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Gesellschaft in Hierarchien

Himalaja: Erobern und Scheitern

3.3 Gesellschaft in Hierarchien

Als Gegenbild zu Darstellungen Indiens als Wunderland erschienen – so die abschlie-ßende These – in der illustrierten Presse Imaginationen der „indischen“ Gesellschafts-ordnung. Zeitschriften stellten die sozialen Gegensätze als wesentliches Charakteris-tikum der südasiatischen Gesellschaft dar, das sichtbar sei „in der Weltflucht aller indischen Religionen, und ebenso im Kastenwesen, das die Inder zum konservativs-ten Volk gemacht hat“.190

Der Begriff der „Kaste“ als Ordnungssystem der Gesellschaft auf dem Subkontinent war auf Textebene omnipräsent. Er wirkte wie ein Signalwort, das an die Vorstellun-gen der Leserinnen und Leser appellierte, in seiner Visualisierung allerdings diffus blieb.191 Die statuierten gesellschaftlichen Hierarchien stellten Fotografinnen und Fo-tografen offensichtlich vor das Problem, dass sich diese nicht leicht abbilden ließen.

Auch bereits erwähnte Fotosammlungen wie „People of India“ mit wissenschaftlichem Anspruch versuchten verschiedene Bevölkerungsgruppen und „Kasten“ ins Bild zu setzen. Illustrierte Zeitschriften setzten aufgrund ihrer medialen Eigenschaften noch weit stärker auf Verknappung und Vereinfachung. Der Begriff „Kaste“ war so eng mit 189 Wie wir sie fanden!, in: BIZ, 06. 01. 1938, S. 3; Richard Angst (Fotos), Abenteuerliches Filmen in

7750 Meter Höhe, in: BIZ, 06. 12. 1934, o. S.

190 P. Bally, Indien und die westliche Zivilisation, in: ZI, 18. 07. 1927, S. 5–6, hier S. 6.

191 Zum Klassifikationssystem „Kaste“: Melitta Waligora, What Is Your „Caste“? The Classification System of Indian Society as Part of the British Civilizing Mission, in: Harald Fischer-Tiné/Mi-chael Mann (Hg.), Colonialism as Civilizing Mission. Cultural Ideology in British India, London 2004, S. 141–164.

Indien verbunden, dass er im Unkonkreten und Diffusen bleiben konnte und nicht näher erklärt werden musste. Auf diese Weise hinkten Bilder von gesellschaftlichen Hierarchien dem Schreiben über eine starre Organisation der Gesellschaft hinterher.

Selten unterschieden Beiträge anhand von Fotografien einzelne „Kasten“, son-dern differenzierten eher zwischen arm und reich, zwischen Unter- und Oberschicht und zwischen indigenen und „zivilisierten“ Lebensweisen, wie beispielsweise in der Schweizer Illustrierten Zeitung von 1921 sichtbar wird: „Die Oberschicht ist intelli-gent, klug und betriebsam. Die Kastenunterschiede verunmöglichen im Grunde ge-nommen eine vollständige Verschmelzung des Volkes zu einer Einheit.“192 Ein An-gehöriger „der höhern Kasten wird nie mit einem Paria, d.h. einem Manne aus der untersten Schicht verkehren“. Beschreibungen des „Kastenwesens“ waren häufig von Äußerungen des Unverständnisses geprägt. Besonders die Behandlung der sogenann-ten „Unberührbaren“ – am unterssogenann-ten Ende der sozialen Hierarchie angesiedelt – galt den Schreibenden als Zeichen der Grausamkeit und Unmenschlichkeit gegenüber gesellschaftlich tiefergestellten Mitmenschen und der Unterdrückung bestimmter Bevölkerungsgruppen:193 „Jeder Weiße ist erstaunt Zeuge der Hartherzigkeit, mit wel-cher der Paria (Ausgestoßene) durch Fluchworte und Fußtritte aus dem Wege gejagt wird. Reformversuche zur Milderung der Gegensätze haben gegen den Konservatis-mus der Masse einen schweren Stand.“194

Aufgrund ihrer „Kastenstruktur“ wurde die indische Gesellschaft als statisch re-formfern dargestellt. In dieser Sichtweise blieb außer Acht, dass das südasiatische

„Kastenwesen“ zwar bereits vor der europäischen Herrschaft auf dem südasiatischen Subkontinent existiert hatte, doch erst durch die koloniale Verwaltungspolitik ins-titutionalisiert wurde. Bei Volkszählungen etwa hatten Personen notwendigerweise eine Kastenzugehörigkeit anzugeben.195 Martin Hürlimann sah seine Vorstellung vom

„Wunderland“ Indien auf sozialer Ebene ebenfalls in Frage gestellt. Die sogenann-ten „Kassogenann-tenlosen“ würden „als unrein wie die Pest gemieden“ und jeder Mensch sei sein Leben lang verdammt, in jener „Kaste“ zu leben, der er von Geburt an angehöre, schrieb er 1927 in der Schweizer Illustrierten.196 Vor diesem Hintergrund erschien die europäische Gesellschaft im Universum der illustrierten Zeitschriften als durchlässig,

192 Bilder aus Indien, in: SIZ, 17. 09. 1921, S. 452.

193 Harald Lechenperg, Einer von 50 Millionen, in: BIZ, 30. 06. 1933, o. S.

194 Louis Fehr (Text), Das alte Wunderland Indien in seinem heutigen Aspekt, in: SIZ, 04. 02. 1926, S. 109–112, hier S. 111.

