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Gebaute Kultur und Kulturlandschaften

Mehr als die Hälfte der Aufnahmen im Buch präsentierten architektonische Struktu-ren. In der Geschichte der Fotografie zählt die Architektur zu einem ihrer beliebtesten Sujets. Monika Melters hat treffenderweise das beinahe symbiotische Verhältnis von

108 John Urry/Jonas Larsen, The Tourist Gaze 3.0, Los Angeles 2011, S. 169.

109 Hall, Spektakel, S. 144.

110 Hürlimann, Indien, S. XXV.

Architektur und Fotografie als „Versuchungen des Realismus“ gedeutet. Architektur-fotografien konnten dabei sowohl als „gesellschaftliches Identifikationsobjekt“ und in einem romantisierenden Verständnis als eine „pittoreske Verkoppelung von histori-schem Bauwerk und der Naturerfahrung der Landschaft“ dienen.111

In seinem Aufsatz „The World as Exhibition“ beschreibt Timothy Mitchell den Vor-gang, dass das „Andere“ von Europäern zu einem Objekt gemacht wurde – er nennt es „objectness“ –, als konstitutive Praxis des modernen Europas.112 Die Konzentration auf Objekte und der Mechanismus, Dinge und Menschen als Objekte zu arrangieren und auszustellen, finden sich im Bildband konzentriert wieder. Hürlimann interes-sierte sich insbesondere für materialiinteres-sierte Kultur wie architektonische Strukturen.

Rund ein Drittel der dargestellten Bauten stammen aus religiösem Kontext, rund 20 Prozent zeigten kriegerische Festungen, Stadtbefestigungen, Fürstenpaläste und Grabmäler (Abb. 7). Mit der Repräsentation von architektonischen Bauten als pri-märe Sehenswürdigkeiten eines Gebiets waren die Orbis-Terrarum-Bände Teil eines Popularitätsschubs von Buchpublikationen über das Bauen, die sich an eine breitere Öffentlichkeit richteten, wie der Architekturtheoretiker Albert Sigrist 1930 feststell-te.113

In der Art der Darstellung lassen sich Verbindungen zu kolonialen Repräsentatio-nen, zeitgenössischen kunsthistorisch-wissenschaftlichen Methoden der Architektur-fotografie und zu touristischen Darstellungsweisen erkennen. Das Britische Empire machte die visuelle Inventarisierung und Systematisierung zu einer zentralen Praxis der Machtkonstitution, die nicht nur Menschen umfasste, sondern auch die gebaute Kultur.114 Die erste systematische Geschichte indischer Architektur war die „History of Indian and Eastern Architecture“ von 1876 und stammte vom schottischen Indigo-Pflanzer James Fergusson (1808–1886). Das Werk avancierte bald zu einem Stan-dardwerk südasiatischer Architektur.115 Fergusson systematisierte architektonische Strukturen anhand religiöser Zuschreibungen in „hinduistisch“, „buddhistisch“, „jai-nistisch“ oder „muslimisch“, die auch Hürlimanns Bildband als Referenzsystem dien-ten. Wie Monica Juneja aufzeigt, war die Einteilung in wenige religiöse Einheiten zu 111 Monika Melters, Die Versuchungen des Realismus, in: Fotogeschichte 132 (2014), S. 5–14, hier

S. 6–7.

112 Mitchell, World, S. 219.

113 Albert Sigrist, Das Buch vom Bauen. Wohnungsnot, neue Technik, neue Baukunst, Städtebau, Berlin 1930, S. 11.

114 Vikramaditya Prakash vergleicht die Architekturfotografie des südasiatischen Prinzen Sawai Ram Singh und des Briten James Fergusson: Vikramaditya Prakash, Between Objectivity and Illusion.

Architectural Photography in the Colonial Frame, in: Journal of Architectural Education 55/1 (2001), S. 13–20.

