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L IST OUSIOLOGIE

3. Kritik an Fredes Position

Fredes Position scheint nicht in allen Punkten zu überzeugen. Meiner Meinung nach können Fredes Argumente zu Gunsten dieser starken ousiologischen Interpretation zu Missverständnissen führen. Entscheidend ist auch, dass er einem Passus, den alle anderen Kommentatoren eher als undurchsichtig und kompliziert bezeichnen, besonderes Gewicht beimisst239.

In diesem Ausschnitt möchte ich einige Aspekte seiner Interpretation besprechen. Zuerst kommentiere ich seine Aussage über die theologische Interpretation, weil meiner Meinung nach in seiner Argumentation wichtige Elemente fehlen. Danach werde ich Kritik an seiner starken ousiologischen Lesart üben. Zum Schluss möchte ich auf zwei Einwände aufmerksam machen, die Frede gegen eine mögliche archäologische Lesart240 a priori erhebt.

Der Ausgangspunkt für Michael Fredes Kritik an der alten traditionellen Lesart, die ich „theologisch“ nenne, ist die allgemein akzeptierte Eigenständigkeit von L. Er bevorzugt eine Hermeneutik des Buches L, die ich

„ousiologisch“ bezeichne, indem er die Position vertritt, Aristoteles stelle dort eine weitere Version seiner Substanzlehre vor. Mit „(stark) ousiologisch“ meine ich, dass die Hauptaufgabe von L die Darstellung einer Substanzlehre ist;

wobei ich mit „schwach theologisch“ die von Frede akzeptierte Position, dass L

weitestgehend mit den theologischen Elementen der aristotelischen Philosophie zu tun hat, betonen möchte. Die Strategie Fredes, die wir oben gezeigt haben, lässt sich grosso modo folgendermaßen zusammenfassen: Frede diskreditiert die starke theologische Lesart, um eine schwache theologische Lesart in den Vordergrund zu rücken und stellt die dafür notwendigen Bedingungen auf.

Seiner Position fehlt es allerdings an Argumenten: Dieselben Gründe, die ihn zu einer schwachen theologischen Position führen, leiten ihn auch, tollendo tollens, zu einer (starken) ousiologischen Hermeneutik von L. Die schwache theologische Lesart Fredes konzentriert sich vor allem auf eine Umdeutung des Passus 1069a36-b2. Anscheinend ist er der erste, der dieser Passage eine so entscheidende Wichtigkeit für das Verständnis von L zukommen lässt241. Frede

239 Lindsay Judson folgt diesen Weg bis zum Ende; vgl. Judson (2007a).

240 Unter dem Begriff „archäologische“ Lesung von L wird diejenige gemeint, die die Substanzprinzipien als das Hauptinteresse bevorzugt.

241 Sir David Ross zum Beispiel kommentiert ihn nur in der Einleitung seines Kommentars zur Metaphysik, und er versteht ihn ganz anders als Frede; vgl. Ross (1924), xxviii-xxix. Auch für Jules Tricot ist dieses Thema von besonderer Wichtigkeit; vgl. Tricot (1953), xxxi-xxxii. Ebenso

behauptet, das erste Prinzip sei eine Substanz, deswegen solle diese in L als zentrale Idee thematisiert werden. Vor allem verteidigt er eine starke ousiologische Lesart und parallel dazu eine schwache theologische242.

Wie ich bereits erwähnt habe, hält Frede L trotz der Abwesenheit in der ganzen Metaphysik des von Aristoteles angekündigten Textes über die unsichtbaren Substanzen nicht für die Erfüllung dieses Versprechens, zumal L

nicht von diesen Substanzen handele und weil L ein eigenständiges Buch sei243. Die Seiten von L über Gott und die himmlischen Substanzen hätten die Vertreter der theologischen Interpretation zu dem Glauben verleitet, dass es sich bei L sehr wohl um ein solches Versprechen handelt. So haben sie diese highly misleading244 Interpretation irrtümlicherweise genährt. Um die starke theologische Hermeneutik zu diskreditieren, liefert Frede zwei Argumente: (a)

L liest sich nicht wie ein Aufsatz über die immateriellen Substanzen und keineswegs über das göttliche Wesen, sondern eher wie ein Text über die allgemeine Substanz; (b) die theologische Lesart führt zu Irrtümern beziehungsweise zu großen Problemen, wie beispielsweise zu der Aufteilung des Buches in zwei Hälften. Da er sich auf seinen eigenen Vorschlag konzentriert, vertieft Frede seine Argumente bedauernswerterweise nicht mehr.

