• Keine Ergebnisse gefunden

Südasien verewigen oder weshalb Buddhisten keine Armbanduhren tragen: Martin Hürlimanns „Indien“ 1928tragen: Martin Hürlimanns „Indien“ 1928

DIE BILDBANDREIHE ORBIS TERRARUM

1.5 Südasien verewigen oder weshalb Buddhisten keine Armbanduhren tragen: Martin Hürlimanns „Indien“ 1928tragen: Martin Hürlimanns „Indien“ 1928

Indienreise

Die Aufnahmen für den Indienband von Orbis Terrarum entstanden auf einer sieben-monatigen Reise Martin Hürlimanns in den Jahren 1926 und 1927. Noch während Hürlimann den Frankreichband fertigstellte, reiste er für sein nächstes Projekt nach Südasien.66 Die Idee zum Indienband entstand in der British Empire Exhibition, einer Kolonialausstellung des Britischen Empire, die 1925 in Wembley stattfand und wo Hürlimann seinen Verwandten Hans J. Wehrli (1871–1945) traf.67 Der Professor für Geografie an der Universität Zürich war ein Südasienkenner und hatte sich in Lehre und Forschung mit der Länderkunde des Subkontinents beschäftigt.68 Wehrli war Generalist und setzte sich mit den Bereichen Geologie, Klimatologie, Ökonomie, Eth-nologie und Geografie auseinander.69 Als Direktor der Sammlung für Völkerkunde der Universität Zürich beabsichtigte er, auf einer weiteren Indienreise Objekte für die Sammlung anzuschaffen.70 Mit Wehrli hatte Hürlimann einen erfahrenen und kun-digen Reisepartner zur Seite, von dessen Wissen er profitierte.

64 Peter Panter, Das unvermeidliche Buch. Ein Europäer unterwegs, in: Vossische Zeitung, 19. 04. 1925.

65 Gabriele Reuter, America as Seen by Germans, in: The New York Times, 26. 04. 1925.

66 Privatarchiv Schindler, Mappe „Wasmuth“, Brief von Martin Hürlimann an Günther Wasmuth, 26. 10. 1926.

67 Martin Hürlimann, Erinnerungen an Hans J. Wehrli, in: NZZ, 03. 03. 1945.

68 Hans J. Wehrli, Vorder- und Hinterindien, [Frankfurt a. M.] 1912.

69 Hürlimann, Zeitgenosse, S. 152.

70 Die von Wehrli auf der Reise angeschafften Objekte finden sich heute in der Sammlung des Mu-seums Rietberg (Zürich).

Der Vertrag mit dem Wasmuth Verlag hielt fest, dass Hürlimann für die Reisekos-ten selber aufkommen musste.71 Als Honorar kam dem Autor eine Beteiligung an den Verkäufen des Buches mit 1.73 Mark pro Verkauf zu. Der zeitgenössische Reiseführer Baedeker aus dem Jahr 1914 taxierte die Kosten auf monatlich 1.200 Mark für eine Reise mit Bediensteten und in hochpreisigen Gasthäusern, für die günstigere Variante veranschlagte er zwei Drittel des Preises.72

Im Oktober 1926 machte sich Hürlimann mit dem Australiendampfer Oronsay der britischen Orient Steam Navigation Company, die alle 14 Tage über Gibraltar, Toulon, Neapel nach Colombo fuhr, auf den Weg nach Indien.73 Während der Reise nutzte der Zürcher seine Doppelbegabung für das Schreiben und Fotografieren und verfasste mehrere Artikelserien für die wichtigste liberale Schweizer Tageszeitung, die Neue Zürcher Zeitung.74 Seine Beziehungen mit der Neuen Zürcher Zeitung bestanden bereits seit 1925, als er Artikel zu Frankreich und über seine Orientreise publiziert hatte.75

