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Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer produk- produk-tiven Beschäftigung mit einem

Im Dokument Von Honig und Hochschulen (Seite 197-200)

sozialphiloso-phischen Klassiker

STEFAN KALMRING

1. Auch bei Beerdigungen gibt es ein erstes Mal

Ein zufälliger Besucher des Londoner Friedhofs Highgate hätte am 17. März 1883 auf eine kleine, versprengte Trauergemeinde stoßen können. Nur eine Handvoll sind da gekommen, um einen gewissen Karl Marx, ihre Ehrerbie-tung zu bekunden. Es handelt sich um ein paar Freunde, einige politische Weggefährten und einige wenige Familienmitglieder. Irritiert wäre unser Be-sucher stehen geblieben, hätte er einige Worte der Reden und Gespräche aufgeschnappt, um die Szene weiter zu beobachten. Verloren wirkt die Gruppe auf dem großen Friedhof, man hält aber Reden, die gerade zu über-schwänglich sind und in ihrem Pathos beinahe an ein Staatsbegräbnis erin-nern. Besonders emphatisch ist ein gewisser Friedrich Engels, der die Trau-errede hält und den Namen des Toten gar in einem Atemzug mit dem großen Naturforscher Charles Darwin nennen zu können glaubt (vgl. MEW 19, 335ff.). In immer wieder neuen Formulierungen preist er die Verdienste des Verstorbenen und erntet dafür ein beipflichtendes Nicken aus den Reihen der Trauergäste. Er versichert, dass die Zeit des Karl Marx unaufhaltsam noch kommen werde. Nur zu bald werde man merken, welche Lücke sein Tod ge-rissen habe. Die Bedeutsamkeit des Verblichenen liege darin, so hätte unser Besucher vernommen, dass Marx eine sozialwissenschaftliche Theorie ge-schaffen habe, deren Erklärungskapazität für das Verständnis von Kapitalis-mus und auch der Geschichte im allgemeinen bahnbrechend sei. Aber mehr noch. Nicht nur theoretische Stichhaltigkeit und eine hohe Übereinstimmung mit dem erklärten gesellschaftlichen Gegenstand weise die theoretische Ar-beit des Toten aus, sie greife in ihrem Selbstverständnis und ihrer Kapazität über traditionelle, akademische Theorien hinaus, biete Kategorien und Er-kenntnisse an, die zu einer praktischen Veränderung der sozialen Welt we-sentlich beitragen könnten. Das Denken des Verstorbenen habe die Fähigkeit zur praktischen, zur „materiellen Gewalt“ zu werden, sobald es die nach

Veränderung drängenden Massen ergreife (MEW 1, 385). Es besitze „eine geschichtlich bewegende, eine revolutionäre Kraft“ (MEW 19, 336), sei eine

„Kritik im Handgemenge“ (MEW 1, 381). Das aufkommende Proletariat werde sich Marxens Erkenntnissen bedienen und lasse die Theorie des Toten in Folge zur praktischen Gewalt werden. Es werde die gesamte bestehende Welt umzuwälzen und damit die sozialen und ökonomischen Verwerfungen, die mit der bürgerlichen Warenproduktion von Anfang an verbunden waren, überwinden, aber auch die latenten Potentiale, die die kapitalistische Ord-nung herangebildet habe, in einer neuen OrdOrd-nung „frei“-setzen.

Bei diesen schier unglaublichen und phantastischen Aussagen dürfte sich un-ser Zuhörer spätestens kopfschüttelnd abwenden. Offensichtlich handelt es sich um eine kleine Gruppe politisch Radikaler, alles Intellektuelle natürlich.

Die großspurigen Reden, die weitreichende Prognose kontrastiert einfach zu frappierend mit der kümmerlichen Gruppengröße. Der allzu kärgliche An-blick der versprengten, kleinen Gemeinde demonstriert ihre Isolation nur zu deutlich. Mit ihren Allmachtsphantasien wollen sie sich offensichtlich über ihren Schmerz und ihre politische Bedeutungslosigkeit hinwegtrösten. Wenn der Verstorbene wirklich so bedeutsam war, wo sind denn all die Vertre-ter/innen der Proletarier aller Länder, um seiner zu gedenken? Wenn sein Werk wirklich so ein wissenschaftlicher Quantensprung ist, wo sind denn die Fachgelehrten, die seine Verdienste würdigen? Alles Phantasien, die hier die hinterbliebenen Freunde und Gefährten spinnen, da braucht man sich gar nichts vorzumachen.

