• Keine Ergebnisse gefunden

Erschütterung und Neubeginn: Atlantis in der Nachkriegszeit

Rezeption: Reiseerlebnis durch Bilder

2.7 Erschütterung und Neubeginn: Atlantis in der Nachkriegszeit

Mit der Doppelnummer „Stätten und Worte der Andacht“ ließ Atlantis im Januar 1944 Besinnlichkeit einkehren und porträtierte religiöse Stätten des Christentums, Is-lam, Hinduismus und Buddhismus.192 Mit einem Auszug aus Goethes „Westöstlichem Divan“ formulierte die Zeitschrift den Wunsch nach Frieden. Damit nahm Atlantis implizit Stellung zum Kriegsgeschehen, das zuvor eine auffällige Leerstelle dargestellt hatte.

Zu Beginn des Jahres 1945 vollzog sich mit zwei programmatischen Sondernum-mern unter dem Titel „Die andere Welt“ in der Imaginationswelt von Atlantis ein deutlicher Paradigmenwechsel. Nicht nur äußerlich, indem die Grafik etwas vom Klassischen wegrückte und ästhetisch anspruchsvoller wurde, sondern auch inhalt-lich, indem die Zeitschrift verstärkt auf den Menschen fokussierte und nicht mehr allein die schön-pittoresken Seiten des Lebens und von Landschaften beleuchtete. Es sei nicht Ziel, ein geschöntes Bild der Welt zu entwerfen und das Leid auszusparen, so Hürlimann im Vorwort von 1945 und fügte an, „wir wollen nicht das Wahnbild einer lieblichen Atlantis-Welt an die Stelle der harten Wirklichkeit hinzaubern“.193 Das Leid der Menschen, die Kriege und Zerstörung sollten aber auch nicht als Sensation kom-merziell ausgeschlachtet werden.

In der Doppelnummer wollte die Zeitschrift jene Länder und Gesellschaften ins Zentrum rücken, die vom Scheinwerferlicht der tagesaktuellen Berichterstattung nicht erfasst wurden. In diesen Heften stünden nicht Landschaftseindrücke und prächtige Monumente im Vordergrund, sondern der Mensch, „wie er liebt und stirbt, wie er schafft und feiert, wie er die Ehrfurcht vor dem Mensch-Sein erzeugt und so das Heilmittel gegen seine Verblendungen in sich trägt.“194 Der Einleitungstext von Max Frisch, der auch im Atlantis Verlag publizierte, unterstrich das Mensch-Sein als Verbindungsglied verschiedener Lebenskreise und Kulturen. Dies bedeute nicht, dass Bevölkerungen ihre Eigenheiten aufgeben müssten, doch betonte Frisch das

völker-192 Martin Hürlimann, Zum Sonderheft von Atlantis, in: Atlantis, H. 11/12, 1943, S. 511.

193 Martin Hürlimann, „Die andere Welt“. Vorwort des Herausgebers, in: Atlantis, H. 1, 1945, S. 1.

194 Ebd.

verbindende Moment, „dass eine Heimatlichkeit rings um die Erde geht, eine, die man nirgends hat, wenn man sie nicht überall hat, die nicht darauf gründet, wo man geboren worden ist, sondern darauf, dass man ein Mensch sei“.195 Die schlimmen Er-eignisse in der Tagespresse würden dazu verleiten, zu glauben, dass dies die einzige Welt sei, doch gebe es dahinter das Menschliche, das fortdauere und in gewisser Weise unveränderbar sei. Dem Artikel folgte eine Illustration einer Weltkugel hinter einem Olivenzweig, als Friedenssymbol. Die Kombination von Text und Illustration vermit-telte eine pazifistische Botschaft.196

Die Sondernummer zeigte Bilder von England, Spanien, Bulgarien bis nach In-dien und verband sie mit Sprichwörtern aus verschiedenen Kulturkreisen zu den Themen Familie, Liebe, Armut – Reichtum, Glück und Unglück als „Urphänomene des Menschenlebens“. Sie propagierte Humanität und völkerverbindende Gedanken 195 Max Frisch, Die andere Welt, in: Atlantis, H. 1, 1945, S. 2–4, hier S. 3.