Die Route der beiden Schweizer führte von Süden Richtung Norden. Ziele waren u.a. das damalige Ceylon, Rameswaram, Madura, die Malabarküste, der Haiderabad-staat, Delhi, Bombay, Benares, Kalkutta, die Hochtäler des Himalaja und schließlich Nepal. Während Wehrli von Bombay aus in die Schweiz zurückkehrte, begab sich Hürlimann auf dem Landweg über den Khaiberpass, Kaschmir und Istanbul zurück Richtung Europa.76 Längere Strecken überwanden Wehrli und Hürlimann mit der Eisenbahn. Das Eisenbahnnetz, damals rund 60.000 Kilometer umfassend, erschloss die meisten Teile des Halbkontinents.77 Eine Etappe konnte bis zu 30 Stunden be-anspruchen. Ohne die Infrastruktur, die unter der Kolonialherrschaft des Britischen Empire für Verwaltungs-, Handels- und militärische Zwecke entstanden war, wäre das Dokumentieren derart vieler Regionen des Subkontinents in so kurzer Zeit nicht

71 ZBZH, Handschriftenabteilung, Atlantis Verlag, Verlagsarchiv, Ms. Atlantis 49.82, Wasmuth, Ewald und Ernst: Verträge und Briefe, Berlin 1926–1941, Vertrag vom 12. 07. 1926.

72 Karl Baedeker (Hg.), Indien. Ceylon, Vorderindien, Birma, die Malayische Halbinsel, Siam, Java.

Handbuch für Reisende, Leipzig 1914, S. XII.

73 Aus einem Brief an Günther Wasmuth geht hervor, dass die beiden sich am 26. Oktober an Bord der Oronsay befanden, vgl.: Privatarchiv Schindler, Mappe „Wasmuth“, Brief von Martin Hürli-mann an Günther Wasmuth vom 26. 10. 1926.

74 Die Serie erschien auch als Sonderdruck: Martin Hürlimann, Indien-Reise. Von Ramesvaram nach Benares, 1926/27, Zürich 1928.

75 Martin Hürlimann, Orléans, seine Kathedrale und seine Heilige, in: NZZ, 21. 05. 1925; ders., Par-dons in der Bretagne, in: NZZ, 09. 08. 1925; 10. 08. 1925; ders., Im Lande der Esskunst, in: NZZ, 13. 12. 1925.

76 Martin Hürlimann, Wie man in Indien reist, in: NZZ, 24. 12. 1928, S. 2.

77 Baedeker, Indien, S. XX.

möglich gewesen.78 Fotojournalistinnen und -journalisten waren folglich als „em-bedded journalists“ abhängig von kolonialen Routen und Genehmigungen.79 Autos, Busse, Boote und Ochsen- sowie Pferdefuhrwagen (sogenannte Tongas) dienten Hür-limann und Wehrli als Fortbewegungsmittel in entlegene Gebiete (Abb. 4).

In Nepal standen dem Schweizer jenseits der Straße ein Reitpony und Träger für das umfangreiche Gepäck zu Diensten (Abb. 5). Hürlimann setzte sich ein ambitio-niertes Reiseprogramm und stand dadurch oftmals unter Zeitdruck. Ihm stand beim Fotografieren einzelner Sehenswürdigkeiten zum Teil nur ein kurzes Zeitfenster zur Verfügung, da die Rückkehr zur Zugstation anstand oder das Licht suboptimal

wur-78 Martin Hürlimann, Wie man in Indien reist, in: NZZ, 24. 12. 1928.

79 Der Begriff des „embedded journalist“ wurde im Kontext der Kriegsberichterstattung im Zweiten Golfkrieg entwickelt, kann aber durchaus auch auf das Eingebettet-Sein in kolonialen Strukturen übertragen werden, vgl. Kristina Isabel Schwarte, Embedded Journalists – Kriegsberichterstat-tung im Wandel, Münster 2007, S. 11.