Über den ersten Punkt (a) wird in den nächsten Kapiteln ausführlich und mit Blick auf meine eigene und Menns Interpretation diskutiert. Zunächst befassen wir uns allerdings mit dem zweiten Punkt (b). Da L die unsichtbaren Substanzen nicht als Hauptthema betrachtet, ist es –gemäß Frede–

gewissermaßen unmöglich, die theologische Lesart zu vertreten. Einen Hinweis

befasst sich Charles Kahn damit: „[...] physics as the study of motion is essentially incomplete and must borrow its first principle from the study of unmoving substance“. Und er geht fort und fragt sich: „Could the thought be: first philosophy deals with immobile substance ‘alone, and not with substance in motion’, unless there is a common principle for both (as there in fact is); and to this extent the theory of moving substance ‘also’ belongs to First Philosophy?“: Kahn (1985), 319-320. Daniel Devereux versteht die Stelle völlig anders; vgl. Devereux (1988), 175-176 und 180-181. Lindsay Judson interpretiert die folgendermaßen: „So Aristotle is saying, ‘unchanging substances will be the subject of a different science if they are not simply further natural bodies like the changing ones’“, wobei für ihn „a specifically identical principle here – as opposed to one which is identical by analogy (kaq¡

a)nalogi/an) – is something like air or fire“: Judson (2007a), 4, Fußnote 13.

242 Ich beschreibe es als tollendo tollens, da es für Frede wie eine Subtraktion funktioniert: L liest er nicht wie einen „stark theologischen“ Text, sondern wie einen „schwach theologischen“

Aufsatz. Deshalb handelt es sich auf jeden Fall um ein „ousiologisches“ Buch, da in ihm auch die Substanz thematisiert wird. Rein statistisch gesehen, kommt beispielsweise das Wort

ou)si/a“ 68 Mal vor, während der Begriff „qeo/j (und Kognaten) nur 12 Mal verwendet wird.

Für weitere Details darüber vgl. die ‚Wortuntersuchung’ im letzten Kapitel dieser Arbeit.

243 Die meisten Kommentatoren sind heutzutage davon überzeugt, dass L ein eigenständiges Buch ist. Stephen Menn aber liefert überzeugende Argumente, die dies widerlegen; vgl. das 4.

Kapitel (‚L ist Archäologie’) dieser Arbeit.

244 Frede (2000a), 5.

darauf, dass L nicht von diesen Substanzen handelt, ist im ersten Teil des Buches (L1-5) zu finden, in dem ausschließlich die sichtbaren Substanzen diskutiert werden. Hierzu kommentiert Frede245:

This in itself suggests, and it is important to realize this, that our text does not present itself as a treatise on divine substances, let alone as a treatise on the divine ousia. There is no suggestion that the first part concerning sensible substances is just supposed to introduce the material on the basis of which we then can consider the real subject of the treatise, namely immaterial substance.

Fredes Beitrag besteht darin, dass er sagt, man dürfe L weder als ein theologisches Buch (und wenn, dann nur in einem schwachen Sinne) noch als einen Aufsatz über die unsichtbare Substanz betrachten. Folglich fragt man sich nach den Problemen der theologischen Interpretation. Ich nehme an, dass die besagte Spaltung des Buches ein zentraler Beweis dafür ist, dass die theologische Interpretation keinen Bestand hat. Hinzu kommen die vielen Versuche –manchmal bizarr und stets erfolglos–, eine solche Interpretation durchzuhalten. Hierfür ein klassisches Beispiel: Pseudo-Alexander folgend behaupten Jaeger und Ross unter anderem, L6-10 sei ein metaphysischer Aufsatz, der ausschließlich die unsichtbaren Substanzen erforsche, während L 1-5 eine vorläufige und einführende Auseinandersetzung ist. Frede seinerseits hebt die Spaltung des Buches auf, indem er L als ein einheitliches Werk anerkennt246.

