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Die Welt als Faszinosum globaler Diversität und Gemeinsamkeit

Rezeption: Reiseerlebnis durch Bilder

2.3 Die Welt als Faszinosum globaler Diversität und Gemeinsamkeit

In Stunden und Minuten werden Städte, Länder, Völker miteinander verbunden, die früher Tage und Wochen auseinander lagen. Möge mit der wachsenden Überwindung des Raumes zwischen den Völkern auch überwunden werden, was sie noch mehr trennt als die räumliche Entfernung, das gegenseitige Sich-Verkennen!59

Mit romantisierendem Impetus beschrieb der berühmte Schweizer Flugpionier Wal-ter Mittelholzer in Atlantis 1929 das Potential, das sich aus seiner Sicht aufgrund der

55 Über den Verbleib eines Nachlasses von Helene Fischer konnte im Zuge der Recherchen nichts Näheres in Erfahrung gebracht werden. Über ihr Leben ist bisher wenig bekannt. Sie hat u.a. für die Zürcher Illustrierte und für Atlantis gearbeitet. Beiträge von Ella Maillart und Annemarie Schwarzenbach u.a.: Ella Maillart, Der Schlangenkult in Indien, in: Atlantis, H. 11, 1956, S. 511–

518; Annemarie Schwarzenbach, Alexanders Eroberungen von Persien, in: Atlantis, H. 10, 1936, S. 623–627.

56 Vgl. u.a. Lotte Levy-Errell, Der Jewe-Geheimbund, in: Atlantis, H. 5, 1930, S. 310–312; dies., Das Homowah-Fest in Accra, in: Atlantis, H. 6, 1930, S. 345–347; [Regina] Relang, Bauernparade (im südlichen Portugal), in: Atlantis, H. 4, 1937, S. 197–199.

57 Stöber, Pressegeschichte, S. 272; Hürlimann, Zeitgenosse, S. 209.

58 Lechenperg schilderte dies in einem Interview: Diethart Kerbs, Harald Lechenperg in Afghanis-tan, in: Walter Uka/Brigitte Walz-Richter/Diethart Kerbs (Hg.), Die Gleichschaltung der Bilder.

Zur Geschichte der Pressefotographie 1930–36, Berlin 1983, S. 86–90, hier S. 86–87.

59 Walter Mittelholzer, Über Berge, Wüsten und Meere, in: Atlantis, H. 2, 1929, S. 70–79, hier S. 78.

neuen Möglichkeiten der Mobilität und durch den Flugverkehr eröffnete. Dazu prä-sentierte die Zeitschrift spektakuläre Flugaufnahmen des Schweizers. Mittelholzers Zitat kann repräsentativ für den Anspruch von Atlantis herangezogen werden. Auch Hürlimanns Ziel war es, die Welt als ein Netz verschiedener, miteinander verbunde-ner Kulturen zu zeigen und sie für das Publikum zugänglich zu machen.

Die Mehrzahl der Artikel über nicht-europäische Kulturen bis zum Zweiten Welt-krieg beschäftigte sich mit Asien, wie sich aus dem Register, das alle bis 1960 pub-lizierten Beiträge erfasst, entnehmen lässt.60 Über 300 Beiträge erschienen bis 1945 über diesen Erdteil. Dahinter folgten Gebiete, die zum Raum „Naher Osten“ und

„Orient“ gezählt wurden, darunter Ägypten, Afghanistan, Marokko, das damalige Persien und die Türkei. An dritter Stelle stand der afrikanische Kontinent. Zu Süd-asien publizierte Atlantis zwischen 1929 und 1960 über 100 Beiträge, ähnlich viele Einträge sind im Register für die Schweiz aufgeführt. Die USA erhielten im Vergleich dazu mit 70 Artikeln weniger Aufmerksamkeit, was wohl mit den Vorbehalten Hürli-manns gegenüber den Vereinigten Staaten zu erklären ist, wie bereits im ersten Kapitel ausgeführt wurde.