115 James Fergusson, History of Indian and Eastern Architecture, London 1876.

vereinfachend und diente dem Britischen Empire dazu, die Vielfältigkeit für europäi-sche Verhältnisse fassbar zu machen.116 Fergusson ebnete regionale und kulturelle Ei-genheiten ein. Die kolonialistisch geprägte Wahrnehmung der indischen Gesellschaft übertrug er damit auf architektonische Strukturen. Er produzierte ein Narrativ über die indische Gesellschaft, das europäische Wahrnehmungen sozialer Strukturen über Bauten lesbar machte. Der Architekturhistoriker Vikramāditya Prakash beschreibt

116 Vgl. Monica Juneja, Welche Vergangenheit für die Zukunft? Delhi und seine Baudenkmäler, in:

Ravi Ahuja/Christiane Brosius (Hg.), Mumbai – Delhi – Kolkata. Annäherungen an die Me-gastädte Indiens, Heidelberg 2006, S. 209–224, hier S. 212.

Abb. 7 Martin Hürlimann, Indien: Baukunst, Landschaft und Volksleben, Zürich 1928, S. 92−93.

diesen Prozess als einen epistemischen Gewaltakt der Homogenisierung.117 Treffend bezeichnet Prakash die kolonialistisch geprägte Sichtweise als „eye-/I-centric“, d.h.

einerseits als eine auf das Visuelle, andererseits als eine auf die eigenen Vorstellun-gen ausgerichtete Darstellungsweise. Vergleicht man die Stiche in Fergussons Archi-tekturabhandlung, die zu einem großen Teil nach der Vorlage von Fotografien ent-standen sind, mit den Architekturaufnahmen Hürlimanns, so gleichen sie sich in der Wahl des Standpunkts und der Art der Inszenierung. Das Objekt ist meist zentriert und frontal etwa auf Augenhöhe aufgenommen. Auch die Inszenierung architekto-nischer Strukturen mit Personen, die sich in den Bildraum einfügen, verbinden die beiden Bildserien. Die Darstellungskonventionen Hürlimanns und Fergussons wiesen folglich deutliche Parallelen auf. Der Vergleich zeigt aber auch, dass zwischen dem Erscheinen der beiden Bücher architektonische Strukturen durch Restaurierungen wiederhergestellt worden waren.

Hürlimann maß Bauten und Landschaften in einer Kultur große Bedeutung zu, es seien Strukturen, die dem Lauf der Zeit entrinnen könnten.118 Stets hätte ihn das, 117 Prakash, Objectivity, S. 17–18.

118 Hürlimann, Erdkreis, S. XXX.

Abb. 8 Martin Hürlimann, Indien: Baukunst, Landschaft und Volksleben, Zürich 1928, S. 172−173.

was „durch Menschenhände in den glücklichsten Stunden einer Kultur geschaffen wurde, am meisten angezogen: das Bauen in die Ewigkeit hinein, die menschliche Formkraft in Erz und Marmor“.119 Bauten sei „eine konservative Autorität“ gemein, die „für modische Sprünge wenig Raum“ lasse. Er legte Wert darauf, einen Bau in seiner Gesamtheit darzustellen. Aufnahmen aus der Nähe, die durch eine nach oben gerichtete Kamera zum Zusammenlaufen der Linien führte, würden zwar große „pro-pagandistische Wirkung“ entfalten, seien aber letztlich romantisierend.120 Hürlimann stützte sich dabei auf Richtlinien zeitgenössischer kunsthistorischer Abhandlungen zur Architekturfotografie. Aus kunsthistorischer Sicht galten Aufnahmen als gelungen, die das Objekt in seiner Gesamtheit und Integrität repräsentierten.121 Als bester Standpunkt des Fotografen galt, sich frontal zum Objekt aufzustellen und die Kamera auf Augenhöhe zu positionieren, um dem Blickpunkt des Betrachters zu ent-sprechen. Hürlimanns Aufnahmen fokussierten meist auf die Abbildung von Sym-metrien und vermitteln die Perfektion der Bauweise.122 Für eine pittoreske Wirkung von Aufnahmen benutzte er mit Vorliebe architektonische Bogenkonstruktionen, um Szenerien und Landschaften zu inszenieren und zu umrahmen (Abb. 8).123