Wer nach den Problemen der theologischen Interpretation fragt, stößt unweigerlich auf die daraus entstandenen Folgen für die Philosophie im Laufe der Jahrhunderte. Idealerweise beschäftigt man sich jedoch mit ihrer Entstehungsgeschichte. So würden die problematischen Schlussfolgerungen ipso facto beseitigt. Im Fredeschen Text sucht man danach allerdings vergebens.

Er erörtert dieses Thema kaum – eine zweite bedauerliche Schwäche seines Textes. Gleich versuche ich, dem genauer nachzugehen. Die entscheidende Frage ist, ob es zu Lebzeiten des Aristoteles überhaupt möglich war, einen theologischen Aufsatz zu verfassen, und wenn ja, inwiefern. Diesem

245 Frede (2000a), 5.

246 Darüber wird auch in den nächsten Kapiteln (‚L ist Archäologie’ und ‚L ist Sophia’) dieser Arbeit diskutiert.

kulturellen Kontext widmet sich Frede überhaupt nicht247. Außerdem ist dieser Aspekt dazu geeignet, das Vertrauen in die theologische Lesart zu schmälern.

Historisch-philosophisch betrachtet, ist es sowohl bei Aristoteles als auch bei Platon noch immer zu früh für eine ausgearbeitete Darstellung einer Theologie, selbst wenn beide Philosophen schon eine gewisse Vorstellung von Gott entwickelt hatten. Der Grund dafür ist, dass sie mit einer philosophisch-(meta)physischen Weltanschauung beschäftigt sind. Dabei spielt Gott doch eine wesentliche Rolle und in dieser Hinsicht könnte man eine gewisse „göttliche Metaphysik“ oder eine gewisse „Theologie“ –im vagen Sinne–

rekonstruieren248.

Platon oder Aristoteles eine strikte Theologie zuzuschreiben, wäre allerdings übertrieben. Die Zeiten dafür waren noch nicht gekommen. In jener Zeit konnte kein entwickeltes Verständnis der Theologie existieren, wie zum Beispiel jenes, das uns über das Christentum erreicht hat. Im kulturellen und philosophischen Rahmen der Griechen gab es bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Diskussion über Gott, die man „theologisch“ bezeichnen könnte. Da das Adjektiv „theologisch“ in diesem Zusammenhang eine doppelte Bedeutung erhalten kann, muss ich das oben stehende nuancieren. Auf der einen Seite gibt es eine Reihe von Denkern, die sich gegen die offizielle Religion gestellt hatten und nicht an die mythologischen Gottheiten glaubten. Die ersten Versuche, die damalige Mythologie und den Volksglauben zu kritisieren, findet man schon unter den Vorsokratikern beziehungsweise unter den Zeitgenossen des Sokrates, wie beispielsweise Xenophanes von Kolophon, Diagoras von Melos, Theodorus von Kyrene und so weiter. Andere Autoren hatten eine ähnliche Meinung darüber und hörten auf, an die Mythen zu glauben. Auf der anderen Seite trägt der Begriff unter dem Einfluss des Christentums eine jahrhundertelange Last. Auf Letzteres gehe ich hier jedoch nicht weiter ein – es reicht zunächst einmal, sich dessen bewusst zu sein. Interessant ist der erste Punkt, da es sich offensichtlich nicht um einen theologischen sondern um einen

247 Einen kleinen Kommentar dazu gibt es von Frede doch, allerdings in Bezug auf ein anderes Thema: „It is clear from the rest of the first chapter, for instance from 1069a25-6, but also from what we know about Greek philosophy before Aristotle and in Aristotle’s day, that the fact he has in mind is that philosophers do inquire into the principles of the sensible world we live in, the principles of sensible substances, though in the course of this inquiry they may also come to postulate non-sensible substances to account for the sensible world. And so he is going to join these other philosophers, the Pre-Socratic and the Platonists, in their endeavor“: Frede (2000a), 7.