Im Folgenden gilt es nach den Funktionen zu fragen, welche dem Medium Fo-tografie in der Zeitschrift Atlantis bei der Darstellung nicht-europäischer Kulturen zugeschrieben wurden. Dabei werden drei Dimensionen unterschieden: Erstens die Funktion des imaginären Reisens, zweitens die Funktion der globalen Vergleichbar-keit und drittens die Funktion der ästhetischen Erbauung durch das Ausblenden von Aktualitäten. Diese Dimensionen wurden in verschiedenen Artikeltypen umgesetzt wie Reise- und Expeditionsberichte, ethnologische, historische und die materielle Kultur betreffende Beiträge.61 Den Darstellungsmodi lag – so meine These – ein Kul-turverständnis zugrunde, das statuierte kulturelle Differenzen und globale Gemein-samkeiten gleichermaßen ästhetisierte und ein modernekritisches Narrativ favori-sierte. Atlantis propagierte ein weitgehend konfliktfreies und widerspruchsloses Bild der Welt, in dem Hunger, Not, Krankheit und Tod zugunsten einer Ästhetisierung von Kultur ausgeblendet wurden.

Als Erstes diente die Fotografie als Mittel des imaginären Reisens, meist um-gesetzt in fotografisch illustrierten Reiseberichten. In dieser Form stand der Blick des Reisenden im Vordergrund. Die eigene Augenzeugenschaft durch detaillierte Beschreibungen belegend, führten diese an Landschaften und architektonischen Bauten vorbei. Häufig folgten Reisebeiträge einer touristischen Perspektive. Sie

be-60 Vgl. Hürlimann, Register.

61 Stahr unterscheidet für die Berichte in Illustrierten verschiedene Diskurse, vgl. Stahr, Foto-journalismus, S. 101.

gleiteten den Leser und die Leserin an wichtige Plätze, Aussichtspunkte und Mo-numente und lieferten Kurzinformationen zum Gesehenen.62 Anekdotisch ließen sie das Publikum an komischen, eigentümlichen oder bemerkenswerten Erlebnissen einer Reise teilhaben, ähnlich einem Lichtbildvortrag für Freunde und Verwandte nach der Rückkehr. Beschreibungen von Gerüchen und Geräuschen bereicherten die Bilder um sensorische Elemente. Im Zusammenspiel von Bild und Text ergaben die Berichte imaginäre Rundgänge durch fremde Orte und Regionen. Ein Beispiel für einen derartigen Beitrag war Hürlimanns szenischer Gang durch die südasiati-sche Tempelstadt Puri 1941 (Abb. 23). Die Aufnahmen zeigten den Tempel an sich, die Zugangsstraße zum Tempel, dessen Eingang und das Leben rund um ihn he-rum und führten schließlich mit Straßenszenen in die entferntere Umgebung Puris.

Dazu lieferte Hürlimann die entsprechenden Beschreibungen: „Auf einer leichten Anhöhe erhebt sich der Tempelbezirk, gekrönt von dem 60 m hohen Turm über dem Allerheiligsten, auf dessen Spitze über dem Rad (Chakra) Wischnus die Flagge 62 Ernst Winkler, Landschaftsstil Australiens, in: Atlantis, H. 6, 1944, S. 309–316; Martin

Hürli-mann (Fotos/Text), Puri, die heilige Stadt des Jagannath, in: Atlantis, H. 7, 1941, S. 420–426.

Abb. 23 Martin Hürlimann (Fotos/Text), Puri, die heilige Stadt des Jagannath, in: Atlantis, H. 7, 1941, S. 420−421.

des Gottes flattert. Schon an der mächtigen Mauer, die die Tempelbauten fast quad-ratisch in einer Länge von je 200 m umschliesst, wird dem Fremden Halt geboten.“63 Die Schilderungen Hürlimanns waren sinnlich gehalten: „Nur undeutlich erkennt der vom Sonnenlicht geblendete Pilger im Dämmer die Züge der Gottheiten.“64 Ty-pisch waren zudem mehrteilige, den Reiseetappen folgende Serien. In sieben Teilen führte die promovierte Historikerin Margret Boveri mit eigenen Fotografien bei-spielsweise durch Vorderasien.65 Die Serien glichen in ihrem Aufbau illustrierten Reisebüchern, jedoch in einer gekürzten und verstärkt auf das Bild ausgerichteten Form.