Abb. 4 Martin Hürlimanns Reisepartner Prof. Dr. Hans Wehrli im Bus auf dem Weg Richtung damali-ges Mysore, 1926/1927.

de.80 Die guten Wetterbedingungen, das ausgezeichnete Licht und die Fülle an foto-grafischen Motiven machten Indien für Hürlimann zu einem idealen Fotogebiet – wie er in der Neuen Zürcher Zeitung betonte.81

Begleitet wurden Hürlimann und Wehrli von einem Bediensteten namens „Swami“

oder „Swamy“ aus dem südlichen Madras, der in den Texten häufig lediglich als „Boy“

bezeichnet wird, einer im Kolonialraum üblichen diminutiven und paternalistischen Benennung von Angestellten.82 Seinen Begleiter machte Hürlimann in Artikeln mehr-fach zum Thema. Er beschrieb, inwiefern er mit der geleisteten Arbeit zufrieden oder unzufrieden war und gab anderen europäischen Reisenden Tipps, wie eine gute Aus-wahl eines „Boys“ zu tätigen sei. Dessen Lebensweise schilderte er als sparsam. Das

80 Schöppe, Hürlimann, S. 73.

81 Martin Hürlimann, Wie man in Indien reist, in: NZZ, 25. 12. 1928, S. 2.

82 Ders., Wie man in Indien reist, in: NZZ, 24. 12. 1928. In seiner Autobiografie nennt Hürlimann ihn „Sami“: Ders., Zeitgenosse, 1977, S. 156.

Abb. 5 Ausrüstung Martin Hürlimanns, Nepal 1927.

eingenommene Geld schicke er seiner Familie und bereite sich Tee aus den bereits aufgebrühten Blättern seiner Arbeitgeber zu. Den „Boy“ erachtete Hürlimann neben dem Bettzeug und einem robusten Magen als wichtigstes „Zubehör“ für eine Reise durch den Subkontinent.83 Ein „Boy“ könne sehr nützlich sein, sofern sich dieser als

„Perle“ erweise, die in Indien jedoch nicht häufiger seien als in Europa. Die Aufga-ben des Bediensteten gestalteten sich umfangreich. Er richte die Bettstatt, bringe am Morgen heißen Tee ans Bett, putze die Schuhe und koche, falls nötig. Darüber hinaus übernähme er bei Bedarf Übersetzungsaufgaben und habe als Mittler bei den Ver-handlungen anlässlich von Objektkäufen für die Sammlung in Zürich gedient. Hür-limann und Wehrli standen überdies kundige lokale Führer zur Verfügung, die zum Teil höchst gebildet waren, und profitierten folglich von lokalem Wissen.84 Für seine zweite Südasienreise, ein halbes Jahr später, heuerte Hürlimann „Swami“ erneut an.

Während der Reise sei dieser ernsthaft erkrankt, doch scheint er sich wieder erholt zu haben, wie Hürlimann späteren Briefen seines Begleiters entnehmen konnte.85 Die beiden scheinen in Kontakt geblieben zu sein. Die Reise mit Bediensteten und Chauf-feur war auch bei anderen Fotojournalisten in Indien üblich.86

Wehrli und Hürlimann profitierten vor Ort auch von Kontakten aus der Schweiz.

Vertreter des Schweizer Handelshauses Gebrüder Volkart standen ihnen zur Seite.87 Sie halfen bei der Beschaffung von Sammlungsobjekten, stellten Unterkünfte zur Verfügung und führten sie in europäische Clubs ein.88 Eine Regierungsempfehlung ermöglichte den Schweizern in den Fürstenstaaten als Gäste der Maharajas – loka-len Potentaten – in deren Gästehäusern zu gastieren. Daneben logierten sie in Rast-häusern – sogenannten „Dak Bungalows“ –, die für Reisende bereitstanden.89 Hotels gab es nach Schilderungen Hürlimanns nur in größeren Ortschaften, in denen unter der Kolonialherrschaft sogenannte „Cantonments“, auch Europäerviertel genannt,

er-83 Ders., Wie man in Indien reist, in: NZZ, 24. 12. 1928, S. 1.