196 Auch in der Folge erschienen pazifistisch motivierte Texte kombiniert mit Fotografien des Alltags:

Hans Baumgartner (Foto), Ein Bild des Friedens, in: Atlantis, H. 6, 1945, S. 257; Paul Gerhardt, Ein deutsches Lied auf den Frieden. Gedichtet von Paul Gerhardt anlässlich der Beendigung des Dreissigjährigen Krieges, in: Atlantis, H. 6, 1945, S. 258.

Abb. 32 Martin Hürlimann, Stimmen der Völker im Sprichwort, in: Atlantis, H. 1, 1945, S. 76−77.

(Abb. 32).197 Damit nahm Atlantis eine Entwicklung im Umgang mit Fotografie in der Nachkriegszeit vorweg, die schließlich in der Ausstellung „The Family of Man“

von Edward Steichen, die 1955 im Museum of Modern Art in New York zu sehen war, programmatisch zum Ausdruck kam. Die Ausstellung, die in über 30 Ländern zu sehen war, formulierte ihr Konzept ebenfalls um zentrale menschliche Themen, wie sie bereits in Atlantis aufgenommen worden waren. Wie Anton Holzer und Matthias Christen aufzeigen, bespielte sie das „Ideal der angeblich einfachen, von keiner Ideo-logie und keinen politischen Differenzen beeinträchtigen ‚Menschenfamilie‘“, wobei der Großteil der Aufnahmen von amerikanischen Fotografen stammte und die Aus-stellung damit eine weitgehend westliche Sicht auf die Welt wiedergab.198

197 Martin Hürlimann, Stimmen der Völker im Sprichwort, in: Atlantis, H. 1, 1945, S. 13.

198 Matthias Christen/Anton Holzer, Mythos Magnum. Die Geschichte einer legendären Fotoagen-tur, in: Mittelweg 36 (2007), S. 53–80, hier S. 67; vgl. auch: Olivier Lugon, Die globalisierte Aus-stellung: The Family of Man, 1955, in: Fotogeschichte 112 (2009), S. 65–72.

Abb. 33 Martin Hürlimann (Foto), „An einem der Strandseen der Malabarküste“, in: Atlantis,

H. 6, 1945, Titelseite. Abb. 34 „London in Krieg und Frieden“, in: At-lantis, H. 7, 1945, Titelseite.

Neben dem Propagieren einer Weltgemeinschaft spricht die Verwendung einer be-reits aus dem ersten Kapitel bekannten Aufnahme dafür, dass sich in der Darstellung nicht-europäischer Kulturen dennoch etwas veränderte: Während der junge Lama im Bildband Hürlimanns 1928 keine Armbanduhr trug, wurde die Aufnahme in der Atlantis-Sondernummer nun ohne Retusche veröffentlicht. Die Bildlegende lenkte so-gar die Aufmerksamkeit auf den Zeitmesser; „die eine Hand hat er an einer der zahl-reichen Gebetsmühlen [...]; am andern Arm trägt der aufgeweckte junge Herr eine Schweizer Uhr“.199 Modernität, Religion und Tradition schienen rund 17 Jahre nach Erscheinen von Hürlimanns Bildband gemeinsam darstellbare Bildelemente zu sein.

Neben diesen Veränderungen bei der Repräsentation nicht-europäischer Gebiete behielten diese indes insbesondere in Verbindung mit neuartigen Bildern aus Europa ähnliche Funktionen wie bereits während des Zweiten Weltkriegs. Auf ein Heft von 1945 mit einer mehrseitigen Bildstrecke, die ein naturnahes Leben an der südlich ge-legenen Malabarküste zeigte, folgten in der nächsten Nummer Bilder des kriegszer-störten London (Abb. 33, Abb. 34).200 Auch in anderen Nummern veränderte sich mit dem Kriegsende der bisher prägende kriegsferne Imaginationsraum von Atlantis.