Wie verwundert wäre der Zuhörer wohl gewesen, wenn er gewusst hätte, wie geschichtsmächtig die Marxsche Theorie wirklich noch werden sollte? Dass es sich beileibe nicht um die letzte Beerdigung des Karl Marx handeln sollte, hätte er ebenfalls kaum erahnen können. Marx wird in den folgenden Jahren wieder und wieder beerdigt werden – und anschließend wiederauferstehen.

Etwa 110 Jahre später werden die Kritiker/innen des Verstorbenen jedoch frohlocken. Aus ihrer Sicht scheint mit dem Zusammenbruch der Regime des Ostblocks der Kreislauf von Beerdigungen und Wiederauferstehungen end-lich durchbrochen. Marx sei nun endgültig tot und vergraben. In den folgen-den Ausführungen soll eine optimistischere Sicht eingenommen werfolgen-den. Wir werden uns zunächst mit der widersprüchlichen Entwicklung der Marxismen im 20. Jahrhundert beschäftigen, dann die eigensinnige Bewegungsform marxistischer Ansätze unter die Lupe nehmen, die offenbar durch eine re-gelmäßige Wiederkehr von Krisen marxistischer Theorie und Praxis gekenn-zeichnet ist. Zuletzt werden wir die gegenwärtige Existenzkrise der

Marxis-men genauer in Augenschein nehMarxis-men und in diesem ZusamMarxis-menhang einige Punkte auszumachen, an denen erneute Wiederbelebungsversuche anzuset-zen haben.

2. Ein Blick zurück ins 20. Jahrhundert

Was für unseren Zuhörer noch nicht abzusehen war, ist uns heute nur allzu bekannt. Die Marxsche Theorie hat im letzten Jahrhundert wirklich eine er-staunliche Karriere durchlaufen, sie hat nicht nur intellektuell beispiellosen Einfluss gewonnen, sie ist wirklich zur materiellen Gewalt geworden – wenn auch meist nicht in einer Weise, die im Sinne Marxens selbst gelegen haben dürfte. Als eine Revolution gegen das Marxsche Kapital hat denn auch Gramsci die russische Revolution bezeichnet (Gramsci 1991), um anzuzei-gen, dass die Marxsche Theorie ursprünglich nicht für eine revolutionäre Umgestaltung von Gesellschaften gedacht war, in denen die kapitalistische Produktionsweise noch nicht zur dominierenden geworden ist. Wenn Marx von Sozialismus sprach, hat er keineswegs an autoritärstaatliche Konzepte einer nachholenden Entwicklung gedacht, geschweige denn sich vorstellen können, dass diese in Folge eines Ausbleibens einer Revolution im Westen jahrzehntelang zum Maßstab für Sozialismus werden könnten (Müller-Plantenberg 1990). Produktivkraftentwicklung, Weltmarktintegration, aber auch die mit dem Liberalkapitalismus einhergehende Ausbreitung der Grund- und Freiheitsrechte galten Marx schließlich als unbedingte Vorbe-dingung einer sozialistischen Transformationsperspektive, die überwindend in neuer Form bewahrt werden sollten (Wellmer 1969, 128ff; Blanke 1983).