248 Erst vor kurzen wurde dies von Michael Bordt versucht. In seiner Arbeit geht es nicht um eine platonische Untersuchung Gottes, sondern eher um Gott als Eckstein des komplexen metaphysischen System Platons; vgl. Bordt (2006b).

atheistischen Diskurs handelt. Es sieht so aus, als ob der aufgeklärte Atheismus noch vor der eigentlichen Theologie entstanden wäre, denn sogar unter denjenigen, die das Göttliche akzeptieren –wie beispielsweise Platon oder Aristoteles–, fehlt jegliche Art von artikulierten und systematischen Untersuchungen über Gott.

Trotzdem wird die Lehre über Gott und die himmlischen Körper auch heute noch häufig mit den Worten „aristotelische Theologie“ bezeichnet. Ich möchte mich gegen diesen Gebrauch aussprechen, da er leicht zu weiteren Missverständnissen –zu ganz neuen oder zu den schon bekannten– führen kann. Eine systematische Untersuchung des Göttlichen ist im Corpus nicht zu finden. Die Fragen der letzten Kapitel von L sind zum Beispiel keine Fragen im Rahmen einer Forschung des Göttlichen oder des Theologischen an sich, sondern eher Fragen im Rahmen der Forschung nach den Prinzipien der sichtbaren Substanzen. Hierzu erklärt Michael Bordt249:

Nachdem Ar[istoteles] die erste Substanz derart bestimmt hat, identifiziert er sie mit G[ott], denn die Bestimmungen der ersten Substanz sind identisch mit den Bestimmungen, die man auch G[ott] zuschreibt: ‚G[ott] sagen wir, ist das ewige, beste Lebewesen, so daß G[ott] Leben und beständige und ewige Fortdauer zukommen; denn dies ist G[ott]’ (Met. L7 1072b28-30). Die Identifikation der ersten Substanz mit G[ott] ist insofern unproblematisch, als sie sich auf den gängigen Sprachgebrauch berufen kann. Zumindest innerhalb der philosophischen Kreise um Platons Akademie wird unter ‚G[ott]’ das ewige, beste Lebewesen verstanden. Das bedeutet nicht, daß Ar[istoteles] Met.

L6-10 geschrieben hat, um eine Theologie zu entwickeln; innerhalb des Projektes einer ersten Philosophie, die die Aufgabe hat, die letzten Prinzipien der Wirklichkeit zu bestimmen, zeigt sich durch die Bestimmung der ersten Substanz, daß diese nicht von dem verschiedenen ist, was unter G[ott]

verstanden wird. In diesem Sinn wird die Erste Philosophie von Ar[istoteles]

auch theologische Wissenschaft genannt (z.B. Met. A2 982b28-983a11; E1 1026a18-23). Auffallend sparsam sind die Aussagen des Ar[istoteles] zu den vielen Göttern, deren Existenz in den griechischen Mythen und Kulten vorausgesetzt wird. Der wahre Kern der die Götter betreffenden Mythen besteht Ar[istoteles] zufolge darin, daß die Himmelskörper als Götter angesehen werden – alles andere ist aus pädagogischen und moralischen Motiven heraus dazugedichtet worden (Met. L8 1074a38-b14).

249 Bordt (2005), 590.

Unter Vorbehalten könnte man grob über eine gewisse aristotelische Theologie sprechen. Die aristotelische qeologikh/ ähnelt keineswegs der weitaus bekannteren Theologie. Sie sind nicht als Synonyme zu verwenden. Der aristotelische Gebrauch des Wortes „qeologikh/“ soll den Leser nicht irreführen.

