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L IST THEOLOGIE

5. Moderne Kommentatoren

Da ich auf die Autoren der Scholastik und der Renaissance nicht eingehen kann, mache ich einen Sprung von etwa zehn Jahrhunderten. Ich befasse mich

143Vgl. Endress (1973).

144Vgl. Gohlam, Hg. (1974), 30-35.

also als nächstes mit modernen Kommentatoren. Darunter wähle ich die bedeutendsten Interpretationen aus, und, um diese Arbeit nicht bis ins Endlose fortzuführen, sehe ich mich gezwungen, einige Variationen beiseite zu lassen.

Ich beginne zuerst mit den deutschen Philologen, die sich im XIX. Jahrhundert die Mühe gemacht haben, die Wurzeln des aristotelischen Corpus zu erforschen.

Zunächst wäre da Christian August Brandis zu nennen, der den aristotelischen Studien bereits 1823 einen neuen Impuls verlieh. Das ganze XIX. Jahrhundert war geprägt von deutschen Forschern in diesem Bereich. Erst mit Ross gewinnt die aristotelische Forschung im XX. Jahrhundert einen bedeutenden nicht-deutschen Forscher hinzu. Deshalb widme ich ihm einen eigenen Abschnitt.

Anschließend verfolge ich die Diskussionen des XX. Jahrhunderts. Die Mehrheit der nachstehend genannten Kommentatoren ist mittlerweile schon verstorben.

5.1 Philologische und philosophische Kommentare des XIX. Jahrhunderts in Deutschland

Zuerst mit der Diatribe de perditis Aristotelis libris de ideis et de bono sive philosophia (1823) – und später mit einem Aufsatz im Rahmen der Denkschrift der Berliner Akademie (1834) – initiiert Brandis weitere grundlegende Forschungen. Seine Arbeit bietet, laut Werner Jaeger, eine „genetische Auffassung der Metaphysikbücher mit glänzendem Scharfsinn, mit Methode und tiefster Sachkenntnis“145. Sowohl Hermann Bonitz als auch Eduard Zeller kennen und schätzen die Arbeit Brandis’. Dank Bonitz wird sie verbreitet, obwohl er nicht damit einverstanden ist, die Metaphysik eher als ein literarisches anstatt eines hypomnematischen Werkes zu begreifen. Brandis hält die Substanz für das Hauptinteresse des Aristoteles. Deswegen ist ZH, sagt er, der Kern der Metaphysik, Q liege dem auch nahe. Mit diesen Worten fasst er die thematische Einheit der Bücher GEZHQ zusammen. MN betrachtet er eher als einen Teil der Physik. Zum ursprünglichen Projekt der Metaphysik könnten a, D und L

keineswegs gehören. Das spätere Buch, nämlich L, stehe für sich selbst und ist somit ein besonderes Spiegelbild der aristotelischen Lehre. Damit beabsichtigt der Stagirit, so Brandis, den Status eines selbstständigen Aufsatzes.

145 Jaeger (1912), 8.

Seinerseits unterstützt Franz N. Titze146 die Behauptung, die Metaphysik könne kein einheitliches Werk sein. Seiner Meinung nach gibt es zwei verschiedene Projekte innerhalb des von uns bekannten Buches Metaphysik, und zwar AKL und ABGEZHQIMNL. „Aristoteles schlug eine historisch-kritische Vorbereitung des L in Gestalt von MN hinzu“147, so Jaeger. Titzes Leistung besteht darin, dass er die „völlige kritische Zerstückelung der Metaphysik“