Zum Zweiten erhielt die Fotografie in Atlantis die Funktion, interkulturelle Ver-gleichbarkeit zu suggerieren. In diesem Nebeneinander der Kulturen wurden auf eine ästhetisierende Art und Weise sowohl Differenzen betont als auch Gemeinsamkeiten herausgestrichen. 1934 widmete sich Atlantis dem Thema Kloster und zeigte Fotogra-fien in Kupfertiefdruck von Kreuzgängen buddhistischer Klöster aus „Hinterindien“, dem damaligen Burma und Siam sowie Aufnahmen aus der Klosterkirche Reichenau sowie aus einem serbischen Kloster. Die Bildlegenden verwiesen auf Verbindungen:

Der Kreuzgang des buddhistischen Klosters weise „auffallende Anklänge an den [...]

im Abendland herrschenden romanischen Baustil“ auf.66 In Bezug auf den Men-schen stellte Atlantis die Gemeinsamkeiten und Differenzen über das Gesicht, den Körper und die Bekleidung her. Ästhetisierenden Charakter hatten auch Bildstrecken von nicht-europäischen Bevölkerungsgruppen, häufig im Halbprofil, die oftmals als ganzseitige Drucke in der Zeitschrift enthalten waren, zum Teil in hochwertigen und weichzeichnenden Kupfertiefdrucken oder gar in Farbdrucken. Diese Porträts waren an künstlerische Porträttechniken angelehnt.

Insbesondere ethnologische Artikel propagierten die Charakterisierung und Ver-gleichbarkeit verschiedener Kulturen über das Medium Fotografie.67 In dieser Art des Porträts erschien die Person nicht als Individuum, sondern als Vertreter einer bestimmten Bevölkerungsgruppe. Aufnahmen von sogenannten „Rassenanthropolo-gen“ inszenierten Menschen „en face“ und „en profile“ und vermittelten

Vorstellun-63 Martin Hürlimann, Puri, die heilige Stadt des Jagannath, H. 7, 1941, S. 424–425, hier S. 420.

64 Ebd., S. 421.

65 Der erste Teil der Serie: Margret Boveri, Fahrt in den Vorderen Orient I. Eine beschwerliche Au-toreise von Istanbul nach Ankara, in: Atlantis, H. 7, 1938, S. 393–402.

66 Atlantis, H. 4, 1934, S. 218.

67 Vgl. u.a. Hägele, Foto-Ethnographie, S. 68–70. Zur ethnografischen Fotografie in Indien u.a.: John Falconer, Ethnografische Fotografie in Indien, in: Derenthal/Gadebusch/Specht, Auge, S. 24–31.

gen einer nach „Rassenzugehörigkeit“ aufgeteilten Welt.68 Der promovierte Geograf Egon von Eickstedt, – der insbesondere im Bereich der „physischen Anthropologie“

tätig war –, zeigte beispielsweise in seinem Artikel „Bei den letzten Ureinwohnern Ceylons“ Männer und Frauen im Frontal- und Seitenprofil und verband diese im Text mit seiner Logik verschiedener Zivilisierungsgrade und dem Thema des Aussterbens indigener Bevölkerungen: „Von den aussterbenden Dschungelweddas sind nur höchstens [...] hundert bis hundertfünfzig Personen übriggeblieben. Heute haben sie gelernt, sich primitive Urwaldfelder anzulegen“ (Abb. 24).69 Die Fotografien evozier-ten den Eindruck einer möglichen Vergleichbarkeit und Systematik und zielevozier-ten letzt-lich auch auf eine Einteilung von Bevölkerungen in die Raster von Rassentheorien.70 Diese in der Anthropologie entstehenden standardisierten Fotografien dienten, wie Robert Heynen gezeigt hat, der Etablierung einer auf „rassischen“ Zuschreibungen basierenden Wissenschaft.71 Ein weiteres Beispiel dafür sind die Serien von Ludwig Ferdinand Clauss (1892–1974).72 Clauss war ein Vertreter der sogenannten psycho-logischen Anthropologie. Er produzierte Porträtserien, um die Psyche bestimmter Bevölkerungstypen einzufangen und damit eine „Psychologie der Rassen“ zu etablie-ren. Letztlich versuchte er damit, wie Ulrich Hägele schreibt, „nichts anderes als eine Rassenkontinuität im Sinne der völkischen Ideologie zu fixieren“.73 Für Clauss stand die Psyche eines Menschen in enger Verbindung mit der Landschaft, die ihn umgab.

Clauss hatte mit eigenen Bildbänden in hoher Auflage Erfolg und fungierte ab 1934 als Herausgeber der Zeitschrift „Rasse“.

68 Vgl. u.a. H. B. Peters, Grönländer oder Eskimos? Ein Kapitel Rassenkunde aus der Arktis, in:

Atlantis, H. 10, 1935, S. 585–592; Max Grühl, Die Menschen der äthiopischen Welt, zur Rassen-kunde Abessiniens, in: Atlantis, H. 9, 1929, S. 584–592.