Die weltweite Ausbreitung marxistischen Gedankenguts im 20. Jahrhundert ist atemberaubend gewesen. Auf theoretischem und politischem Gebiet hat die Marxsche Theorie Themen, Orientierungen und Deutungen geliefert, die aus der geistigen und politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht weg-zudenken sind. Dass die „Denkgeschichte dieser Epoche aus Fußnoten zu Marx“ (Negt 1998, 46) bestehe, ist deshalb pointiert vermutet worden. Der naheliegende Hinweis, dass beispielsweise auch Freud, Wittgenstein oder Nietzsche in der Welt des 20. Jahrhunderts eine ganze Kultur der Fußnoten angeregt haben, differenziert die Beobachtung, widerlegt aber ihren richtigen Gehalt nicht. Der Verweis ist schon insofern kraftlos, da das marxistische Denken in einer eigentümlichen Weise auch politisch-praktisch wirksam ge-worden ist, also in einer einmaligen Weise über akademische Schulbildungen

und kulturelle Einflüsse hinausgegriffen hat (Negt 1984). Soziale Bewegun-gen, Politiker und Intellektuelle, die immerhin ein Spektrum von Rosa Lu-xemburg bis Pol Pot umfassen, repressive Systeme ebenso einschließen wie Freiheits- und Protestbewegungen – sie alle haben sich auf ihre Art im „kur-zen“ 20. Jahrhundert (Hobsbawn 1998) auf Marx berufen. Marx lieferte Stichworte für Revolten, Revolutionen und Reformprojekte und wurde er-staunlicherweise ebenso zur Legitimation von sozialer Herrschaft und dikta-torischen Regimen herangezogen (Euchner 1983, 7). Nicht selten schlugen von Marx inspirierte Revolten im 20. Jahrhundert wieder in Herrschaft um, nur um dann erneut eine marxistische Kritik und Gegnerschaft hervorzubrin-gen. Der Widerspruch in den marxistischen Bilanzen findet sich in allen Be-reichen. Man denke nur an die kulturelle Spießigkeit des sogenannten Sozia-listischen Realismus auf der einen Seite und an eine rebellische, experimen-telle und avantgardistische Kulturproduktion in den Nischen realsozialisti-scher und spätkapitalistirealsozialisti-scher Gesellschaften auf der anderen. Eine ästheti-sche und kulturelle Legitimation von Herrschaft wurde von den einen betrie-ben, die anderen wollten subversiv sein, Bestehendes zersetzen und gleich-zeitig Neues erahnen und künstlerisch vorwegnehmen. Mit anderen Worten:

Vielfalt in der Artikulation wo man hinschaut, aber gleichzeitig auch der Drang der selbsternannten „großen Parteien der Solidarität“ zu einer zwangs-förmigen Vereinheitlichung von Politik und Ideologie und zur Verdrängung der rebellischen Unterströmungen in der eigenen Tradition. Eine verworrene und widersprüchliche Geschichte, zweifellos.

Die Geschichte der Marxismen war und ist plural und vielfältig, das darf nicht vergessen werden (Haug 1985). Der oberflächliche Blick reicht eigent-lich schon aus, um dies zu erkennen. Orthodoxien haben sich gebildet wie Heterodoxien, Strömungen und Unterströmungen wurden aus der Taufe ge-hoben, theoretische und politische Aktualisierungen der Marxschen Theorie wurden vorgenommen, Syntheseversuche mit anderen Ansätzen angestrebt oder regionale Spezifizierungen erarbeitet. Die inzwischen üblichen homo-genisierenden Pauschalbetrachtungen, die durchs Feuilleton geistern, sind deshalb so unergiebig.1 Je grobkörniger ein Bild ist, je weniger Pixel es hat,

1 Neben der unmittelbaren Vielfalt marxistischer Theoriebildungen und einer an sich auf Marx berufenden sozia-len und politischen Praxis, sollte aber der mittelbare Einfluss der Marxschen Theorie nicht vergessen werden.

Gerade für den konservativen und liberalen akademischen Mainstream war die marxistische Herausforderung ein zwar ungeliebter, aber produktiv wirkender Impuls – auch wenn man dies lieber vergessen möchte. Die Marxismen verlangten auf dem wissenschaftlichen Feld nach einer kämpferischen Reaktionen, nach einer Anti-kritik, nach Immunisierungsversuchen gegenüber den Angriffen, nach einer Fortentwicklung oder Neukonzepti-on eigener Ansätze und nach einer umformenden Aufnahme vNeukonzepti-on Themen, Motiven und ArgumentatiNeukonzepti-onsweisen.

Marxist/innen war diese Rolle immer klar. Man denke nur an Korschs spöttische Bemerkungen über die

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