beendet148. Nach ihm wird versucht, die Metaphysik sowie die vielen Umstellungen in den entsprechenden Büchern zu rekonstruieren. Fünfzehn Jahre nach Titze verteidigen einige Gelehrte noch immer die Ganzheit der Metaphysik, selbst wenn diese Idee bereits vor langer Zeit als veraltet verurteilt worden war. Man könnte dies als einen Rückschritt bezeichnen. Karl-Ludwig Michelet149 und Johann Enouch Wilhelm Brummerstädt150 gehen davon aus, dass K und L1-5 jeweils BGE und ZHQ zusammenfassen. Anschließend untersuche Aristoteles die unsichtbaren Substanzen in L6-10. Michelet vertritt die Meinung, dass MN das Programm von L weiterführt ohne weitere Erklärungen über die unsichtbaren Substanzen. Auch Johann Carl Glaser151, um ein weiteres Beispiel zu nennen, erkennt zwei weitere Projekte und stellt eine neue Ordnung der Bücher auf: AK1-8L und ABDGEZHIQML6-9N.

Wenige Jahre später erhält die Aristoteles-Forschung dank Albert Schwegler wieder einen positiven Impuls und es beginnt eine neue Ära in diesem Bereich.

Zusammen mit Bonitz ist Schwegler einer der ersten Aristoteles-Kommentatoren der Gegenwart152. Selbst wenn seine Auffassung in Bezug auf die Ordnung der Bücher uns – aufgrund der fehlerhaften Deutungen – eher wenig weiter bringt, gilt sein Standpunkt zum Metaphysik-Problem als eine wichtige Neuerung, zumal er die Aufmerksamkeit eher auf das Kritische als auf das Exegetische lenkt. Obwohl er bereits eine moderne philologische Avance zum Corpus macht, ist seine Meinung noch immer von dem neoplatonischen Verständnis des aristotelischen Systems geprägt. Laut Schwegler ist Gott das Wesen (gemeint ist die Substanz), welches die Metaphysik – als Wissenschaft – sucht. Die Idee von Gott ist das Hauptthema, Ziel und Inspiration sämtlicher

146 Vgl. Titze (1826).

147 Jaeger (1912), 4.

148 Jaeger (1912), 4.

149 Vgl. Michelet (1836).

150 Vgl. Brummerstädt (1840).

151 Vgl. Glaser (1841).

152 Vgl. Schwegler (1847).

metaphysischen Gedanken des Stagiriten. Folglich ist die Metaphysik reine Theologiké, die Suche nach Gott als erstes Prinzip aller Wesen. In diesem Sinne ist L nicht nur der Beschluss der Metaphysik, sondern auch ihre „Kuppel“, da Aristoteles in ihr die höchsten Prinzipien aller Wesen darstellt. Das höchste Prinzip ist die Idee des ersten Bewegers – die Gottesidee. Schwegler irrt sich, wenn er Gott und den ersten Beweger mit einer Idee identifiziert. Aristoteles wäre niemals damit einverstanden gewesen, seine Gottesvorstellung mit einer Idee zu vergleichen. Für ihn ist Gott eine echte und authentische Wirklichkeit, keine (rationale) Idee. Bemerkenswert ist allerdings, dass der Kommentator L

auch philologisch betrachtet. In seiner Arbeit erklärt er, dass die ersten Kapitel (L1-5) eine Einführung zu den nachfolgenden Seiten des gleichen Buches sind.

Schwegler kritisiert insbesondere den letzten Teil von L. Es fehle an innerer Kohärenz, das Werk sei aporetisch, sogar etwas unheimlich, außerdem bleibe seine Absicht im Unklaren, konstatiert Schwegler153. Auf der anderen Seite befasst Schwegler sich mit einigen Kapiteln von L, und zwar L4-5, in denen allem Anschein nach eine Antwort zur 8. und zur 14. Aporie zu finden ist.

Diese Beziehung zwischen dem zwölften Buch und den Aporien des dritten Buches wird später intensiver untersucht werden.