Hürlimann zielte darauf ab, der unversehrt gebliebenen Schweiz Bilder des kriegszer-störten Europas zu zeigen.201 Mehrere Serien stellten anhand von Warschau, Marseille, Frankfurt am Main und London in Vorher-Nachher-Gegenüberstellungen die ein-schneidenden Auswirkungen des Krieges auf das städtische Leben dar.202 Anstelle der zuvor in Atlantis abgebildeten architektonischen Leistungen sah man nun zerbombte Kulturbauten.

Außereuropäische Gebiete wirkten weiterhin wie eine statisch unverändert ge-bliebene Welt. Während Europa als zerstört erschien, vermittelten nicht-europäische Kulturen Bilder einer intakten Gegenwelt und vom Einschnitt des Weltkriegs weitge-hend unberührt, obwohl viele Gebiete als Kolonien in den Krieg involviert und stark in Mitleidenschaft gezogen worden waren.203 Teile Südamerikas, Afrika, China oder 199 Atlantis, H. 1, 1945, S. 83.

200 Martin Hürlimann (Fotos/Text), Die Malabarküste, in: Atlantis, H. 6, 1945, S. 281–196; Sonder-heft. London in Krieg und Frieden, in: Atlantis, H. 7, 1945, S. III.

201 Hürlimann, Zeitgenosse, S. 215.

202 Sonderheft. London in Krieg und Frieden, in: Atlantis, H. 7, 1945; o. A., Goethes Geburtsstadt im Krieg. Bilder aus Frankfurt am Main, in: Atlantis, H. 5, 1945, S. 225–240; Dr. P. Wolff (Fotos) et al., Bilder aus Warschau vor und während des Krieges, in: Atlantis, H. 4, 1945, S. 177–184; Martin Hürlimann, Das veränderte Bild von Marseille, in: Atlantis, H. 11, 1946, S. 494–500; ders., Berlin.

Ein Bilderbogen aus der Nachkriegszeit, in: Atlantis, H. 3, 1948, S. 81–95.

203 Rheinisches JournalistInnenbüro (Hg.), Einleitung. Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg. Zur Auseinandersetzung mit einem verschwiegenen Thema, in: „Unsere Opfer zählen nicht“. Die Dritte Welt im Zweiten Weltkrieg, Berlin 20092, S. 13–24, hier S. 13.

Südasien waren nicht nur Kriegsschauplätze, sondern ihre Bevölkerung auch in gro-ßer Anzahl Kriegsdienstleistende, die millionenfach zu Opfern des Krieges wurden;

außerdem hinterließ dieser auch in den Kolonien tiefgreifende Verwüstungen. Die Darstellung des Leids beschränkte sich dennoch auf Europa. Eindrückliche Ikonen des Leides fanden ihren Weg in das Blatt. Das Kind wurde zum leidtragenden Symbol der Opfer des unmenschlichen Krieges. Ende des Jahres 1944 erschien eine Bildserie, die in die Schweiz geflüchtete Kinder porträtierte.204 Besonders hervorzuheben sind in Atlantis die Bildstrecken von Leonard McCombe und Bill Richardson, zweier Kriegs-korrespondenten, die 1946 die Schrecken des Krieges eindrücklich visualisierten.205 Nach Ende des Krieges sollten bewegende Fotografien die Kriegsfolgen in Erinnerung halten und ins Bewusstsein rücken, dass für viele Menschen noch längst nicht Frieden eingekehrt war. Atlantis nehme die zweite „Friedensweihnacht“ zum Anlass, sich „in Ehrerbietung vor dem Leid zu verneigen“.206

Die thematischen und visuellen Veränderungen im Atlantis-Universum ergaben sich erst gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Es scheint, als sei es mit Ende des Krie-ges nicht mehr möglich gewesen, die schönen Seiten der Welt allein stehen zu lassen, ohne sich der humanitären Katastrophe zu erinnern. Dies kommt auch in der pro-grammatischen Äußerung auf der Umschlagseite von 1948 zum Ausdruck: Atlantis trage seine Leser weiterhin über die Ozeane in entlegene Gebiete und führe sie sowohl in Großstädte Europas als auch in ländliche Gemeinden. Aber sie zeige eben auch