69 Egon Freiherr von Eickstedt (Fotos/Text), Bei den letzten Ureinwohnern Ceylons, in: Atlantis, H. 2, 1930, S. 88–92. Zu Egon von Eickstedt vgl. Katja Müller, Die Eickstedt-Sammlung aus Süd-indien. Differenzierte Wahrnehmungen kolonialer Fotografien und Objekte, Frankfurt a.  M.

2015, hier insbesondere S. 83–85.

70 Volker Böhnigk, Kulturanthropologie als Rassenlehre. Nationalsozialistische Kulturphilosophie aus der Sicht des Philosophen Erich Rothacker, Würzburg 2002, S. 36.

71 Robert Heynen, From Science to Fashion: Photography and the Production of a Surrogate Col-ony in Weimar Germany, in: History of Photography 40/2 (2016), S. 167–192, hier insbesondere S. 177.

72 Ludwig Ferdinand Clauss (Fotos), Palästinische Menschen, in: Atlantis, H. 1, 1930, S. 25–36; ders.

(Fotos), Arabische Köpfe, in: Atlantis, H. 7, 1931, S. 390–391.

73 Hägele, Foto-Ethnographie, S. 165.

Abb. 24 Egon Freiherr von Eickstedt (Fotos/Text), Bei den letzten Ureinwohnern Ceylons, in: Atlantis, H. 2, 1930, S. 88−89.

Abb. 25 Christoph von Fürer Haimendorf (Fotos/Text), Der Siegestanz, in: Atlantis, H. 2, 1938,

Bei der Darstellung nicht-europäischer Bevölkerungen wurden von westlichen Einflüssen vermeintlich noch nicht beeinflusste Weltgegenden und Bevölkerungs-gruppen favorisiert. Durch Bilder ritueller Handlungen, einer unberührten Natur und durch einen Fokus auf die Körperlichkeit visualisierten Berichte Bevölkerungen des Südens als „zivilisationsfern“. Dass es sich dabei um gezielte Inszenierungen handelte, lässt sich anhand eines Beitrags aus dem südasiatischen Raum zeigen. Der österreichi-sche Anthropologe Christoph von Fürer-Haimendorf (1909–1995) berichtete in einer Atlantis-Ausgabe von 1938 von einer britischen Expedition in den heutigen Nord-osten Indiens und Myanmars, wo er Menschenschädel der sogenannten „Kopfjäger“

gesammelt habe.74 Fürer-Haimendorf arbeitete mitunter im Auftrag der britischen Kolonialregierung in Südasien.75 Da in jenen Gebieten, die vom britischen Empire verwaltet wurden, die Kopfjagd verboten war – für Fürer-Haimendorf eine Enttäu-schung, da ihn vor allem das seit 1900 populär werdende Narrativ der Naga als Kopf-jäger interessierte –, partizipierte er an einer „Strafexpedition“ als Vergeltungsschläge gegen Überfalle der indigenen Bevölkerung in einem Teil des Gebiets der sogenann-ten „Naga“.76 Die auf der Expedition erbeuteten Schädel präsentierte er anschließend einer anderen Gruppe der „Naga“, die unter britischer Herrschaft stand. Da ihnen selbst die Erbeutung von feindlichen Köpfen verboten gewesen sei, wären die mitge-brachten Schädel von den „Naga“ wie ihre eigene Beute ritualisiert worden. Atlantis zeigte in Fürer-Haimendorfs Artikel die „Naga“ reich geschmückt, tanzend und sin-gend. Der europäische Forschende stilisierte sich selbst als Produzent dieses Rituals:

„Mich aber belohnt das Gefühl, ehrwürdige, dem Untergang geweihte Sitten noch einmal belebt und einer ganzen Generation das Recht auf die Festtracht ihrer Vä-ter vermittelt zu haben.“ (Abb. 25)77 Für Fürer-Haimendorf, der betonte, dass es sich bei den „Naga“ um eine bisher noch weitgehend unerforschte Bevölkerung handelte, nutzte seine Zeitschriften- und Buchpublikationen auch, um seine Inszenierung als heroischer Wissenschaftler zu fördern.78 Rituale erschienen in den Atlantis-Beiträgen 74 Christoph von Fürer-Haimendorf (Fotos/Text), Der Siegestanz, in: Atlantis, H. 2, 1938, S. 82–92.

