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Die Überlieferung von L unter den peripatetischen Denkern

L IST THEOLOGIE

1. Die Überlieferung von L unter den peripatetischen Denkern

Zu den bedeutendsten Schülern des Aristoteles zählen Theophrast und Eudemus von Rhodos. Beide beschäftigen sich mit dem Werk ihres Lehrers.

Nach dem Tod des Aristoteles kehrt Eudemus zurück nach Rhodos, wo er eine eigene Schule gründet. Zu seinen Hauptinteressengebieten gehören die Arithmetik, die Geometrie und die Astronomie. Einige Problemstellungen stellt er in seiner Sammlung von i(stori/ai der Wissenschaften vor. Mehrere Kommentatoren sind der Meinung, Eudemus’ Geschichte sei Teil eines

weitreichenderen Projektes, das Aristoteles selbst begonnen haben soll104. Jørgen Mejer zeigt, dass bei der oben genannten Geschichte der Wissenschaften das Werk (gegebenenfalls auch dessen Ziel) oder dessen Titel missverstanden wird105. Beschäftigt man sich mit erhaltenen Fragmenten, merkt man, dass Eudemus nur eine geringe Zahl der Probleme untersuchte, und zwar jene, die eine aristotelische Wurzel haben. Deswegen behauptet Mejer, dass die Arbeit des Eudemus in der Tat keine historische Schrift sei. Die Kommentatoren sind stets davon ausgegangen, dass Eudemus zum ersten Mal die Geschichte der antiken Wissenschaften zusammengefasst hat. Laut Mejer sollte man den Text anstatt „Geschichte“ eher „Untersuchung“ (research) nennen. Eudemus ist also nicht der erste Historiker der Wissenschaften, als der er oft bezeichnet worden ist. Dennoch ist Mejers Position zum Inhalt des eudemischen Textes wohl eher eine Ausnahme.

Ob Eudemus im letzten Abschnitt seiner Geschichte eine historische Darstellung der Theologie lieferte –oder tatsächlich liefern wollte–, bleibt daher noch immer unklar. Der Titel des genannten Abschnittes, „Theologie“, scheint erst später, wahrscheinlich durch Damaskios oder durch einen anderen Neoplatoniker, hinzugefügt worden zu sein106. In diesem Teil berichtet Eudemus über Homer, Hesiod, die Orphiker, Akusilaos, Epimenides, Pherekydes von Syros, Musaios etc. sowie über die Kosmogonien aus Babylonien, Persien und Phönizien. In dieser Gruppe stellt er diejenigen Autoren vor, die von Aristoteles als „Theologen“ bezeichnet wurden107. Jaeger erachtet diese Einteilung als haltlos, zumal Eudemus Aristoteles nicht zu diesen Autoren zählt108. Allerdings ist dies nicht der zentrale Punkt der jüngsten eudemischen Studien. Hätte Aristoteles ein theologisches Werk geschrieben, wäre es sehr wahrscheinlich, dass ihn Eudemus –als sein Schüler– zitiert hätte.

Dies wäre selbst dann der Fall, wenn Eudemus beabsichtig hätte, den kosmogonischen Diskurs von dem philosophischen zu unterscheiden.

Dementsprechend hätte er ganz bestimmt Aristoteles behandelt. Dies hat er aber nicht getan. Dank des Fragments 150 (Wehrli) kann man ausschließen, dass das aristotelische Corpus eine Rolle bei der Interpretation der alten

104 Zum diesem Projekt sollten auch die Physikai Doxai des Theophrasts und die Iatrika des Menon gehören; vgl. Gottschalk (2002).

105 Vgl. Mejer (2002).

106 Es kommen weitere Neoplatoniker in Betracht. Dazu kommen wir später noch.

107 Ein Synonym dazu ist „a)retalo/goj“. Mit diesem Begriff bezeichnen die hellenistischen Autoren die „Wundererzähler“, das heißt „Erzähler hübscher Geschichten“, etc.

108 Vgl. Jaeger (1947), 14.

„Theologen“ gespielt hat. Das heißt also, dass der Sinn des Wortes „Theologie“

zumindest im peripatetischen Bereich sogar nach Aristoteles’ Tod unverändert geblieben ist.

Es gibt noch eine ältere Diskussion bezüglich Eudemus’ Arbeit. Sie erreicht uns durch den Text über das De principiis des Damaskios (462 – nach 538). Das Fragment ist wohl die älteste Quelle der antiken Kosmogonien und zeigt die Entwicklung von mu/qoj zum lo/goj. Die Frage ist, ob man das Fragment 150 von Wehrli als Teil eines (verloren gegangenen) fortlaufenden Werkes akzeptiert oder nicht. Dieser Fragestellung soll jedoch in der vorliegenden Arbeit nicht weiter nachgegangen werden.

