausalitätskette. Er bemerkt allerdings, dass der erste Beweger absolut bewegungsunfähig ist324, während sich die weiteren unbewegten Beweger doch per accidens nach der Bewegung der Sphären richten, die sie selbst bewegen (ähnlich der Bewegung der Seele von den Tieren).

sumbebhko/j“. Vgl. zum Beispiel Physica 186b19-35; De partibus animalium 639a27-30 und 643a27-31; für eine weitere Diskussion vgl. zum Beispiel Lennox (2001), ad passum.

321 In L hat Aristoteles den ursprünglichen Sinn des akademischen Begriffs „Gott“ beibehalten.

322 Vgl. Metaphysica A2 983a5-10. Dies verdeutlicht das Schema in der ‚Einleitung’ dieser Arbeit.

323 Diese erste Ursache hat eine doppelte Kausalität: eine effiziente und eine finale. So erklärt Menn die sofi/a als die Wissenschaft dieser Ursachen in Hinsicht auf das erste Prinzip.

324 Merkwürdig ist die Aussage Menns, der erste Beweger e)nergei= immer auf dieselbe Weise,

„um“ Bewegung zu produzieren. Der Beweger verfolgt tatsächlich keine Absicht oder Zielvorstellung, etwas in Bewegung zu setzen. Menn (masch. Manuskript), § „The strategy of L6 and the eternity of motion“, 1: „[...] what he [Aristoteles] emphasizes instead, against both Anaxagoras and the Timaeus, is that the a)rxh/ is always acting in the same way to produce motion“.

Menns Interpretation ist unter den bisher vorhandenen zweifellos die beste, und zwar aus diesen Gründen: Menn versteht das Werk Metaphysik als ein einziges Projekt und somit integriert er das Buch L in das gesamte Projekt; er löst außerdem die Spaltung der zwei Hälften des zwölften Buches mit einem besseren Verständnis der inneren Architektur des besagten Buches, das sogar

L8 beherbergt; er betont die Rolle der e)ne/rgeia, wie kein anderer zuvor; damit betont er die Suche einer Aktivität als erstes Prinzip anstatt einer Substanz, wie es üblich gewesen war; er findet die Lösung für die in B gestellte aporetischen Fragen; und schließlich sieht er die Arbeit des Stagiriten im Kontext der Versuche der Vorsokratiker, das erste Prinzip zu finden. Sobald Menns Kommentar zur Metaphysik abgeschlossen und veröffentlicht ist, werden die Untersuchungen einen neuen Impuls für das noch junge Jahrhundert geben.

Doch selbstverständlich hat seine Lesart auch einige Schwachpunkte: Menn versteht die Archäologie als ein geringeres Gebiet der etwas breiteren sofi/a; damit trennt er ganz subtil die Absicht des Aristoteles nicht nur innerhalb der Metaphysik (die sofi/a und L Archäologie sei), sondern auch innerhalb desselben Buches L (1-5 sei „contribution towards wisdom“); er versteht die no/hsij als ein

„Attribut“ Gottes, was eventuell zu einer Rückkehr einer leichten Version der theologischen Interpretation führen könnte; und schließlich denkt er, dass die Untersuchung der Substanz die Untersuchung der Prinzipien enthält, während ich für das Gegenteil plädiere, das heißt, ich gehe davon aus, dass Aristoteles vor allem die Prinzipien sucht, und dafür muss er sich erst einmal mit der Substanz beschäftigen. Deshalb will ich im nächsten Kapitel meine eigene Position zum Thema vorstellen, die sich hauptsächlich mit Menn und Frede auseinandersetzen wird. In diesem werde ich möglichst deutlich die Unterschiede zwischen der Mennschen Interpretation und meiner eigenen darstellen.