195 Nicholas B. Dirks, Castes of Mind. Colonialism and the Making of Modern India, Princeton 2001, S. 48, 200–202.

196 Martin Hürlimann (Fotos/Text), Indien. Das Wunderland, in: SIZ, 06. 10. 1927, S. 1284–1285, hier S. 1285.

demokratisch, liberal, aufgeklärt und fortschrittlich, auch insofern als soziale Mobili-tät möglich war.

Neben dem „Kastenwesen“ machten europäische Berichterstatterinnen und -er-statter dominierende gesellschaftliche Hierarchien insbesondere an der Rolle der Frau fest. Mehrere Fotobeiträge zeigten Frauen herrschender Gesellschaftsschichten als unsichtbar gemachte Wesen, sei es hinter den Kulissen der Maharaja-Paläste oder in einer Sänfte (vgl. Abb. 39).197 Die südasiatische Frau erschien hier als vom öffentli-chen Leben weitgehend ausgeschlossen. Gemäß Mrinalini Sinha diente der Status der Frauen aus einer westlichen Perspektive als Gradmesser der „Zurückgebliebenheit“

Indiens, wie sich im Folgenden auch anhand der Illustriertenberichte zeigt.198 Populär waren Bilder körperlich schwer arbeitender Frauen. Beispielsweise trugen sie Ziegel auf ihren Köpfen zu Baustellen.199 Der Schweizer Fotojournalist Walter Bosshard zeigte Frauen bei der Baumwollernte, große Tücher auf dem Kopf balancierend.200 Andere fotografierten Teesammlerinnen in Ceylon oder Darjeeling, den Tee in Körben auf dem Rücken tragend.201 Der Fotoreporter Harald Lechenperg beschrieb 1934 in der Berliner Illustrirten Zeitung das Geschlechterverhältnis als hierarchisch und diskrimi-nierend.202 Eine Aufnahme zeigte eine hinter ihrem Mann hergehende Frau (Abb. 59).

Die Bildunterschrift erläuterte, dass es ihr nicht erlaubt sei, auf gleicher Höhe wie ihr Mann zu gehen. Auch der aus Mannheim stammende Grafiker und Reiseschriftsteller Erwin Drinneberg (1890–1964) hatte 1926 in der Schweizer Illustrierten Zeitung kriti-siert, dass der südasiatische Mann häufig „ein strenges und erbarmungsloses Regime“

über die Frau führe und der Arbeit nicht sehr zugeneigt sei.203 Insgesamt beurteilte er die Stellung der Frau als „nach unsern abendländischen Begriffen erniedrigend, ja in manchen Kasten und Religionsgemeinschaften fast schmachvoll“. Der Lebenszweck der Frau scheine darin zu bestehen, „die Härten des Lebens zu mildern und nebenbei das Ihrige für die Fortpflanzung der eigenen Rasse beizutragen“.

197 H.  M.  Ahmad (Fotos/Text), Der Arzt fühlt nur den Puls. Sprechstunde in Delhi, in: BIZ, 23.  06.  1938, o.  S.; Helene Fischer (Fotos/Text), 2 Stunden Aufenthalt in Jodhpur, in: ZI, 11. 10. 1935, S. 1292–1293; Anna Martin (Fotos/Text), Indienfahrten einer Schweizerin. III. Vom indischen Frauenleben, in: SIZ, 30. 12. 1926, S. 4.

198 Mrinalini Sinha, Specters of Mother India. The Global Restructuring of an Empire, Durham 2006, S. 43.

199 C. Z. Kloetzel (Fotos/Text), Indisches Proletariat, in: ZI, 03. 01. 1930, S. 7–8, hier S. 8.

200 Walter Bosshard (Fotos), Indische Baumwolle, in: ZI, 18. 07. 1930, Titelblatt und S. 928–929.

201 E. Petterfy (Fotos)/H. (Text), Teekultur, in: SIZ, 08. 09. 1927, S. 1138–1139. Im Magazin Uhu erschien eine Aufnahme, die eine Reihe von Frauen beim Betätigen einer Straßenwalze zeigten, die Bildlegende lautete: „Die indische Frau als Arbeitstier“, in: Uhu, September 1928, S. 47.

202 Harald Lechenperg (Fotos/Text), Indische Kurzgeschichten, in: BIZ, 18. 10. 1934, S. 1524.

203 Erwin Drinneberg, Das Leben der Frau in Indien, in: SIZ, 15. 04. 1926, S. 397–398.

Abb. 59 Harald Lechenperg (Fotos/Text), Indische Kurzgeschichten, in: Berliner Illustrirte