Als Aristoteles nach Chalkis flieht, bleibt sein Schüler Theophrast in Athen und wird bald zu seinem Nachfolger im Lyzeum. Theophrast veröffentlicht daraufhin eine wichtige Textreihe mit den Äußerungen des Eudemus. Des Weiteren schreibt er ein Buch, welches unter dem Titel Metaphysik bekannt ist.

Zu diesem Buch liegen verschiedene Hypothesen vor, da es in der Tat immer noch unklar ist, welchen Titel das Werk ursprünglich trug. Burnikel schlägt vor, es in Theophrasts Anteil an der Metaphysik des Aristoteles umzubenennen, um den ursprünglichen Sinn beizubehalten. Van Raaltes behauptet, es sei eine unabhängige Abhandlung über die Prinzipien. Laks und More gehen davon aus, es handele sich um ein Fragment einer ganzen Metaphysik Theophrasts. Heutzutage hat die Behauptung von Laks und More viele Anhänger109.

In seinem Buch untersucht Theophrast dreierlei: (a) die Bezeichnung der einzelnen Dinge, (b) ihre Relation zueinander und (c) die Wesensbestimmung des Ganzen110. Wie sein Lehrer Aristoteles fragt auch der Schüler Theophrast nach dem Prinzip der beweglichen Dinge. Die Frage stellt sich im Rahmen der Teleologie, die von Theophrast ausführlich problematisiert wird. Laks und More nennen drei Stichwörter, mit denen die Diskussion leicht verfolgt werden kann: „morfh/“, „ei)=doj“ und „du/namij“. Das Hauptinteresse Theophrasts bei der Auffassung der Metaphysik ist meiner Meinung nach die Prinzipienlehre. Hier übt er Kritik an der aristotelischen Kosmologie, Meteorologie und Biologie. Was das Verhältnis zwischen der theophrastischen Metaphysik und dem aristotelischen Buch L betrifft, tendiert man heute zu der Annahme, dass

109 Vgl. zum Beispiel Heinrich (2000), 15-16.

110 Vgl. Heinrich (2000), 224.

Theophrast das Buch L der Metaphysik seines Lehrers höchstwahrscheinlich gekannt hat. Jörn Heinrich geht von Folgendem aus111:

Die Diskussion um §7 [der Metaphysik Theophrasts] und L8 [der aristotelischen Metaphysik] ist letztlich unergiebig geblieben. […] Ich halte es für höchst unwahrscheinlich, dass diese zentrale Frage der aristotelischen Prinzipienlehre nicht vor der Entstehung der Metaphysik Theophrasts von beiden diskutiert worden ist. Dafür sprechen: 1. Die Frage nach Singularität oder Pluralität hat bereits eine philosophische Tradition und findet schon in der Vorsokratie mehrere Anwendungsfelder, zum Beispiel Theologie (Homer, Xenophanes) oder Wahrheitstheorie (Parmenides, Sophisten). 2. Aristoteles selbst referiert in der Physik diesbezüglich vorsokratische Positionen […].

Eine relevante Hypothese lautet: Je bedeutender ein Fragment für eine Schule oder einen Autor ist, desto größer ist die Möglichkeit, dass es über die Jahrhunderte hinaus überliefert wird112. Daraus darf man Folgendes schließen:

(a) Das Interesse des Aristoteles an einer Prinzipienlehre rührt von den ältesten philosophischen Diskussionen her, die die Vorsokratiker bereits initiiert hatten.

Eine solche Prinzipienlehre passt besser zum philosophischen Programm des Aristoteles als ein theologischer Exkurs. (b) Es ist anzunehmen, dass auch Theophrast sich mit dieser Lehre beschäftigen wollte. Aus seinen zahlreichen Werken geht hervor, dass er auch anderweitigen Interessen nachging. Der Inhalt der theophrastischen Metaphysik kann jedoch als sein Hauptinteressengebiet bezeichnet werden. Dort stellt sich stets die Frage nach den Prinzipien, niemals nach Gott. (c) Wäre das (Haupt)Interesse des Aristoteles die Frage nach einer philosophischen Gotteslehre gewesen, dürfte man zu Recht vermuten, dass Theophrast dies berücksichtigt hätte. Da Aristoteles sich vorwiegend mit den ersten Prinzipien beschäftigt, untersucht diese auch Theophrast genauer. Als Schüler des Stagiriten möchte er Aristoteles’ Lehre der Teleologie verbessern.

