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Die Kahal-Rhetorik im Autonomiekonzept

Im Dokument Von Honig und Hochschulen (Seite 149-154)

Jüdische Autonomie. Historische Tradition und innerjüdische Verwandlungen in der Moderne

3. Die Kahal-Rhetorik im Autonomiekonzept

Israel Bartal ist es zu verdanken, dass der Aspekt der spezifischen Funktion und Bedeutung, welche die traditionellen Institutionen jüdischer Autonomie – kahal und waad – innerhalb des Dubnow’schen Denkmodells ausfüllten, Eingang in die fachliche Diskussion fanden.41 Das Kahal-System repräsen-tierte für Dubnow das Sinnbild jüdischer Autonomie, und dies – wie ich im Verlauf der Arbeit noch zeigen werde – überzeitlich, überregional. Bei Dub-now hatte der kahal, neben seinen konkreten jeweils historischen Gestalten, die Funktion einer abstrakten Figur, die als Konstante für die aktive autono-me Gestaltung der jüdischen Lebensverhältnisse und des Verhältnisses zur nichtjüdischen Umgebung durch die Gemeindeorganisation in der Diaspora stand. Seine Argumentation in der Frage, wie eine nationale Zukunft der Ju-den aussehen möge, ist geradezu durchdrungen von einer Kahal-Rhetorik.

Simon Dubnows Rückgriff auf den kahal veränderte sich im Laufe der Jahre von einer expliziten Kahal-Rhetorik in eine Rhetorik, die mehr und mehr auf den direkten Verweis auf den kahal verzichtete, ihn aber keineswegs inhalt-lich aufgab. Vielmehr explizierte Dubnow stärker die Funktionen und die

40 Vgl. Lederhendler, Eli, The Decline of the Polish-Lithuanian Kahal, in: Anthony Polonsky (Hg.), Polin 2 (1987), 140–162.

41 Bartal, Israel, Dubnov’s Image of Medieval Autonomy in: Greenbaum, A.; Groberg, K., A Missionary for His-tory. Essays in Honor of Simon Dubnov, Minneapolis 1998, 11–18.

Struktur des kahal der Vormoderne und rettete die Idee der Autonomie so in die moderne Welt. Diese Veränderung in der Rhetorik und Argumentations-weise lässt sich am Beispiel zweier Varianten des „Briefes“ zum Autono-mismus aufzeigen. Es handelt sich um die von ihm überarbeitete Fassung des Briefes „Autonomismus“, die 1907 in einem Sammelband in russisch er-schien, sowie um die englische Fassung im Sammelband von Koppel S. Pin-son, die sich an der spätesten, 1937 in Hebräisch erschienenen und von Dub-now noch einmal überarbeiteten Fassung orientierte.42 Neben wesentlichen Kürzungen, dem Entfernen des unmittelbaren Bezugs auf Ereignisse und Diskussionen der Entstehungszeit des Konzeptes, muss auch die Verwand-lung in eine fast ausschließlich implizite und abstrakt gehaltene Kahal-Rhetorik festgehalten werden. In jener spätesten Fassung erscheint der kahal nur ein einziges Mal und zwar bar jeder konkreten räumlichen Einordnung.

Dubnow betonte damit eine Kontinuität und Formstabilität jenseits geograf-ischer Räume:

„Up to the nineteenth century the community (kehilla) was the basis of Jewish autonomy in the lands of the Diaspora. [...] The kahal took care of matters of communal welfare, supervised economic life, education, and tax collection for the government, while the rabbinic tribunals ad-jundicated cases involving family and financial matters.“43

Generell lässt sich feststellen, dass seine Argumentation in dieser spätesten Fassung des „Autonomismus“-Briefes auf einer wesentlich abstrakteren Ebe-ne stattfand. In jeEbe-ner Fassung legte Dubnow zwar die Inhalte und FunktioEbe-nen des kahal weiterhin zugrunde, jedoch ohne diese Institution so hervorgeho-ben zu hervorgeho-benennen. Im Text der wesentlich früher entstandenen russischen Fassung des Autonomismus-Briefes von 1907 dagegen ist die Figur des kahal noch deutlich präsenter. Dies lässt sich an drei exponierten Stellen zeigen: 1.