Nach Schwegler taten es ihm alle gleichgesinnten Kommentatoren entsprechend ähnlich und versuchten, dieselbe Frage zu beantworten: Wie ist der innere Aufbau von L zu verstehen, wenn man bereits die zwei identifizierbaren Teile von L akzeptiert hat, zumal bisher noch immer keine direkte Verbindung hergestellt werden konnte? Als nächstes beschäftigt sich Hermann Bonitz damit154. Er räumt ein, dass L für die Metaphysik von großer Bedeutung sei, vertritt allerdings die Position, L bestehe aus zwei Teilen. Der erste Teil sei seiner Meinung nach kurz und abrupt und untersuche die Substanz – das Erste unter allen Dingen. Der zweite Teil hingegen sei in seinem Aufbau lang und komplex. In diesem Teil erforsche Aristoteles die ewige und unbewegte Substanz: ein bewegendes Prinzip, das selbst bewegungslos sei. In

E1 unterscheidet der Stagirit die verschiedenen theoretischen Wissenschaften.

Bonitz geht darauf zurück, um die erste Hälfte von L von der metaphysischen Forschung zu trennen. Er ist davon überzeugt, dass in L1-5 die Physik zum Hauptthema gemacht wird, wodurch der Diskussion um L ein neues Element

153 Vgl. Schwegler (1847-1848), IV 236.

154 Vgl. Bonitz (1849), 23-35.

hinzugefügt wird, das noch immer präsent ist: Welche Wissenschaft sollte dem Buch L zugeordnet werden?

Diese Problematik, fortgeführt von Friedrich Ueberweg155, prägt das Ende des XIX. Jahrhunderts. In den Folgejahren ist vor allem Werner Jaeger die richtungsweisende Persönlichkeit, bis Sir David Ross der Forschung eine neue Richtung gibt. Zu Anfang des neuen Jahrhunderts ist jedoch auch noch Albert Gödeckemeyer156 als Forscher auf dem Gebiet aktiv. Er vertritt die Meinung, die Metaphysik sei ein einheitliches Werk. Dazu gehörten allerdings nur die Bücher

AaBGEZHQIMN, nicht aber L. So sieht er auch keinen Zusammenhang zwischen den Büchern K und L. Allerdings findet er ein anderes Programm in L, dessen Einleitung A8-10 beziehungsweise K1-8 gewesen wären, folglich bestünde also doch eine Beziehung zwischen K und L.

Werner Jaeger interessiert sich nicht dafür, die Metaphysik hypothetisch zu rekonstruieren, sondern er versucht sie eher aus einem historischen Blickwinkel zu begreifen. Zu diesem Zweck beginnt er zunächst mit einer Übersicht über seine Vorgänger. In der „Einleitung“ seiner Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles bietet er more Aristoteleo einen historischen Überblick der verschiedenen Aussagen seiner Vorfahren bezüglich der Metaphysik an.

Auch ich bin diesem historischen Aspekt gefolgt. Nachstehend behalte ich diese Methode bei, um eine exakte Darstellung der Kritiken aufbauen zu können.

Laut Jaeger war Bonitz der Meinung, dass weder a noch D oder L zur Metaphysik gehören sollten. Jaeger ist mit dieser Sichtweise jedoch nicht einverstanden. Beide Autoren sehen L als eine Schrift, die aus der Metaphysik herrühren muss. Jaeger verteidigt eine Entwicklung der Metaphysik. Laut Jaeger sagt Aristoteles in einer ersten, platonischen Stufe, dass die Metaphysik Theologie sei: „Seine [Aristoteles’] ursprüngliche Metaphysik ist Theologie, Lehre vom vollkommensten Seienden [...]“157. Darauf folge eine zweite Phase, in der Aristoteles akzeptiert habe, dass dieses vollkommenste Seiende nur ein Teil der Metaphysik sei158. Offensichtlich ist das in den Substanzbüchern159 erklärt worden, „von den mannigfaltigen Bedeutungen des Seienden (o)/n) und von der