75 Zu Fürer-Haimendorf vgl. Alban von Stockhausen, Imag(in)ing the Nagas. The Pictorial Eth-nography of Hans-Eberhard Kauffmann and Christoph von Fürer-Haimendorf, Wien/Stuttgart 2014, S. 113–129.

76 Hilde Shäffler, Begehrte Köpfe. Christoph Fürer-Haimendorfs Feldforschung im Nagaland (Nordostindien) der 30er Jahre, Wien 2006, S. 97.

77 Christoph von Fürer-Haimendorf (Fotos/Text), Der Siegestanz, in: Atlantis, H. 2, 1938, S. 82–92, hier S. 84. Weitere Artikel waren: Ders., Strafexpedition zu den Naga am Patkoi, in: Atlantis, H. 8, 1937, S. 452–457; ders., Vorbereitung zum Frühlingsfest, in: Atlantis, H. 3, 1939, S. 169–172.

78 Tezenlo Thong, Civilized Colonizers and Barbaric Colonized: Reclaiming Naga Identity by De-mythologizing Colonial Portraits, in: History and Anthropology 23/3 (2012), S. 375–397, hier S. 388–389. Mit seinem Buch landete Haimendorf in der Zeit des Nationalsozialismus einen

gro-als für Bevölkerungsgruppen originäre und über Jahrtausende unverändert geblie-bene Traditionen, selbst wenn sie – wie im eben beschriegeblie-benen Fall – nicht mehr praktiziert wurden.

Eine Gemeinsamkeit von ethnologisch und anthropologisch ausgerichteten Arti-keln in Atlantis war, dass sie Leserinnen und Lesern eine Zeitreise durch die Mensch-heitsgeschichte versprachen. In seinem Bildband „Der Erdkreis“ von 1935 beschrieb Hürlimann diesen Prozess als ein Ineinandergreifen von Raum und Zeit, bei dem eine bestimmte Bevölkerungsgruppe Lebensformen zeigte, die Jahrtausende zuvor der Le-bensweise der europäischen Vorfahren entsprochen habe.79 Die porträtierten nicht-europäischen Bevölkerungsgruppen wurden in der Zeitschrift Atlantis mehrheitlich nicht mit der Gegenwart in Verbindung gebracht und im Hinblick auf zeitgenössische Veränderungen hin porträtiert. Sie dienten als Repräsentanten einer Stufe in einer

„Zivilisationsleiter“ und wurden in einer zeitlosen, statischen Archaik dargestellt, die sich darüber definierte, wie weit sie von der als gegenwärtig beschriebenen „Zivilisa-tion“ entfernt waren. In diesem eurozentrischen Narrativ entstand ein Gegensatz zwi-schen „archaischer Kultur“ und „moderner Zivilisation“, bei dem erstere sich kaum dem Einfluss letzterer erwehren könne. Einerseits implizierte diese Darstellungsweise eine Passivität von nicht-europäischen Bevölkerungen, die dem Einfluss von außen nichts entgegenzusetzen hätten. Andererseits wurde dabei auf die Reflexion des Um-stands verzichtet, dass in dieser Logik die Fotografinnen und Journalisten durch ihre Interaktion mit den porträtierten Bevölkerungen ebenfalls Teil des kritisierten Pro-zesses waren.

Die Bildberichte spiegelten europäische Befürchtungen eines unaufhaltsamen Pro-zesses der globalen Homogenisierung. Traditionen schienen chronisch bedroht. Die von Atlantis vertretene und in der Bildwelt vermittelte modernekritische Weltsicht kommt u.a. im Artikel Bernatziks zu Albanien zum Ausdruck:

Überall auf dem Erdenrund, wo noch reiches natürliches Leben seine ungebrochenen Mächte entfaltet und alle Kreatur an dem ihr bestimmten Orte haust, ist sie von dem zerstörenden Ansturme der Zivilisation bedroht. [...] Die der zivilisatorischen Gewalt noch nicht ausgelieferten Inseln werden zusehends kleiner. Unabwendbar wird ihr Schicksal sie erreichen: der ursprüngliche Boden der Schöpfung wird zur Fläche der

ßen Erfolg: Christoph von Fürer-Haimendorf, Die nackten Nagas. Dreizehn Monate unter Kopf-jägern Indiens, Leipzig 1939.