Hürlimann präferierte die monumentale Architektur. Bauherren dieser zu Stein gewordenen Machtdemonstrationen waren zumeist lokale Herrscher oder Religions-stifter, denen er damit Kulturwirksamkeit attestierte. Die Größe und Mächtigkeit der Bauten steigerte Hürlimann, indem er einzelne Personen im architektonischen En-semble platzierte (Abb. 9). Wie ein menschliches Maßband ermöglichten diese Vor-stellungen räumlicher Größenverhältnisse und wirkten wie Authentizitätszeugen. Sie blickten in die Kamera und verwiesen damit einerseits auf die Präsenz des Fotografen, stellten aber zugleich eine Verbindung zum Betrachter und zur Betrachterin her. Bis auf diese einzelnen Figuren wirken die architektonischen Ensembles jedoch seltsam unbelebt. Während in der Einleitung die Lebendigkeit des religiösen Lebens in und rund um die Tempel beschrieben wird, verschwindet diese im visuellen Narrativ häu-fig zugunsten einer möglichst „ungestörten“ architektonischen Aufnahme.

Die Opulenz religiöser Bauten inszenierte Hürlimann visuell insbesondere anhand von Tempeln im südlichen Subkontinent mit ihrer Skulpturenvielfalt (Abb. 10). Der

119 Schöppe, Hürlimann, S. 74–78.

120 Ebd., S. 74.

121 Bernhard v. Tieschowitz, Die Photographie im Dienste der kunstgeschichtlichen Forschung, in:

Festschrift Richard Hamann zum sechzigsten Geburtstage 29. Mai 1939, Burg 1939, S. 151–162, hier S. 157.

122 Hürlimann, Indien, S. 173, 184, 185, 187.

123 Ebd., S. 7, 26, 173.

Anblick dieser Bauten sei beglückend, erschreckend und beängstigend zugleich.124 Trotz dieser Abgrenzung scheint es, dass es Hürlimann im architektonischen Bereich leichter fiel, zwischen der eigenen und der erfahrenen Kultur Verbindungen her-zustellen als auf sozialer Ebene. Als Schwierigkeit empfand Hürlimann neben den klimatischen Bedingungen, die ihn und das fotografische Material beanspruchten, weitere Grenzen, auf die er während seiner Reise stieß. Einerseits stellte er Grenzen des eigenen Verständnisses, aber auch durch die lokale Bevölkerung gesetzte Grenzen fest. Als Europäer – die als unrein gegolten hätten – sei ihm mehrfach der Zugang zum Innern der Tempel versagt geblieben. Hürlimann verstand dabei nicht, dass ihm im Gegensatz zu Kühen der Eintritt verwehrt wurde.125 Deshalb konnte er viele religi-öse Bauten lediglich von außen betrachten und fotografieren.

Hürlimanns Unverständnis knüpfte sich auch insbesondere an die gesellschaftliche Ebene: „Und das Herz atmet etwas auf von dem beklemmenden Gefühl, dass Mensch

124 Hürlimann, Indien-Reise, S. 14.

125 In seiner Reiseschilderung berichtet Hürlimann immer wieder darüber, wie ihm der Zutritt zu Tempeln versagt wird: Hürlimann, Indien-Reise, S. 12, 16, 28, 97.

Abb. 9 Martin Hürlimann, Indien: Baukunst, Landschaft und Volksleben, Zürich 1928, S. 110−111.

nicht Mensch sei, dass es Klüfte gebe, über die keine Brücke der Liebe führt.“126 Wie die meisten anderen zeitgenössischen Bildjournalisten machte er die unüberwindli-che Differenzerfahrung in Indien primär am „Kastensystem“ fest. Hürlimann betrach-tete das sogenannte „Kastenwesen“ als unerbittlich, gerade durch die als unmensch-lich empfundene Diskriminierung der sogenannten „Parias“. Er empfand das soziale System des Hinduismus im Gegensatz zu jenen des Islams und des Christentums als undemokratisch.127 Reflexionen darüber, dass das „Kastensystem“ durch koloniale Systematisierungsvorstellungen propagiert und verfestigt worden war, stellte er keine an, sondern betrachtete das „Kastensystem“ geradezu als etwas „Urindisches“.128 Auf die Rezeption des „Kastensystems“ in illustrierten Zeitschriften wird im dritten Kapi-tel näher eingegangen.

