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Die (mindestens) acht Probleme und die Sozialwissenschaften

Im Dokument Von Honig und Hochschulen (Seite 193-197)

Die (mindestens) acht Probleme der Dialektik

9. Die (mindestens) acht Probleme und die Sozialwissenschaften

Zieht man die (mindestens) acht Probleme der Dialektik zusammen, um vor allem der Frage nach den Unterschieden und Gemeinsamkeiten einer idealis-tisch und einer materialisidealis-tisch verfahrenden Herangehensweise näher zu kommen, zeigt sich, dass die sozialwissenschaftliche Stärke der Dialektik durch einen prozesshaften vermittlungslogischen Anspruch charakterisiert werden kann – im Versuch der Einbeziehung der dritten Stellung des

Gedan-kens zur Objektivität! Erst der scharfe Widerspruchsbegriff der strikten An-tinomien zugrunde liegt, kann die Differenz zwischen dem ‚gewöhnlichen’

und dem ‚reineren’ (Hegel) Dialektikbegriff erfassen. Damit ist nicht nur die formallogische Möglichkeit verbunden, Implikationsverhältnisse darstellen zu können; zudem ist auch ein Vermittlungsmodell geschaffen, das eine drit-te Sdrit-tellung des Gedanken erlaubt. Diese besdrit-teht undrit-ter den gegebenen Bedin-gungen in nicht weniger als im Bewusstsein der (zunächst) dem Bewusstsein entzogenen Momente. Marx führt diese Überlegung konsequent in seiner Fe-tischtheorie durch, in der er auf die gesellschaftliche Verkehrung von Wesen und Erscheinung, von Subjekt und Objekt abzielt. Damit ist aus der Perspek-tive der dritten Stellung die Möglichkeit verbunden, Prozesse, die sich hinter dem Rücken der Beteiligten abspielen, zu erfassen. Im Rückgriff auf einen solchen verstandenen Begriff der Objektivität ist der sozial- und moralphilo-sophische Anspruch des Marxschen Imperativs erklärbar: Im Aufzeigen nicht-subjektgerechter Verhältnisse können selbst die repressiven Momente, die dem Bewusstsein entzogen sind, beschrieben und damit denunziert wer-den. Die sozialwissenschaftliche Relevanz einer dritten Stellung des Gedan-kens besteht demnach in der Möglichkeit, nicht nur dem empirisch vorhan-denen An-sich-Seins des Gegebenen die Möglichkeit einer subjektgerechte-ren Gesellschaft entgegenzuhalten, sondern auch den dem Bewusstsein ent-zogenen Momenten näher zu kommen.

Das sozialwissenschaftlich relevante Moment besteht darin, dass erst nach einiger gedanklicher Anstrengung die Gesamtheit eines solchen Prozesses deutlich wird – und durch bloße Vergegenwärtigung oder Analyse nicht zu ändern ist! Hier treten ganz handfeste vergegenständlichte und verdinglichte Verhältnisse dem Subjekt entgegen, die nicht durch bloßes und geduldiges Nachdenken, durch Reflexion nachhaltig geändert werden können. Eine er-staunliche Parallele zeigt sich im objektiven Prozess, im Kapitalverhältnis und im intrapsychischen Prozess, wie ihn Sigmund Freud herausarbeitet:

Beide sind zunächst dem Bewusstsein entzogen, können aber durch mühseli-ge Arbeit ins Bewusstsein mühseli-gehoben werden, sind aber damit noch nicht ver-ändert. Die Bedingungen der Möglichkeit einer nachhaltigen Veränderung sind aber geschaffen. Nicht im bloßen geduldigen gedanklichen Nachvoll-zug, sondern nur durch einen Eingriff in die Praxis kann eine nachhaltige Veränderung ermöglicht werden. Selbst wenn wir wissen, wie die Wertver-gesellschaftung funktioniert, wie das Kapitalverhältnis strukturiert ist – und nach der Marxschen Analyse wissen wir es – können wir es (zunächst) nicht verändern; zumindest nicht durch bloße Reflexion. Wir können Strukturen, Mechanismen und Bewegungsgesetze aufdecken (auch eine Parallele zur

Freudschen Psychoanalyse), aber eine nachhaltige (radikale) Veränderung der Wertvergesellschaftung ist nicht alleine durch Reflexion auf die basalen gesellschaftlichen Mechanismen (im Marxschen Fall) oder durch die Analy-se des Individuums (im Freudschen Fall) möglich. Es bedarf, neben der theo-retischen Einsicht, des ‚eingreifenden Denkens’.

Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, dass die Standardinterpretation idealis-tischer und materialisidealis-tischer Dialektik quer zu diesen Überlegungen steht.

Die subjektgerechte Einrichtung der Verhältnisse ist kein Standpunkt, den Idealisten oder Materialisten qua theoretischer Vorentscheidung ein für alle-mal abschlusshaft bestimmen könnten. In einer offenen vermittlungslogi-schen Dialektikkonzeption, die bereit ist, den Marxvermittlungslogi-schen Imperativ ernst zu nehmen, den Vorrang des Objekts mitzudenken, wie ihn Adorno einfordert, wird die Differenz idealistischer und materialistischer Anstrengung überführt in Überlegungen, die einer ‚versöhnten Gesellschaft’ nahe kommen. Max Horkheimer hat diesen Anspruch einprägsam in einer Notiz zusammenge-fasst: „Wenn man Hegels Lehre, daß der Begriff das Innere der Sache selbst ist, genau nachdenkt, wird ihre Durchführung, die idealistische Dialektik, von selbst zur materialistischen. Es ist wie bei gewissen Vexierbildern: wenn man sie lange genug ansieht, schlagen sie in eine andere Gestalt um, die e-benso wohl das Bild ist, wie die vorhergehende. Hegel vom Kopf auf die Fü-ße zu stellen, war nur deshalb so zwingend, weil er schon auf ihnen stand.“

(Horkheimer, 286)

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Im Dokument Von Honig und Hochschulen (Seite 193-197)