79 Hürlimann, Erdkreis, S. XI.

Weltwirtschaft. Diese bedrohten Naturreiche in gültigen Bilddokumenten festzuhalten, ist eine der großen Aufgaben der Photographie.80

Eine Auseinandersetzung auf gesellschaftlicher Ebene, die sich nicht in den Dichoto-mien „Moderne“ und „Tradition“ sowie „zivilisiert“ und „vorzivilisiert“ bewegt hätte, fand kaum statt.

Am augenfälligsten wurde die Differenz zwischen westlichen und nicht-westlichen Bevölkerungen am Grad ihrer Bekleidung imaginiert. Präsentierte Atlantis europä-ische Frauen ländlicher Gebiete in hochgeschlossener Kleidung, war Schmuck und ein Tuch um die Hüfte häufig die einzige Bekleidung von nicht-europäischen Frauen, besonders oft bei Bevölkerungen des afrikanischen Kontinents.81 Auch Kinder und Männer wurden halbnackt fotografiert.82 In einer Nummer aus dem Jahr 1935 wurden spanische Frauen in wuchtigen Trachten und Balinesinnen und Balinesen mit nack-ten Oberkörpern präsentiert.83 Gemein war den Darstellungen Balis und Spaniens 1935, dass sie auf traditionelle Festlichkeiten beider Bevölkerungen fokussierten. Die-ses Nebeneinander von Kleidung auf europäischer Seite und der Darstellung nackter Körper auf nicht-europäischer Seite – zum Teil auf ganzseitigen Aufnahmen – ver-stärkte den Gegensatz zwischen Europa und Außer-Europa und verlieh den Fotogra-fien eine voyeuristische Dimension. Parallelen stellten Beiträge aber durch den Fokus auf vermeintlich tradierte Feste und Rituale her.

Der Anspruch nach fotografischer Vergleichbarkeit wurde in Atlantis auch auf das materielle Kulturerbe Außer-Europas angewandt. Die Zeitschrift präsentierte archäo-logische Funde, Architektur, Kunsthandwerk und Museumsobjekte.84 In einem The-menheft stellte Hürlimann beispielsweise Verbindungen zwischen dem Puppenthea-ter in Europa und im damaligen Burma und Java her.85 Insbesondere die sakrale Kunst

80 Hugo Adolf Bernatzik (Fotos/Text), In den Sümpfen und Gebirgen Albaniens, in: Atlantis, H. 10, 1930, S. 597.

81 Beispiele dafür: Egon Freiherr von Eickstedt (Fotos/Text), Bei den letzten Ureinwohnern Cey-lons, in: Atlantis, H. 2, 1930, S. 88–92; Hugo Adolf Bernatzik (Fotos/Text), Die Motu, in: Atlantis, H. 7, 1935, S. 394–401; Lotte Levy-Errell (Fotos/Text), Die Ewe, ein Negerstamm der Goldküste, in: Atlantis, H. 6, 1930, S. 348–356.

82 Egon Freiherr von Eickstedt (Fotos/Text), Bei den letzten Ureinwohnern Ceylons, in: Atlantis, H. 2, 1930, S. 88–92; Rudolf Oldenburg/Hugo Adolf Bernatzik (Fotos), Bamum. Ein Negerreich im Innern Kameruns, in: Atlantis, H. 3, 1930, S. 161–164.

83 Hugo Adolf Bernatzik (Fotos/Text), Bali und Balinesen, in: Atlantis, H. 3, 1935, S. 142–159; Gus-tav von Estorff, „Matanza“. Ein Schlachtfest auf den Balearen, in: Atlantis, H. 3, 1935, S. 134–139.