84 Ders., Der Tempel des Shiva, in: Atlantis, H. 5, 1933, S. 275.

85 Ders., Indische Menschen, in: Atlantis, H. 7, 1930, S. 394–420, hier S. 403.

86 Der Baedeker befand es 1914 nicht mehr als zwingend, aber dennoch als angenehm, mit einem Bediensteten zu reisen. Durch die bessere Bildung breiterer Bevölkerungsschichten sei aber auch ohne eigene Angestellte beinahe immer jemand zu finden, der des Englischen mächtig sei: Bae-deker, Indien, S. XI. Der britische Reiseführer von Murray hingegen erklärt einen „travelling servant“ für unverzichtbar: John Murray (Hg.), A Handbook for Travellers in India, Burma and Ceylon including all British India, the Portuguese and French Possessions and the Indian States, London 192411, S. xxii.

87 Zur Firma Volkart vgl. Christof Dejung, Die Fäden des globalen Marktes. Eine Sozialgeschichte des Welthandels am Beispiel der Handelsfirma Gebrüder Volkart 1851–1999, Köln 2013.

88 Hürlimann, Indien-Reise, S. 49.

89 Ders., Zeitgenosse, S. 156.

richtet worden waren.90 Aus den Beschreibungen des Reisealltags geht hervor, dass die beiden ihren europäischen Lebensstil auch in Indien beibehielten. Nicht nur in ihrer Kleidung mit leichtem Anzug, Hemd, Fliege und Tropenhut, sondern auch in ihrem Alltag folgten sie den Abläufen eines britischen Gentlemans und ließen sich, wie es sich geziemte, einen Afternoon Tea servieren (Abb. 6).

Im April 1927 informierte Hürlimann seinen Verleger Günther Wasmuth aus dem damaligen Bombay, dass sich seine Reise dem Ende zuneige und er das Material für den Band beinahe beisammen habe. Nun sei noch das Himalaja-Gebiet zu bereisen, danach wolle er „vollgepackt mit innerem und äusserem Material, aber auch abge-spannt und ruhebedürftig, nach Europa zurückkehren“.91 Er versicherte seinem Ver-leger: „Ich habe für Sie gemacht, was möglich war“. Im Gepäck hatte Hürlimann zu

90 Ders., Wie man in Indien reist, in: NZZ, 24. 12. 1928, S. 1.

91 Privatarchiv Schindler, Mappe „Wasmuth“, Brief von Martin Hürlimann an Günther Wasmuth, Typoskript vom 02. 04. 1927.

Abb. 6 Hans Wehrli und Mar-tin Hürlimann in Gwalior Fort, 1927.

diesem Zeitpunkt rund 4.000 Aufnahmen aus beinahe allen Teilen des Subkontinents und sowohl bekannten als auch unbekannteren Regionen. Darunter befanden sich Fotografien in Schwarzweiß, Autochrome in Farbe und Filmaufnahmen.

Nach seiner Rückkehr im Juni zeigte sich Günther Wasmuth bei der Durchsicht des

„herrlichen Materials“ begeistert und war der Überzeugung, dass „der Band einer der schönsten der Serie werden“ würde.92 Die Eindrücke während der Reise hatten bei Hürlimann zur Überzeugung geführt, dass der Fülle an fotografischen Motiven nur durch zwei Teilbände zu Vorder- und Hinterindien Rechnung getragen werden konn-te.93 Die Bezeichnungen Vorder- und Hinterindien stammten aus dem kolonialen Kontext und generierten sich aus einer eurozentrischen Blickrichtung. Erstere meinte die heutigen Gebiete Indien, Pakistan, Nepal und Sri Lanka. Hinterindien umfasste die zwischen Subkontinent und China liegende südostasiatische Halbinsel, u.a. Burma, Thailand und Kambodscha. Im Oktober ging es für Hürlimann deshalb erneut auf Reisen, um „Hinterindien“ zu dokumentieren und die Fotografien für den Bildband

„Ceylon und Indochina“ zu produzieren, der 1929 erschien.94