Dubnows Ausführungen zu den Errungenschaften der Phase der Isolation am Beispiel Polens, 2. in seiner Beschreibung der Bedingungen zur Erlangung der Autonomie für die russische Judenheit, insbesondere in seiner

42 Es sind die Texte: Pisma o starom i novom evreistve. Pisma 4-oe. Awtonomism, kak osnowa nazionalnoi pro-grammy [Briefe über das alte und neue Judentum. 4. Brief. Autonomismus als Grundlage des nationalen Pro-gramms], in: DERS., Pisma o starom i novom jevreistve (1897–1907), [Briefe vom alten und neuen Judentum (1897–1907)], St. Petersburg 1907 (in der Arbeit wird die unveröffentlichte Übersetzung von Alexej Dörre ver-wandt, 1–32). Aber auch: Ders., Autonomism, The Basis of the National Program, in: Ders., Nationalism and History, 131–142.

43 Dubnow, Simon, Autonomism, The Basis of the National Program, in: Ders., Nationalism and History, 131–

142, 138.

dersetzung mit dem Einwand der Kahalnost (russ.: Kahalverfasstheit) gegen den Autonomismus und schließlich 3. in seiner Beschreibung eines zu konsti-tuierenden gesamtjüdischen Kongresses: 44 Für Dubnows Argumentation er-füllte der kahal aus polnisch-litauischer Zeit mehrfache Funktionen. Auch hier offenbart sich die dialektische Vermittlung von Partikularität und Uni-versalität: Abstrakt symbolisiert der kahal in seiner Grundform die Kontinui-tät von jüdischer Selbstbestimmung, konkret aber steht er zugleich auch für die außerordentlich weitgefächerte und feingliedrige Gesamtorganisation der Juden in Polen-Litauen, die sich auf seiner Basis ausbilden konnte und in der jüdischen Geschichte als Blütezeit nationaler Autonomie betrachtet werden muss, denn lange Zeit nach der Aufhebung des Patriarchats in Palästina und des Exilarchats in Babylonien entstand „zum ersten Mal wieder eine zentrale Körperschaft in Form der zwei waadim: des ‘Vierländerwaad’ in Polen und des ‘Waad der Hauptgemeinden’ in Litauen“, wie Dubnow in einem enzy-klopädischen Eintrag in der EJ hinwies.45 Er ging davon ausging, dass nach dem Niedergang dieser institutionellen Autonomie dieses Erbe langsam an Leben verlor, nahm nicht wahr, dass die nichtinstitutionalisierte Volksbewe-gung des Chassidismus wesentliche Elemente der verlorenen Institutionen aufnahm und bewahrte. Als Ursache für Dubnows Übersehen der Fortexis-tenz von autonomen Elementen in religiösen Organisationen führte Israel Bartal dessen ausgeprägte säkulare Einstellung an.46 Die Leerstelle, die durch den Niedergang der alten Autonomieformen entstand, wurde, so Bartal wei-ter, durch unterschiedliche kollektive Formen ausgefüllt: z.B. Nationalismus, Historiografie, neue religiös geprägte Organisationsformen – den Bruder-schaften, den Talmudschulen und den chassidischen Gerichten –, aber auch durch soziale Phänomene, wie der Haskala. Die Maskilim in Österreich-Ungarn und im Russländischen Imperium könnten, dieser Argumentation folgend, vergleichbar mit anderen Nationalbewegungen in Mittel- und Ost-europa, als frühe Stufe des Nationalismus gelten. Es handele sich dabei um einen Nationalismus einer ethnischen Gruppe, die den Übergang von einer korporativen, kollektiven Identität zur Staatsangehörigkeit in einem zentrali-sierten Staat macht, ein Nationalismus, der seinen Platz eher innerhalb der Imperien findet, anstatt gegen jene zu rebellieren.47

44 Ebd., 26.

45 Ders., Autonomie, in: Encyclopedia Judaica, 3. Bd.: Apostel–Beerajim, Berlin 1929, 749–758, 756.

46 Bartal, Israel, From Corporation to Nation. Jewish Autonomy in Eastern Europe, 1772–1881, Unveröffentlich-tes Manuskript, 10. Darüber hinaus: Seltzer, Robert M., The Secular Appropriation of Hassidism by an East European Jewish Intellectual, Dubnow, Renan and the Besht, in: Polin 1 (1986), 151–162.