Weiterhin weist Theophrast darauf hin, dass das Bewegungsprinzip etwas Göttliches ist. In seiner Metaphysik behandelt er die Frage nach dem

111 Heinrich (2000), 251.

112 Silvia Fazzo ist der Meinung, das zwölfte Buch ist sehr gut erhalten worden: „il testo di Lambda infatti è stato copiato con uno zelo ammirevole e quasi religioso [...] Questo zelo è significativo e non casuale: anche al tempo die codici più antichi, Lambda era considerato depositario dell’esposizione più alta dei principi primi: lo si vede dai margini del codice E, dell’inizio del X secolo, anteriore dunque per data a tutti i commenti continui medievali“; Fazzo (2012), 23-24.

Bewegungsprinzip so, wie man es von einer Frage hinsichtlich Gottes erwarten würde. Theophrast unterscheidet seinerseits klar zwischen diesen beiden Fragen113. Aufgrund der ähnlichen Annäherung an diese beiden Fragen ist die entstandene Verwirrung unter den Kommentatoren im Blick auf Gott und das erste Bewegungsprinzip verständlich. Sollten gar keine Hinweise über eine (mögliche) Gotteslehre –weder in Fragmenten von Eudemus noch von Theophrast– erhalten geblieben sein, hat die Gotteslehre im philosophischen Programm des Aristoteles und der Peripatetiker höchstwahrscheinlich keine Rolle gespielt. Wäre L verfasst worden, um eine Gotteslehre anzubieten, würden wir heutzutage wohl über eine klare Äußerung darüber –entweder von Eudemus oder von Theophrast oder von irgendeinem anderen Peripatetiker–

verfügen. Dies ist allerdings nicht der Fall. Während Eudemus sich mit Problemen eines anderen wissenschaftlichen Bereiches beschäftigt, kritisiert und korrigiert Theophrast die Prinzipienlehre seines Lehrers114.

Ein weiterer Grund zugunsten dieser theologischen Lesart besteht darin, was Silvia Fazzo115 als „Lambda-Zentrismus“ bezeichnet. Lange Zeit hielten die meisten Kommentatoren L für den entscheidenden Teil der ganzen Metaphysik.

Da sich das ganze Werk um L drehen sollte, wuchs der Eindruck, das zwölfte Buch sei nicht nur sein Kern und seine Haspe, sondern auch sein Höhepunkt.

Dieser Interpretation nach soll L also das Hauptthema der ganzen Metaphysik darstellen: Gott. Die theologische Auffassung wurde verstärkt, indem Gott nicht nur als Objekt der Begierde des ko/smoj funktionierte, sondern auch als das des Lesers, indem dieser dazu strebt, die Gotteslehre zu erreichen. In diesem Sinne schienen die restlichen Bücher M und N eher ein Zusatz zu sein, der in der gesamten Struktur des Werkes nicht ganz zu verstehen war. Der „Lambda-Zentrismus“ soll nicht nur als verantwortlich für eine falsche theologische Lesart gelten, sondern auch für ein Missverständnis der Strukturierung der gesamten Metaphysik. Er wurde in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts verschoben und somit gewann die Substanzlehre den Vorrang unter den Kommentatoren bis zu einem gewissen „Zeta-Zentrismus“, der mit

113 Vgl. Metaphysica 4b6f. und 7b19f.

114 An dieser Stelle könnte man ein Eingehen auf Alexander von Aphrodisias (Kopf des Lyzeums: 198-209) erwarten, doch hat er zur Frage kaum etwas zu sagen, da er L nicht kommentiert. Er identifiziert freilich „sofi/a“, „qeologikh/“ und „ta\ meta\ ta\ fusika/“. Die qeologikh/ sucht die erste Ursache-Form, die eine unvergängliche Substanz sei. Aristoteles nenne diese mal „Gott“, mal „nou=j“. Vgl. Commentaria in Metaphysica B1 171 5ff.

115 Fazzo (2009b), 31.

dem von L rivalisierte, so Fazzo. Gegen Donini und andere Vertreter der ousiologischen Lesart behauptet sie, L handle weder von der Substanz noch von Gott116. Fazzos Argument bezieht sich auf die erste Zeile vom Buch L, in der Aristoteles schreibt, dass peri\ th=j ou)si/aj h( qewri/a. Ihrer Meinung nach ist diese Zeile nicht der Titel des zwölften Buches, sondern eher eine allgemeine Anweisung zur Diskussion117. Dieser Hinweis soll sich sowohl auf den generellen Plan der Metaphysik, eine Lehre der ersten Philosophie darzustellen, als auch auf die Tradition der antiken Philosophen, die die Substanzprinzipien untersuchten, beziehen. Das bedeutet, dass die gemeinte qewri/a als eine Anweisung auf das gesamte Werk dient und nicht nur auf die spezifische Unternehmung des zwölften Buches. Das heißt, die ganze Metaphysik untersucht –genau wie sich die antiken Denker damit bereits beschäftigt hatten–, wie die Substanz ist und welche ihre Prinzipien sind. Darüber wird in dieser Arbeit noch diskutiert.