84 Dr. W. Andrae, Uruk Warka. Deutsche Ausgrabungen in Mesopotamien, in: Atlantis, H. 1, 1930, S. 59–64.

85 Martin Hürlimann (Fotos/Text), Burmanisches Puppenspiel, in: Atlantis, H. 2, 1935, S. 73–77.

interessierte Hürlimann. Die Weihnachtsnummer 1935 zeigte Statuen aus Deutsch-land und Asien unter dem Titel „Das andächtige Antlitz“ und „Hände“: „In der reli-giösen Kunst des buddhistischen fernen Ostens wie des christlichen Abendlandes ist in die Hände fast die gleiche Ausdruckskraft gelegt wie ins Antlitz.“86 Atlantis wies als Plattform Parallelen zu musealen Kontexten auf, die auf die Sammlung und Prä-sentation kultureller Artefakte spezialisiert waren. In beiden PräPrä-sentationsmodi ver-schwanden die Spuren der Herkunft und das Objekt wurde isoliert in eine Ordnung der Dinge integriert. In der Zeitschrift konnten architektonische Details und Struk-turen, die in Realität tausende Kilometer voneinander entfernt waren, nebeneinander in miniaturisierter Form abgebildet werden und wurden dadurch vergleichbar.87 Die Zeitschrift repräsentierte die Welt als ein Netz verschiedener Kulturen, die historische Beziehungen zueinander aufwiesen. In Atlantis wurden Fotoporträts Werken der bil-denden Kunst gegenübergestellt. So etwa in einem Beitrag von Martin Hürlimann, der Statuen des „hinterindischen Schönheitsideals“ neben einem vergleichbaren fo-86 Atlantis, H. 12, 1935, S. 742–743.

87 Steinplastik in südindischen Tempeln, Atlantis, H. 5, 1933, S. 312–317.

Abb. 26 Martin Hürlimann (Fotos/Text), Bei den Völkern Hinterindiens, in: Atlantis, 1935, H. 10, S. 528−529.

tografischen Porträt platzierte (Abb. 26).88 Diese Gegenüberstellung suggerierte, dass für Gebiete sich ein charakteristisches Äußeres über Jahrhunderte konservierte.

Neben der Funktion, dem eigenen Reisen durch Bildnarrative nahezukommen, und der interkulturellen Vergleichbarkeit diente die Fotografie in Atlantis als Drittes der Präsentation einer weitgehend vom aktuellen Zeitgeschehen enthobenen Welt. Im Dezember 1933 hatte Hürlimann auf einen Leserbrief, der mehr Aktualitätsberichte forderte, geantwortet, dass die Ereignisse des Tages bereits in Tageszeitungen und Il-lustrierten zeitnaher dargestellt würden.89 Die beachtliche Vorlaufzeit einer Monats-schrift bis zur Drucklegung verhindere aktuelle Berichte, da die ZeitMonats-schrift ansonsten den Tagesmedien inhaltlich hinterherhinken würde. Dieser Fokus stimmte aber auch mit dem Kulturverständnis Hürlimanns überein. In der Schönheit und der Größe der Leistungen einer Kultur lag seiner Meinung nach eine mächtigere Wahrheit als im „oft hässlichen“ Alltag.90 Direkte Bezüge zum Zeitgeschehen waren deshalb eher selten.

Eine Ausnahme bildete eine Sonderausgabe zu Indien von 1930. Hürlimanns Arti-kel „Indische Menschen“ mit einer allgemein gehaltenen Beschreibung verschiedener Gesellschaftsschichten des Subkontinents folgte eine Serie von Fotoporträts von Prot-agonisten der indischen Unabhängigkeitsbewegung.91 Die Aufnahmen zeigten selbst-bewusst posierende Vertreter einer politischen Elite. Sie waren während Hürlimanns erster Indienreise 1926 und 1927 entstanden. Kombiniert waren die Porträts mit Re-den zur Unabhängigkeitsbewegung von Gopal Krishna Gokhale, Srinivasa Sastri und zum gewaltfreien Widerstand von Sarojini Naidu.92 Hier kamen Menschen, die unter kolonialer Herrschaft standen, selbst zu Wort und erhielten eine Stimme. Obwohl die Reden zum Teil bereits mehrere Jahre zurücklagen und auch die Fotografien nicht

Eine Ausnahme bildete eine Sonderausgabe zu Indien von 1930. Hürlimanns Arti-kel „Indische Menschen“ mit einer allgemein gehaltenen Beschreibung verschiedener Gesellschaftsschichten des Subkontinents folgte eine Serie von Fotoporträts von Prot-agonisten der indischen Unabhängigkeitsbewegung.91 Die Aufnahmen zeigten selbst-bewusst posierende Vertreter einer politischen Elite. Sie waren während Hürlimanns erster Indienreise 1926 und 1927 entstanden. Kombiniert waren die Porträts mit Re-den zur Unabhängigkeitsbewegung von Gopal Krishna Gokhale, Srinivasa Sastri und zum gewaltfreien Widerstand von Sarojini Naidu.92 Hier kamen Menschen, die unter kolonialer Herrschaft standen, selbst zu Wort und erhielten eine Stimme. Obwohl die Reden zum Teil bereits mehrere Jahre zurücklagen und auch die Fotografien nicht