„im Bild die Not der Gegenwart“ und schaue gleichzeitig zurück auf die „schönere Vergangenheit der Völker“.207 1949 widmete sich das Weihnachtsheft dem Thema Ar-mut.208 Das muss nicht bedeuten, dass die Leserschaft die Bildserien über Krieg und Zerstörung immer schätzte. In der Einleitung zum Sonderheft zu London bemerkte Hürlimann, dass einige Leser fänden, die Zeitschrift habe bereits genug Bilder zerstör-ter Städte publiziert.209

204 Theo Frey (Fotos)/Hans Peter Kaiser (Text), Kleine Gäste der Schweiz, in: Atlantis, H. 12, 1944, S. 613–620, vgl. auch: o. A. (Text)/[Diverse Fotografen], Rot-Kreuz-Kinder. Aus der Arbeit des Schweizerischen Roten Kreuzes für die Kinder Europas, in: Atlantis, Jg. XIX, 1947, S. 171–186;

o. A. (Text), Kinder-Schicksale, in: ebd., S. 187–189.

205 Leonard McCombe (Fotos)/Bill Richardson (Text), Polen – Frühjahr 1946, in: Atlantis, H.  7, 1946, S. 289–303; Bettina Hürlimann (Text), Ein Bild wird Leben, zu einer Photo von McCombe, in: Atlantis, H. 7, 1946, S. 304–306.

206 Leonard McCombe (Fotos), Menschen zwischen Krieg und Frieden, in: Atlantis, H. 12, 1946, S. 501–516, hier S. 501.

207 Anzeige Atlantis Verlag, in: Atlantis, 1948, S. XXXVIII.

208 Atlantis, H. 12, 1949.

209 Sonderheft. London in Krieg und Frieden, in: Atlantis, H. 7, 1945, S. III.

Der in Atlantis sichtbare Umbruch machte sich auch bei anderen literarischen Zeitschriften des deutschsprachigen Raums zu dieser Zeit bemerkbar, wie Bernhard Fischer und Thomas Dietzel gezeigt haben.210 Die menschliche Katastrophe und die fundamentale Erschütterung der Vorstellung eines moralisch integren Europas erforderte eine neue Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur. Viele literarische Zeitschriften beschritten einen ähnlichen Weg wie Atlantis. Sie versuchten Kultur, Bildung und Humanität hochleben zu lassen und damit der erfahrenen Kulturlosig-keit neue Werte entgegenzusetzen und Deutschland die Rückkehr „in den Kreis der zivilisierten Völker“ zu ermöglichen.211 Im Gegensatz zu Zeitschriften in Deutsch-land nahm Atlantis politisch nicht Stellung zu Fragen der Kriegsverbrechen und zu Kontinuitäten im Nachkriegsdeutschland. Deutlich wird ferner die Anstrengung von Atlantis, in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre wieder Alltag einkehren zu lassen und eine Rückkehr zur Normalität und zum Frieden einzuläuten. Bildserien aus England, der Sowjetunion oder den USA zeigten anhand kleinerer Ortschaften das alltägliche Leben jenseits der Sensation. Hürlimann selbst richtete sein Objektiv auf eine Brief-markenbörse in Amsterdam.212 Das Urbane und insbesondere die USA gewannen an Attraktivität. Die Anzahl der Berichte über die USA, die während des Krieges auf ein gutes Dutzend gefallen war, stieg wieder an.213

Lokalen Beiträgen standen wiederum global angelegte Narrative gegenüber. Das Reisen veränderte sich nach dem Zweiten Weltkrieg durch eine Phase des Wohl-stands, die sich auch auf die Entwicklung des Tourismus auswirkte.214 Eine kommerzi-alisierte Flugfahrt erschloss und beschleunigte den Weg in neue Weltgegenden. Damit veränderte sich auch der Zeitschriftenmarkt. Mit dem 1948 gegründeten Reisemaga-zin Merian erhielt Atlantis neue Konkurrenz.215 Insgesamt stieg die Anzahl Berichte über außereuropäische Gebiete in Atlantis nach Kriegsende wieder an. Weiterhin war Asien bei der Anzahl Beiträge dabei an oberster Stelle. Aus China berichtete mehrfach die Ostasienkennerin und Journalistin Lily Abegg und Ella Maillart lieferte Bilder aus

210 Bernhard Fischer/Thomas Dietzel (Hg.), Deutsche Literarische Zeitschriften 1945–1970, Bd. 1, München et al. 1992, S. 9.