155 Vgl. Ueberweg (1862), 238-239.

156 Vgl. Gödeckemeyer (1907) und (1908).

157 Jaeger (1923), 224.

158 Jaeger (1923), 214.

159 Jaeger erfindet den Namen „Substanzbücher“, um ZQHzu nennen. Stephen Menn kritisiert überzeugend diesen Namen, der noch von einer alten Interpretation der Absicht (skopo/j) Aristoteles’ im Metaphysik-Projekt ist. Vgl. Menn (masch. Manuskript), § „Q and the ongoing investigation peri\ a)rxw=n“, 1-10.

fundamentalsten unter ihnen, der Wesenheit (o)usi/a)“160 handeln. Wie wir noch gleich sehen werden, findet man eine sich immer weiterentwickelnde Meinung eher bei Jaeger und nicht bei dem Stagiriten.

Jaeger ist davon überzeugt, dass zwischen K und L keinerlei Beziehung besteht und widerspricht somit Gödeckemeyers unscharfer Aussage. Die Voraussetzung von L1 sei in K nicht zu finden. Auch L beantworte nicht die in

K1-2 vorgestellten Probleme. K1-8 trenne die sichtbare Substanz von der ersten Philosophie, während L nach einer weiteren Wissenschaft jenseits der Physik suche. Daraus sei zu schließen, so Jaeger, dass zwischen den beiden Büchern keine Verbindung bestehe. L ist also vielmehr eine eigenständige Abhandlung, die nicht zur Metaphysik gehört. Der Unterschied zwischen den zwei Hälften soll genau dies beweisen. L1-5 ist eher in einem rigorosen Realismus einzuordnen, da der Stil des Autors, vermutlich ein Schüler des Aristoteles, sehr trocken ist. Wie bereits Bonitz bemerkt hatte, handelt es sich hierbei nicht um einen richtigen Aufsatz, sondern eher um eine strukturlose Ansammlung von Notizen. Trotzdem enthalte L ein einziges Programm, das gleich am Anfang von L6 dargestellt wird. So soll L6-10 ein neues, höheres Programm zugeschrieben werden: Dort entwickelt Aristoteles den für die Natur notwendigen Gott sowie die Kraft dieses Wesens. Folglich stimmen beide Teile des zwölften Buches bezüglich dieses einen Begriffs überein. L repräsentiert somit die erste Stufe der aristotelischen Gotteslehre. Andererseits legen ABGE

den Grundstein für eine metaphysische Wissenschaft. Hätte Aristoteles eine Fortsetzung der Bücher der Metaphysik geplant, dann hätte er auf jeden Fall ein letztes Buch, eine Art Krönung des gesamten Werkes, das die authentische Gotteslehre darstellt hätte, schreiben müssen. L ist dieses Buch jedenfalls nicht.

Wie Bonitz bereits erklärt hatte, fand L seinen Weg in die Metaphysik auf eine andere Weise. Obwohl L ein eigenständiges Buch ist, haben die Herausgeber es aufgrund des Versprechens der mittleren Bücher, dass das Werk die Theologie darstellen würde, dort miteinbezogen. Mit L wollte der Herausgeber dieses Versprechen einlösen.

Im Anschluss daran stellt Jaeger eine Hypothese über die Entwicklung des metaphysischen Denkens des Aristoteles auf. In einer ersten Phase habe es eine sogenannte Urmetaphysik gegeben. Diese enthielt zwar noch nicht „die Lehre