47 Bartal, From Corporation to Nation. Jewish Autonomy in Eastern Europe, 1772–1881, 10f.

In seiner vergleichenden Perspektive hob Dubnow bei der Analyse der Aus-gangsbedingungen der Judenheiten in den Hauptdiasporaländern den Aspekt hervor, dass zwar „seit der Zerschlagung des kahal unter Nikolai I. [den Ge-meinden] offiziell nicht einmal der Status juristischer Personen zugespro-chen“ wurde, jedoch hätten sich durch eine isolationistische Staatspolitik ge-genüber den Juden „die Reste einer alten Selbstbestimmung erhalten“.48 Dies hat zum einen damit zu tun, dass im russländischen Kontext der kahal zu dieser Zeit zwar seit 1844 als Realinstitution formell nicht mehr bestand, in-des aber zu einem Hauptmotiv der judeophoben Stimmung in der russländi-schen Gesellschaft wurde. Der zum Christentum konvertierte Jude Jacob Brafmann hatte bereits 1869 mit seinem Buch vom Kahal49 den Juden vor-geworfen, den kahal insgeheim weiterzuführen, sich so „abzusondern“, die Masse der Juden gegen die russische Regierung aufzustacheln und einen in-ternationalen „Welt-Kahal“ zu organisieren.50 Das Buch vom Kahal wurde nicht nur auf Staatskosten gedruckt und an alle amtlichen Stellen in Russland verschickt, sondern auch zur Grundlage für die „Kommission zur Umgestal-tung des jüdischen Lebens“, die der „Absonderung der Juden“ entgegenwir-ken sollte. Insofern hatte es verschärfenden Einfluss auf die zaristische Poli-tik gegenüber den Juden und heizte die antisemitische Stimmung in der Be-völkerung weiter an. Ausführlich ging Dubnow auf den Einwand der ‚Ka-halnost’’, das Rekurieren auf die traditionelle Autonomie, gegen das Auto-nomiekonzept ein, dem alten Vorwurf gegen die Juden, einen ’Staat im Staa-te’ zu bilden. Diese Anfeindung schürte die Angst in der russländischen Ju-denheit, dem virulenten Vorwurf des geheimen Fortbestehens der alten Au-tonomie in Form eines separatistischen, auf Isolation bedachten kahal51 allein mit der Thematisierung Material zu liefern. Dubnow stand mit seinem über-aus positiven Rückgriff auf den kahal in der innerjüdischen Diskussion einer skeptischen Mehrheit gegenüber. In den 70-iger Jahren des 19. Jahrhunderts eröffnete ein Teil der russischen Presse – wie Dubnow es nannte – „eine Hetzkampagne“ gegen den „Welt-Kahal“ „mit dem Segen des Sykophanten

48 Dubnow, Autonomismus, 1907, 13f. (Hervorhebung durch mich – G. J.).

49 Katz, Jacob, A State within a State. The History of an Anti-Semitic Slogan, Jerusalem 1969, 26; aber auch:

Friedlaender, The Jews of Russia and Poland, 153; ebenso Levitaz, J., The Authenticity of Brafman[n]’s “Book of the Kahal” in: Zion 3 (1938), 170 –178, (in hebr.).

50 Bei Brafmann direkt: Brafmann, Jacob, Das Buch vom Kahal, Das Buch von der Verwaltung der jüdischen Ge-meinde, 2 Bde., Leipzig 1928, 2. Bd., V. Siehe auch: Dubnow, History of the Jews in Russia and Poland, Phila-delphia 1920, Bd. 2., 188.

51 Dubnow, Simon, Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedanken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit, hg.

von Verena Dohrn (Hg.), 3 Bde., Bd. I, 184, (Hervorhebung durch mich – G.J. ). Weiterführend dazu: Brafman, Kniga Kagala. Materialy dlja izuenij evreijskago byta (Buch des Kahals. Materialien zum Studium der jüdi-schen Lebensweise), Wilna 1869, bzw. die deutsche Ausgabe: Ders., Das Buch vom Kahal, 2 Bde., Leipzig 1928.