211 Ebd., S. 10.

212 Martin Hürlimann (Fotos/Text), Briefmarkenbörse in Amsterdam, in: Atlantis, 1950, Jg. XXII, S. 132–133.

213 Vgl. u.a.: Paul Senn (Fotos), In den Strassen Amerikas, in: Atlantis, Jg. XX, 1948, S. 289–296.

214 Vgl. dazu insbesondere Abschnitt 5 zum Aufschwung: Laurent Tissot, Art. „Tourismus“, in: His-torisches Lexikon der Schweiz, 18.  12.  2013, http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D14070.php, Stand: 03. 01. 2018.

215 Fischer/Dietzel, Zeitschriften, S. 11.

Indien.216 Populärethnografische Berichte blieben in der Zeitschrift weiterhin präsent, etwa vom Schweizer René Gardi stammend.217 Gardi porträtierte afrikanische Be-völkerungsgruppen als zwar vormoderne, aber idyllische Gesellschaften. Personelle Kontinuitäten sorgten bei der Darstellung nicht-europäischer Gebiete für visuelle Stetigkeit, etwa durch Beiträge von Hugo Adolf Bernatzik, Fritz Henle und Arnold Heim.218 Auch diese Berichte gingen wie jene aus den 1930er Jahren von einem Mo-dell verschiedener Kulturstufen aus. Darüber hinaus kamen in Beiträgen neu auch zeitkritische Stimmen zum Zuge, die ein weniger eindimensionales Bild anderer Kul-turen zeichneten. In Artikeln über die Natives der USA oder Australien wurden ak-tuelle Probleme von Randgruppen thematisiert.219 Eine Reportage von Leonard Mc-Combe über die „Navaho“ veranschaulichte das Leben in einer Reservation, beschrieb den problematischen Anpassungsprozess und die schwierige Lebensgrundlage in den Reservaten.220 Nicht mehr allein das vermeintlich „Ursprüngliche“ von Bevölkerun-gen, sondern auch aktuelle Lebensformen und Mischformen von traditionellen und neuen Elementen gelangten ins Bild und Neuerungen wurden nicht mehr per se aus dem Bild verbannt.221 So ergaben sich zum Teil komplexere Bilder außereuropäischer Gesellschaften, als dies in den Jahren nach der Gründung der Zeitschrift der Fall ge-wesen war, auch wenn Bilder von Hochkulturen und Monumentalarchitekturen wei-terhin ein wichtiges Standbein von Atlantis blieben. 1951 wählte Atlantis erstmals eine neue Form der Vermittlung außereuropäischer Kulturen. Japanische Fotografinnen und Fotografen porträtierten in einer Bildserie ihr eigenes Land.222 Der Blick von au-ßen wurde also um die Binnenperspektive ergänzt.

216 Vgl. Lily Abegg, Neuer Staat in altem Land. Reisen in Pakistan, in: Atlantis, H. 8, 1951, S. 325–

344; Ella Maillart (Fotos/Text), Der Schlangenkult in Indien, in: Atlantis, H. 11, 1956, S. 511–518.

217 Mit der Arbeit Gardis beschäftigt sich die Dissertation von Felix Rauh „Bewegte Bilder für eine entwickelte Welt. Die Dokumentarfilme von René Gardi, Ulrich Schweizer und Peter von Gunten in der Schweizer Entwicklungsdebatte, 1959–1986“, Zürich 2018.

218 Hugo Adolf Bernatzik, Freundschaft mit Urwaldzwergen in Siam, in: Atlantis, 1948, S. 66–71;

Fritz Henle, Ferien auf der Ranch in Wyoming, in: Atlantis, 1947, S. 283–290; Arnold Heim, Die Schweizerische Virunga-Expedition in Zentralafrika, in: Atlantis, H. 7, 1955, S. 289–290.