160 Jaeger (1923), 209.

von der materiellen, sinnlichen Form“, aber dafür „eröffnet die der Urmetaphysik angehörende Fassung die Lehre von der ou)si/a mit der platonischen Einteilung in sinnliche und übersinnliche Substanz“161. Eine Zwischenphase repräsentieren die Bücher Z, H und Q, „die der ai)sqhth\ ou)si/a in weitgehendem Maße in die Metaphysik Einlaß gewährt, und die Erweiterung des Begriffs der Metaphysik zur Wissenschaft von den mannigfaltigen Bedeutungen des Seienden“162. Hier ist nun ein Bindeglied zu finden, und zwar der Begriff des Seienden als ein solcher („o)/n $(= o)/n“). Dieser „umfaßt die reine

e)ne/rgeia des göttlichen Denkens ebenso wie die niedrigeren, dem Werden und Vergehen unterliegenden Formen der bewegten Natur“163. Erst in einer dritten Stufe kommt die eigentliche Metaphysik zutage, die das Sein als solches erforsche (sich jedoch nicht nur auf das absolute Sein beschränkt). Sie behandelt

„den Seinsgehalt aller Dinge, ja selbst der Abstraktionen des Verstandes in seinem Bereich“164.

Aristoteles sucht in L eine ewige Substanz, ein unbewegliches Prinzip und die entsprechende Wissenschaft, die diese erforscht. So wie die Metaphysik ihre Wurzeln in der Physik hat, so hat der Gottbeweger seine Wurzeln in der Natur165. Erst in L erhält die Metaphysik ihren eigenen wissenschaftlichen Status. Jaeger erklärt es weiter: „Die Urmetaphysik war also die Wissenschaft vom reinen, vollkommenen Sein und vom höchsten Gute, nicht von allen Arten und Bedeutungen des Seins, wie die spätere Metaphysik“166. In diesem Sinne sind Z, H und Q eher physische Schriften: „[...] e)pei\ tro/pon tina\ th=j fusikh=j kai\

deute/raj filosofi/aj e)/rgon h( peri\ ta\j ai)sqhta\j ou)si/aj qewri/a167. Laut L1 ist auch die erste Hälfte von L eine physische Schrift168. Stricto sensu gehöre die Substanz aber nicht zur Metaphysik, was allerdings nicht bedeutet, dass alle Substanzforschungen auch physische Untersuchungen sind. Die sichtbaren Substanzen finden kaum Platz in einer zentralen metaphysischen Abhandlung.

161 Jaeger (1923), 213.

162 Jaeger (1923), 214.

163 Jaeger (1923), 215.

164 Jaeger (1923), 215.

165 Jaeger meint damit, dass unsere Untersuchungen von Gott nur über die Natur gelingen können. Damit meint er allerdings nicht, dass Gott ein Produkt der Natur ist.

166 Jaeger (1923), 230, Fußnote 4.

167 Metaphysica Z 1037a14-15.

168 Wahrscheinlich denkt Jaeger an L 1069b36ff., wo Aristoteles der Physik die sinnlich-wahrnehmbaren Substanzen zuschreibt. Dass die erste Hälfte des zwölften Buches eine physikalische Schrift ist, wird dort allerdings nicht gesagt.

Im Gegenzug aber werden die platonischen Substanzen in zwei Büchern (MN) erforscht. Dazu schreibt Jaeger169:

Der Stufenaufbau von der sinnlichen zur reinen, übersinnlichen Form, der sich später innerhalb des Rahmens der Metaphysik vollzieht, findet sich in L noch in der primitiven Form, dass die Metaphysik als Wissenschaft vom Unbewegten und Transzendenten einfach äußerlich auf die Physik, die Wissenschaft vom Bewegten und Immanenten, aufgebaut wird.

Erst danach kommt der Hauptteil der Metaphysik, und zwar die Gotteslehre von

L6-10170. Die Metaphysik hängt von dem Wesen und der Wirkung Gottes ab, weil nur er die unbewegte, transzendente, getrennte und intelligibele Substanz, das heißt, das höchste Prinzip, ist. Am Ende begrüßt Jaeger: „Hier stoßen wir auf die früheste Konzeption der aristotelischen Theologie: die Lehre von dem Abschluss der Physik durch das transzendente te/loj aller sichtbaren Bewegung in der Welt, das die Phänomene der Natur rettet“171.