Brafmann“.52 Entgegen der allgemeinen jüdischen Meinung, die zumindest gegenüber der staatlichen Obrigkeit den kahal genauso verdammte wie jene selbst, vertrat Dubnow seine isolierte Position wie folgt: „Was soll die Ka-halnost sein? Es ist die bekannte Form, in der sich die Solidarität jüdischer Interessen auf religiöser, gemeinschaftlicher und nationaler Ebene ausdrück-te.“53 Viel später schrieb Dubnow, das antisemitische Stereotyp positiv wen-dend: „Aber die Versammlung Israels geht seinen historischen Weg weiter und sagt: ‚Wirklich, ein ’Staat im Staate’’, eine nach innen autonome Gruppe in einer nach außen politischen Gruppe und die Natur der Dinge billigt es.“54 Doch repressive Staatspolitik, wachsender Antisemitismus und die Pogrom-stimmung der Bevölkerung brachten die jüdischen Autoritäten und viele der assimilierten russländischen Juden dazu, die Reste der alten Autonomie zu verleugnen bzw. sie selbst zu zerstören. Dubnow dagegen bezog sich positiv auf die „Reste einer alten Selbstbestimmung“.55 Während die jüdischen Au-toritäten versuchten, die – pinkasim – (hebr.: Aufzeichnungen des kahal und des waad) vor der nichtjüdischen Öffentlichkeit zu schützen, aus Sorge, es könne den antisemitischen Positionen in die Hände spielen, hatte Dubnow vor, die pinkas ha-Medinah zu veröffentlichen, um den Wert dieser alten Au-tonomieinstitution zu würdigen und daran anzuknüpfen. Wie stark jene Furcht war, lässt sich an der Tatsache ablesen, das die von Dubnow geplante und bereits druckfertige Publikation der pinkas ha-Medinah durch jüdische Autoritäten aus diesem Grunde in Russland unterbunden wurde und erst vie-le Jahre später in Berlin publiziert werden konnte.56

Die Kahal-Figur taucht schließlich in seiner Idee von einer künftigen „Ge-samtorganisation“57 der Juden auf. Darin verbindet sich die „alte Autonomie“

der Vergangenheit mit der „neuen Autonomie“ der Gegenwart und Zukunft.

Auf der Grundlage der „Idee der jüdischen Solidarität“ forderte er „eine an-dere, vollkommenere und den Lebensbedingungen angepasstere Organisie-rung, die unsere nationalen Interessen bewahrt. Und wenn man diese neue Organisation mit dem jüdischen Wort ‘kahal’ bezeichnen will, so haben wir

52 Dubnow, Simon, Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart. In 10 Bän-den, Berlin 1929, Bd. 10, 460.

53 Ders., Autonomismus, 1907, 26.

54 Ders., Pinkas ha-Medinah, xi, zitiert nach Pinson, Koppel S., The National Theories of Simon Dubnow, in: Je-wish Social Studies 10 (1948), 335–358, 347f., (Übersetzung – G. J.).

55 Ebd., 14. Zur Staatspolitik in Russland vgl. auch: Löwe, Heinz-Dietrich, Antisemitismus und reaktionäre Uto-pie. Russischer Konservatismus im Kampf gegen den Wandel von Staat und Gesellschaft, 1890–1917, Hamburg 1978.

56 Vgl. Dubnow, Pinkas ha-Medinah, Berlin 1925.

57 Ders., Autonomismus, 1907, 26.

nichts dagegen einzuwenden.“58 Auf diesen Aspekt der Verwendung wird später näher einzugehen sein, wenn die Zukunftsvorstellungen Dubnows be-leuchtet werden.

Simon Dubnows historiografische ‘Erfindung’ des kahal in der jüdischen Historiografie kann beispielhaft für die Historiografie des 19. Jahrhunderts stehen. Sie wies eben jene typische Paradoxie auf, sich einerseits mit wissen-schaftlichen Methoden in eine professionalisierende Wissenschaft zu ver-wandeln, andererseits hatte sie die Erschaffung von Mythen und die Erfin-dung von Tradition zum Inhalt.59 Die Neuartigkeit der Dubnow’schen Idee der Autonomie liegt nicht nur in der Vermittlung zweier sich scheinbar aus-schließender Emanzipationskonzepte – der individuellen und der kollektiven Emanzipation. Dubnow benutzte die autonomen Institutionen im Sinne der Betonung des kollektiven Charakters zur Schaffung einer nationalen Identität – nämlich Quelle der politisch-nationalen Erneuerung für das jüdische Volk zu sein. Schon Israel Bartal relativierte Dubnows kahal- und waad-Begeisterung allerdings insofern, dass diese Institutionen nie jene Macht und Unabhängigkeit von imperialen Autoritäten inne hatte die Dubnow ihnen in seinem idealisierten Bild nachsagte.60

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