Um solche Missverständnisse und falschen Auslegungen auszuschließen und zu verhindern, sollte man idealerweise, wenn man über die aristotelische Annährung zum Göttlichen spricht, nur den aristotelischen Begriff „qeologikh/“ benutzen. Myles Burnyeat hat sich in Bezug auf den Titel des Buches ein kluges Argument ausgedacht, dessen Folgerungen man hier verwenden kann, um den Begriff „qeologikh/“ in diesem Zusammenhang besser zu verstehen250:

The title we have inherited makes best sense if it was devised for a work that set out to reach […] theology but never got there, i.e. for a Metaphysics without L. In those circumstances it would be reasonable to name the work after its starting point, instead of its unattained goal and completion.

Das zwölfte Buch, so Burnyeat, hieße also weder „Theologie“ („qeologikh/“) noch „Weisheit“ („sofi/a“), sondern eher „Metaphysik“ („ta\ meta\ ta\ fusika/“)251. Ihm zufolge ist L keineswegs eine theologische Untersuchung252.

Der Weg Fredes zu einer schwach theologischen Lesart ist nun klar. Aber welcher Weg führt Frede zu einem stark ousiologischen Verständnis von L? Frede beginnt seine Argumentation zugunsten einer stark ousiologischen Hermeneutik wohl mit der ersten Zeile von L: „Diese Theorie geht um die Substanz“253. Sollte L ein eigenständiges Buch sein, dann müsste es mit „h(

qewri/a“ bezeichnet werden. Frede denkt, die wirkliche Aufgabe von L bestehe in der Untersuchung der Substanz in ihrer Eigenschaft als das Erste überhaupt.

Offenbar steht dieser Punkt für ihn außer Diskussion, zumal er kein weiteres Argument dafür liefert. Es ist so, als ob Aristoteles ein Enthymem geschaffen hätte: Da die ersten Prinzipien zwingendermaßen Substanzen sind und da L

sich mit den Prinzipien beschäftigt, muss eingeräumt werden, dass das Hauptthema von L die Substanz ist. Man sollte allerdings genauer prüfen, ob die besagte Interpretation allein auf diesem Argument beruhen kann oder nicht.

250 Burnyeat (2001), 141.

251 Burnyeat verwendet die Begriffen „Theologie“ und „qeologikh/als Synonyme.

252 Meine Position dazu ist im letzten Kapitel dieser Arbeit zu finden.

253 Metaphysica L1 1069a18: „peri\ th=j ou)si/aj h( qewri/a“. Silvia Fazzo vertritt ist mit diesem Verständnis des Satzes nicht einverstanden; vgl. Fazzo (2008) und (2009).

Fredes Lesart finde ich originell und inspirierend, obwohl ich weder von den Argumenten noch von der Schlussfolgerung völlig überzeugt bin. Der größte Vorteil seines Aufsatzes besteht, wie gesagt, darin, dass man sich endlich von der typischen Hermeneutik (und den aus ihr resultierenden Schwierigkeiten) distanzieren kann. Der Leser gewinnt den Eindruck, Fortschritte in Bezug auf das Bewusstsein des Textes zu machen. Frede denkt, dass Aristoteles die Prinzipien der sichtbaren Substanz untersucht, dass er aufgrund seiner Absicht eine Substanzlehre vorliegt und er sich demnach für die sichtbare Substanz interessieren musste. Ich denke dagegen, dass Aristoteles beabsichtigte, eine Prinzipienlehre vorzubereiten. Hinzu kommt die Untersuchung der Substanz. Aber Frede streitet dies expressis verbis ab.

Ausdrücklich verneint er die Möglichkeit, dass L eine Untersuchung der Substanzprinzipien sein könnte. Diese Argumentation ist wahrscheinlich eine Folge sowohl seiner Diskussion über das Hauptthema des Buches als auch seines Einspruchs gegen die stark theologische Lesart254.