Hürlimanns Buch wies enge Verbindungen zum touristischen Blick auf. Ein Ver-gleich der fotografierten historischen Stätten mit zeitgenössischen Reiseführern zeigt, dass die Wahl der repräsentierten Orte größtenteils übereinstimmte. Von jenen Bau-126 Ebd., S. 85.

127 Hürlimann, Indien, S. XVIII.

128 Der ab 1871 vom Britischen Empire durchgeführte Bevölkerungszensus legte mit vermeintlicher statistischer Exaktheit Zugehörigkeiten zu benennbaren „Kasten“ und statuierten „Rassen“ fest:

David Arnold, Südasien, Frankfurt a. M. 2012, S. 378, 437.

Abb. 10 Martin Hürlimann, Indien: Baukunst, Landschaft und Volksleben, Zürich 1928, S. 8−9.

ten, die im damals aktuellsten Baedeker-Reiseführer aus dem Jahr 1914 als bedeutsam und sehenswert herausgehoben sind, lässt Hürlimanns Band kaum eine aus.129 Er re-produzierte in seinem Bildband touristische Routen und Orte der Aufmerksamkeit, ergänzte sie aber auch mit weniger bekannten Regionen insbesondere im Südwesten des Subkontinents. Allerdings funktionierte der Reiseführer als Reiseanleitung vor Ort und der Bildband diente als Vergegenwärtigung von Sehenswürdigkeiten im Heimgebrauch. Bei einem Vergleich von Postkartenmotiven mit Hürlimanns Sujets zeigen sich ebenfalls Parallelen: Die Rahmung des Blicks durch architektonische Bö-gen, die ästhetische Spiegelung von Architekturen in Gewässern und der Fokus auf kaum belebten architektonischen Settings, die ebenfalls den zeitgenössischen ästheti-schen Darstellungskonventionen folgten.130 Die engen Verbindungen von Tourismus und fotografischer Buch- und Zeitschriftenkultur wird im zweiten Kapitel näher be-leuchtet.

129 Vgl. Baedeker, Indien.

130 Der Atlantis Verlag erkannte das Potential des Mediums Postkarte ebenfalls. Ab 1933 gab er in Auflagen zwischen 7000 und 8000 Exemplaren einen Abrisskalender mit Postkarten heraus, der in Buchhandlungen zu kaufen war und Bilder aus Europa sowie Außereuropa enthielt.

Abb. 11 Martin Hürlimann, Indien: Baukunst, Landschaft und Volksleben, Zürich 1928, S. 52−53.

Zur Erfassung eines Gebiets gehörte in Hürlimanns Kulturverständnis auch die Landschaft. Sein Reisepartner Wehrli war ein Vertreter der sogenannten Kultur- und Universalgeografie, die davon ausging, dass sich die Natur- und Kulturgeschichte in Landschaften und Architekturen verdichteten.131 Das Ziel, Gesellschaften fotografisch über Landschaften zu charakterisieren, verfolgten auch andere zeitgenössische Foto-grafen wie beispielsweise August Sander. Am Beispiel der Landschaftsaufnahmen des deutschen Fotografen zeigt der Fotohistoriker Oliver Lugon, wie dieser Typen von Landschaften inszenierte, analog zu seiner Typologisierung verschiedener Bevölke-rungsgruppen Deutschlands.132 Auch Hürlimann führte der Betrachterin und dem Betrachter verschiedene Landschaftstypen von tropisch unberührten Dschungelland-schaften, über landwirtschaftlich genutzte Reisfelder und wüstenhafte Gegenden, bis hin zur kargen Bergwelt des Himalaja vor Augen. Indem er Porträts einzelner Perso-nen dazwischenschob, ordnete er diese dem jeweiligen Landschaftstyp zu (Abb. 11).133 Der Fokus der Landschaftsdarstellung lag auf ländlichen Räumen, die Inszenierung urbaner Regionen beschränkte sich auf lediglich acht Aufnahmen. Großstädte wie Delhi oder Kalkutta, die in Filmaufnahmen Hürlimanns verkehrsreich und lebhaft erschienen, thematisierte er im Bildband nicht.