219 Robert King, Die Zukunft der Australischen Eingeborenen, in: Atlantis, Jg. XXII, 1950, S. 137–

220 Leonard McCombe (Fotos), Bei den Navaho-Indianern im Jahre 1948, in: Atlantis, H. 1, 1949, 143.

S. 1–16.

221 H. Leuenberger (Fotos/Text), Wege und Abwege der Zivilisation in Asien, in: Atlantis, H. 5, 1946, S. 217–224.

222 Japaner fotografieren ihr Land, in: Atlantis, H. 1, 1951, S. 47.

1960 verzeichnete die Zeitschrift in der Schweiz und in Deutschland immer noch eine durchaus beachtliche Auflage von 23.000 Exemplaren.223 Im Vergleich dazu be-saß die Zeitschrift Du im gleichen Jahr eine Auflage von rund 30.000 Exemplaren.

Charles Hummel übernahm die Redaktion und Hürlimann blieb in beratender Funk-tion tätig.224 Atlantis erhielt ein größeres Format und modernes Layout. Wiederum konnten bekannte Fotografen wie Jakob Tuggener, Dolf Schnebeli, aber auch inter-nationale Größen wie Peter Anderson und Robert Capa verpflichtet werden.225 Die Neugestaltung bedeutete gemäß Hürlimann Mehrkosten und er war in der Folge nicht mehr in der Lage, die Zeitschrift auf eigene Kosten zu edieren. 1964 fusionierte At-lantis mit Du, der renommierten Kulturzeitschrift des Verlagshauses Conzett & Hu-ber. Die kulturelle Monatsschrift Du war 1941 von Arnold Kübler gegründet worden, der zuvor die Zürcher Illustrierte modernisiert hatte. Als Atlantis sich Du anschloss, stand letztere unter der Redaktion von Manuel Gasser und Willy Rotzler, zu denen nun Martin Hürlimann hinzutrat. Die Ankündigung im ersten gemeinsamen Heft be-gründete die Fusion mit den inhaltlichen Überschneidungen der beiden Zeitschriften und der Suche Hürlimanns nach einem Partner.226 Bis Ende des Jahres 1966 existierte die Doppelbezeichnung weiter. Nach dem Verschwinden von Atlantis aus dem Titel der Zeitschrift blieb Hürlimann noch bis Mai des folgenden Jahres in der Redaktion des Du. Du, die urbaner und moderner daherkam, gehört bis heute zu einer der re-nommiertesten Kulturzeitschriften im deutschsprachigen Raum.

Zwischenfazit

In der Zwischenkriegszeit stand die Zeitschrift Atlantis im Zeichen des Selbstver-ständnisses ihres Herausgebers Martin Hürlimann, der sich zu einem deutschsprachi-gen Weltbürgertum zählte. Texte und Fotografien imaginierten, ein kulturell gebilde-tes und interessiergebilde-tes Zielpublikum ansprechend, Weltoffenheit, bei der „Nahes und Fernes, Fremde und Heimat, zu einem Bild“ verschmelze, wie es in der ersten Ausgabe

223 Auflage von Atlantis: 1941: 46.000; 1955: D+CH 20.500; 1960: CH: 9500, D: 13.500. Im Vergleich dazu die Zeitschrift Du: 1943: 16.000; 1950: 26.000; 1955: 26.500; 1960: 29.877. Zusammenstel-lung gemäß: Zeitungskatalog der Schweiz, Zürich 1939–1967.

224 Hürlimann, Zeitgenosse, S. 217.

225 Jakob Tuggener (Fotos), Menschen in Rom, in: Atlantis, H. 3, 1961, S. 135–142; John Steinbeck (Text)/Robert Capa (Fotos), Aus meinem georgischen Tagebuch, in: Atlantis, H. 10, 1961, S. 513–

226 An unsere Leser!, in: du – atlantis, H. 7, 1964.522.

hieß.227 Mit ihrem globalen Anspruch versprach Atlantis, im Bild sichtbar zu machen, was die Welt an vielfältigen Erscheinungen bot. Dieses Sichtbarmachen bedeutete, dass das Nebeneinander von Nicht-Europäischem und Europäischem der Inszenie-rung von globaler Diversität und Gemeinsamkeit zugleich diente. Nicht-europäische Bevölkerungen wurden in eine „Zivilisationsleiter“ eingestuft, wobei die mit europä-ischem Maßstab gemessene Distanz zur „Zivilisation“ mit modernekriteuropä-ischem Im-petus in der Regel positiv bewertet wurde. Die Repräsentationen von nicht-europäi-schen Kulturen basierten zugleich auf rassistinicht-europäi-schen Zuschreibungen, die Eigenheiten von Bevölkerungen auf ihre ethnische Zugehörigkeit reduzierten.