Der Leser muss den Eindruck haben, so Frede, dass der Aufsatz die Prinzipien und Ursachen der Substanz überhaupt behandelt. Die erste Hälfte des Buches behandelt seiner Meinung nach die Ursachen und Prinzipien der sichtbaren Substanz. Wenn Aristoteles in L1 sagt, er suche die Prinzipien und Ursachen der Substanz, meint er damit nur die sichtbare Substanz. Aristoteles äußert nicht die Absicht, die Prinzipien jeder Substanzart zu diskutieren. Wäre dies seine Absicht gewesen, so hätte er im zweiten Teil des Aufsatzes sein Ziel nicht erreicht. Deshalb wird derjenige, so Frede, der auf eine Analyse der Ursachen und Prinzipien der unsichtbaren Substanzen wartet, bestimmt enttäuscht sein255. (Dass Aristoteles sich doch damit beschäftigen wollte, akzeptiert Frede nur als eine rein theoretische Möglichkeit. Aus irgendeinem uns unbekannten Grund konnte er es nicht getan oder umgesetzt haben.) Selbst wenn Aristoteles L unter Zeitdruck geschrieben hätte, wäre es merkwürdig, dass er überhaupt nichts über die Prinzipien und Ursachen der unsichtbaren Substanzen sagt, obwohl dies das Hauptziel des Buches gewesen wäre.

254 Vgl. Frede (2000a), 5-6.

255 Frede (2000a), 6: „The first lines of L might make us think that we are going to inquire into the causes and principles of substances quite generally. And since later in the first chapter we distinguish between two, or three, kinds of substances, respectively, we might think that, in the first part of L, we will get an inquiry into the causes and principles of sensible substances and, in the second part, an inquiry into the causes and principles of immaterial substances. This expectation is fully met by the first part, but sorely disappointed by the second part“.

Demzufolge schließt Frede aus, dass das Ziel von L die Untersuchung der Prinzipien und Ursachen der unsichtbaren Substanz ist256. Um seine These zu belegen, zitiert er einen entscheidenden Passus aus den ersten Seiten des Buches. Dort spricht Aristoteles über die antiken Philosophen, die die Prinzipien der Welt und –selbstverständlich– der sichtbaren Substanzen untersucht haben. Um diese Welt zu erklären, postulierten sie eine andere Substanzart, nämlich die immaterielle Substanz. Folgender ist der von Frede zitierte Abschnitt der Metaphysik257:

Es bezeugen dies auch die früheren (Philosophen) durch die Tat; denn sie suchten die Prinzipien, Elemente und Ursachen der Substanz. Die heutigen nun bevorzugen die allgemeinen (Entitäten) als (Prinzipien und Ursachen) der Substanz – die Gattungen, von denen sie aufgrund ihrer begrifflich orientierten Methode behaupten, dass sie in höherem Maße Prinzipien und Substanzen seien, sind nämlich allgemein. Die alten (Philosophen) demgegenüber bevorzugten das Einzelne, wie Feuer und Erde, nicht aber was ihnen gemeinsam ist, der Körper.

Frede schließt daraus, dass Aristoteles sich der Tradition fügt: „And so he [Aristoteles] is going to join these other philosophers, the Pre-Socratic and the Platonists, in their endeavor“258. Frede geht aber noch einen Schritt weiter, indem er den Text heranzieht, um abzustreiten, dass L eine Diskussion über die unsichtbaren Substanzen sei. Aus diesem Textausschnitt folgert er, dass die vorliegende Annäherung zur Substanz überhaupt auch die sichtbaren Substanzen unbedingt einschließen muss, andernfalls wäre die Aufgabe unvollendet. Frede bemerkt, dass Aristoteles zu denselben Schlussfolgerungen kam wie bereits die Vorsokratiker und Platon, und zwar dass die unsichtbaren Substanzen Prinzip der Sichtbaren sind. Für Frede ist dies die Bestätigung

256 Frede (2000a), 6: „We might think that Aristotle when he wrote L1 had planned to write L6 ff. also about the principles of non-sensible substances, but never got around to fulfilling the promise of L1, since it turned out to be difficult enough to establish their existence, nature, and at least something about their number. This, of course, cannot be ruled out. But, even if we did assume that L was written in great

256 Frede (2000a), 6: „We might think that Aristotle when he wrote L1 had planned to write L6 ff. also about the principles of non-sensible substances, but never got around to fulfilling the promise of L1, since it turned out to be difficult enough to establish their existence, nature, and at least something about their number. This, of course, cannot be ruled out. But, even if we did assume that L was written in great