Jaeger zufolge gibt es demnach zwei Wissenschaften: Die eine für das Unbewegliche und das Unsichtbare und die andere für das bewegliche Wesen, sofern dieses sein eigenes Bewegungsprinzip einschließt. Die Notwendigkeit dieser ersten Wissenschaft wird in L6-10 belegt. Tatsächlich vertritt der spätere Jaeger eine andere Position. Zuvor war er davon überzeugt, in L gehe es um die Gotteslehre, und erkannte es somit als ein theologisches Buch an. Erst später wird er sich bewusst, dass die Substanz in diesem Buch das zentrale Thema darstellt. Dieser Punkt wurde ab der zweiten Hälfte des XX. Jahrhunderts bis heute weiter erforscht. Der spätere Jaeger erinnert an Pseudo-Alexander, der behauptet, K und L fassten jeweils die Bücher BGE und ZHQ zusammen172. Jaeger allerdings versteht L1-5 nicht nur als eine Zusammenfassung von ZHQ, sondern auch von I. Diese Rekapitulation betrachtet die Substanz auf eine völlig andere Weise als ZHQ. Beispielsweise sagt L nichts über die vier Substanzarten aus. Stattdessen bietet es eine Klassifikation mit drei Substanzarten. Daraus folgert Jaeger, dass L nicht zu den zentralen Büchern der Metaphysik gehört.

169 Jaeger (1923), 231.

170 Hier sieht Jaeger auch eine Diskussion mit dem platonischen Dualismus, die sich bis M1 erstreckt. 1994 vertritt DeFilippo genau dieselbe Interpretation: L1-5 sei eine Forschung der Physik und die zweite Hälfte eher ein Aufsatz über Theologie; vgl. DeFilippo (1994), 404.

171 Jaeger (1923), 231.

172 633, 25ff.

Dies hatten bereits Brandis und Bonitz so gesehen, mit denen Jaeger im Grunde einverstanden ist, allerdings unter der Bedingung, L als einen eigenständigen Aufsatz anzuerkennen. Als Beweis hierfür liefert Jaeger auch die ersten Zeilen von L1, in denen Aristoteles schreibt, „diese Theorie“ („h( qewri/a“)173 geht um die Substanz.

Jaeger ist der Meinung, in L gehe es bereits am Anfang um die Substanzprinzipien. Da bringt Aristoteles die Frage ins Spiel, ob es jenseits der Physik noch andere Wissenschaften gibt, die sich mit der Substanz beschäftigen. Von Bedeutung ist auch, so Jaeger, dass die Namen „erste Philosophie“ und „Theologiké“ im Buch L nicht vorzufinden seien. Später allerdings kommt in L ein neues Interesse für Gott auf. Diese Präsenz belegt das philosophische Programm des Textes. Jaeger führt diese Argumentation allerdings nicht weiter, und hält an der alten, theologischen Lesart fest. An diesem Punkt ist es entscheidend, dass Jaeger zum ersten Mal die Aufmerksamkeit auf den Abschnitt 1069a36-b2 in L1 lenkt: Haben die sichtbaren und unsichtbaren Substanzen kein gemeinsames Prinzip, dann gibt es keine gemeinsame Wissenschaft für beide Substanzarten, sondern eine eigene, separate Wissenschaft für die unbeweglichen Substanzen. Daraus folgert Jaeger, dass eine Wissenschaft für diese Substanzen existiert, und zwar die Theologie. Darum geht es in L. Der Passus ist sehr schwierig und ist stets auf verschiedene Weise ausgelegt worden. Er wird Grundlage für Frede sein, als er 2000 seine ousiologische Hermeneutik vorstellt174.