Was Atlantis von den großen bürgerlichen Massenillustrierten unterschied, war, dass sie auch Autorinnen und Autoren nicht-europäischer Gebiete durch Übersetzun-gen in die deutsche Sprache der Leserin und dem Leser zugänglich machte.

In den 1930er Jahren verstärkte sich die Verwendung sogenannter „Heimatfo-tografien“ von Erich Retzlaff und Erna Lendvai-Dircksen, die in der Porträtierung deutscher oder nordisch-europäischer Bevölkerungen als Archetypen prädestiniert waren für die propagandistische Indienstnahme durch den Nationalsozialismus. In der Schweizer Ausgabe wurden Beiträge wichtiger, welche die „Geistige Landesver-teidigung“ propagierten. Trotz dieses Fokuswechsels behielt Atlantis ihren Blick über die eigenen Landesgrenzen hinaus in der Schweizer Ausgabe und auch in der deut-schen Version unter der Herrschaft der Nationalsozialisten bei. Während des Zweiten Weltkrieges ist die Verwendung von Fotografien aus nicht-europäischen Gebieten ambivalent einzuschätzen. Einerseits dienten sie der Imagination eines vermeintlich unideologischen, unpolitischen und kriegsfernen Bildes der Welt und andererseits als eskapistisches Angebot, dem europäischen Alltag zu entfliehen. Die Artikel ver-mittelten einen Relativismus des Geltungs- und Herrschaftsanspruchs einer einzigen Kultur, der vom NS-Regime propagiert wurde. Andererseits kann diese propagandis-tische Funktion auch anders gedeutet werden: Die Bilder suggerierten „Weltoffenheit“

in einem ideologisch höchst aufgeladenen System und brachten Fotografien aus der Ferne zu einem Zeitpunkt nach Deutschland, als die Reisefreiheiten und möglichkei-ten massiv eingeschränkt waren.

Gegen Ende des Krieges gestaltete sich das Verhältnis zwischen Repräsentationen Europas und Nicht-Europas neu. Nun zeigte Atlantis Bilder eines kriegszerstörten Eu-ropas, die zuvor eine auffällige visuelle Lücke dargestellt hatten. Nicht-Europa war erneut Imaginationsort eines kriegsunversehrten und idyllisch-ästhetischen Raums;

dabei wurde außer Acht gelassen, dass viele außereuropäische Gebiete in den Zweiten Weltkrieg involviert und enorm in Mitleidenschaft gezogen worden waren.

227 Atlantis, H. 1, 1929.

Während in diesem Kapitel nach den Produktionsbedingungen einer Kultur- und Reisezeitschrift im gehobenen Anspruchs- und Preissegment und nach den sich wan-delnden Funktionen von Bildern nicht-europäischer Kulturen gefragt wurde, wid-met sich das folgende Kapitel den Motiven, die in der illustrierten Massenpresse der Schweiz und Deutschlands populär waren.

1920 UND 1945

Wohl kaum ein Land der Erde vermag unsere Aufmerksamkeit dauernd so zu fesseln wie das alte Wunderland Indien. […] Jedem hat Indien etwas zu geben, das ihn im Innersten seiner Seele gefangen nimmt. Und darum ist es nicht zu verwundern, wenn der Leser immer wieder mit Vorliebe nach dem greift, was ihm vom alten Zauberland

Wohl kaum ein Land der Erde vermag unsere Aufmerksamkeit dauernd so zu fesseln wie das alte Wunderland Indien. […] Jedem hat Indien etwas zu geben, das ihn im Innersten seiner Seele gefangen nimmt. Und darum ist es nicht zu verwundern, wenn der Leser immer wieder mit Vorliebe nach dem greift, was ihm vom alten Zauberland