5.2 Sir William David Ross

Auch Sir William David Ross liefert einen historischen Überblick über die Diskussion. Der Leser seiner kommentierten Ausgabe der Metaphysik gewinnt den Eindruck, Ross sei mit Jaeger einverstanden und habe sogar von ihm profitiert175. Laut Ross hat Jaeger die Metaphysik –mit Ausnahme von ZH– so gelesen, als ob jedes einzelne Buch ein eigenständiger Aufsatz wäre. Er habe beobachtet, dass ZHQ nicht wirklich zum Kern des Werkes gehört. In EZQ

behauptet Aristoteles, die Metaphysik beschäftige sich mit den unsichtbaren

173 Vermutlich L aber darüber unten mehr.

174 Vgl. den zweiten Abschnitt ‚Michael Fredes Interpretation’ des nächsten Kapitels dieser Arbeit.

175 Vgl. Ross (1924), 346-347.

Wesen. Deren Existenz wird in BE hinterfragt. Obwohl ZHQ eben das beantworten soll, gelingt es leider nicht: Dort wird nur über die sichtbaren Wesen diskutiert. Ross übertreibt mit seiner Aussage, dass Aristoteles selbst akzeptiere, ZH sei eine Vorstufe zur zentralen Untersuchung der Metaphysik176. Ross denkt, dass die Gedankenstruktur von L –mit Ausnahme der Zitate von Kallippos in L8– darauf hin deutet, dass Aristoteles zu dem Zeitpunkt, als er diese Schrift verfasste, noch jung war177. L ist ein autonomes Buch mit dem Ziel, die Existenz eines unbewegten Bewegers des Kosmos zu beweisen. Aufgrund seines Aufbaus jedoch scheint L vielmehr eine Ansammlung von Notizen zu sein als ein Buch. Einige Passagen gehören prinzipiell nicht dazu sowie etliche Worte, die fälschlicherweise hinzugefügt worden sind. Dies gilt vor allem für

L1-5. Trotzdem darf man bei einer Lektüre von 1069b35ff und 1071a2 vermuten, dass L bereits von Anfang an ein hypomnematisches Werk war.

In der Metaphysik halten zehn Bücher, nämlich ABGEZHQMNI, die thematische Einheit zusammen. ZH befasst sich mit einer logischen Analyse der Substanz. Man sollte L als einen eigenständigen Aufsatz betrachten. Dieses Buch wird als eine Schrift über die Substanz angesehen, wobei häufig übersehen wird, dass auch ZH eine solche Schrift repräsentiert. L bietet eine kausale Erklärung, während ZH eher für eine logische Analyse steht. So bereitet der Stagirit den Weg für den Beweis einer einzigen effizienten Ursache des Kosmos. Ross merkt letztendlich auch, dass die erste Hälfte von L eine Methodologie anwendet, die näher zur Physik als zur Metaphysik steht. Allem Anschein nach ist L das einzige Buch der Metaphysik, welches das Sein in einem einzigen Sinne erforscht. Die Kapitel 2-5 des Buches dienen als eine Einleitung, indem sie sich lediglich mit der sichtbaren Substanz beschäftigen. Die zweite

In der Metaphysik halten zehn Bücher, nämlich ABGEZHQMNI, die thematische Einheit zusammen. ZH befasst sich mit einer logischen Analyse der Substanz. Man sollte L als einen eigenständigen Aufsatz betrachten. Dieses Buch wird als eine Schrift über die Substanz angesehen, wobei häufig übersehen wird, dass auch ZH eine solche Schrift repräsentiert. L bietet eine kausale Erklärung, während ZH eher für eine logische Analyse steht. So bereitet der Stagirit den Weg für den Beweis einer einzigen effizienten Ursache des Kosmos. Ross merkt letztendlich auch, dass die erste Hälfte von L eine Methodologie anwendet, die näher zur Physik als zur Metaphysik steht. Allem Anschein nach ist L das einzige Buch der Metaphysik, welches das Sein in einem einzigen Sinne erforscht. Die Kapitel 2-5 des Buches dienen als eine Einleitung, indem sie sich lediglich mit der sichtbaren Substanz beschäftigen. Die zweite