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Rentenkürzung wegen Grobfahrlässigkeit

AHV. Rentenaufschub

IV. Rentenkürzung wegen Grobfahrlässigkeit

Urteil des EVG vom 25. August 1993 i. Sa. J. G.

(Übersetzung aus dem Französischen)

Art. 7 Abs. 1 IVG; Art. 32 Ziff. 1 Bst. e des Übereinkommens Nr. 128 OIT und Art. 68 Bst. f der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicher-heit: Die beiden Staatsvertragsnormen sind direkt anwendbar und gehen Art. 7 Abs. 1 IVG vor. Diese Bestimmungen erlauben eine Kür-zung einer IV-Rente nur dann, wenn der Versicherte den Versiche-rungsfall vorsätzlich durch eine grobe Verfehlung oder bei Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt hat. Demzufolge ist eine Kürzung einer IV-Rente nicht mehr zulässig, wenn der Versicher-te den Versicherungsfall grobfahrlässig herbeigeführt hat (Änderung der Rechtsprechung).

Der 1933 geborene Versicherte leidet als Folge der Ausübung seines Wirte-berufes an chronischem Alkoholismus. Jedenfalls ab 1978 führte dies zu einer bedeutenden Verminderung der Arbeitsfähigkeit. Der Versicherte beantragte im März 1984 eine IV-Rente. Gestützt auf einen Beschluss der IV-Kommission, welche den Invaliditätsgrad auf 50 Prozent festgesetzt hat-te, sprach die Ausgleichskasse ihm mit den Verfügungen vom 23. Juli und 25. November 1985 ab 1. Juni 1984 eine halbe einfache Rente inkl, je eine halbe Zusatzrente für die Ehefrau und für eine Tochter zu. Die Rente des Berechtigten wurde jedoch wegen grober Fahrlässigkeit um 50 Prozent gekürzt mit der Begründung, dass die Gesundheitsstörungen bei Beginn der Invalidität vom chronischen Alkoholismus herrührten. Nachdem der behandelnde Arzt des Versicherten bestätigt hatte, dass sein Patient absti-nent geworden sei, hielt die IV-Kommission revisionsweise am Invaliditäts-grad von 50 Prozent fest, hob jedoch die Kürzung wegen grober Fahrlässig-keit ab 1. September 1986 auf. Mit Verfügung vom 24. April 1987 sprach die Ausgleichskasse dem Versicherten eine ungekürzte halbe einfache Rente ab dem 1. September 1986 zu. Als die Ehefrau des Versicherten am 26. März 1988 das 62. Altersjahr erreichte, verfügte die Ausgleichskasse die Ausrich-tung einer ganzen Ehepaarrente ab 1. März 1988. Anlässlich einer erneuten Überprüfung wurde der IV-Rentenanspruch mit Entscheid des Sekretariats der IV-Kommission vom 6. März 1990 bestätigt. Mit Schreiben vom 12.

August 1991 mit dem Titel «Vollmacht» erklärte der Versicherte, er ermäch-tige seinen Arzt, die erforderlichen Schritte zu unternehmen, um eine ganze IV-Rente zu erhalten. Die IV-Kommission betrachtete dieses Schriftstück als Revisionsgesuch bezüglich des IV-Rentenanspruchs. Die Abklärungen ergaben, dass der Versicherte einen Rückfall in den chronischen Alkoholis-

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mus erlitten und sich der Gesundheitszustand verschlimmert hatte. Demzu-folge setzte die Kommission den Invaliditätsgrad auf 74 Prozent ab 1. April 1992 fest, kürzte jedoch die IV-Rente um 35 Prozent wegen grober Fahrläs-sigkeit. In der Folge sprach die Ausgleichskasse mit Verfügung vom 19.

Februar 1992 dem Versicherten eine um 35 Prozent gekürzte halbe und sei-ner Ehefrau eine ungekürzte halbe Ehepaarrente ab 1. April 1992 zu. Der Versicherte erhob Beschwerde gegen diese Verfügung und focht jegliche Kürzung seines Rentenanspruches an. Mit Entscheid vom 8. Juni 1992 wies die kantonale Rekursbehörde die Beschwerde ab.

Der Versicherte, der wie im kantonalen Verfahren durch einen Rechts-dienst für Behinderte vertreten wird, lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem erneuten Antrag der Anerkennung seines ungekürzten IV-Rentenanspruchs. Die Ausgleichskasse schliesst stillschweigend auf Abwei-sung der Beschwerde. Das BSV verzichtet auf einen förmlichen Antrag.

Das EVG heisst die Verwaltungsgerichtsbeschwerde aus folgenden Gründen gut:

2a. Nach dem Wortlaut von Art. 7 Abs. 1 IVG können die Geldleistun-gen dauernd oder vorübergehend verweigert, gekürzt oder entzoGeldleistun-gen wer-den, wenn ein Versicherter die Invalidität vorsätzlich oder grobfahrlässig oder bei Ausübung eines Verbrechens oder Vergehens herbeigeführt oder verschlimmert hat. Mit dieser Regelung soll verhütet werden, dass die IV über Gebühr mit Schäden belastet wird, welche die Betroffenen hätten ver-meiden können, wenn sie die ihnen zumutbare Sorgfalt angewandt hätten.

Dieses Ziel wird dadurch erreicht, dass die Versicherten die gesetzliche Lei-stung entsprechend ihrem Verschulden ganz oder teilweise einbüssen (BGE 111 V 187 Erw. 2a = ZAK 1986 S. 528; ZAK 1990 S. 291 Erw. 2a).

b. Bei Alkoholmissbrauch ist grobe Fahrlässigkeit zu bejahen, wenn der Versicherte bei der ihm angesichts seines Bildungsgrades zumutbaren pflichtgemässen Sorgfalt rechtzeitig hätte erkennen können, dass jahrelan-ger Missbrauch alkoholischer Getränke die Gefahr einer schweren Gesund-heitsschädigung in sich birgt, und wenn er imstande gewesen wäre, entspre-chend dieser Einsicht sich des übermässigen Alkoholkonsums zu enthalten (BGE 111 V 189 Erw. 2c = ZAK 1986 S. 528; ZAK 1990 S. 291f. Erw. 2b).

Die grobfahrlässige Herbeiführung oder Verschlimmerung der Invalidität zieht grundsätzlich nicht den gänzlichen Entzug der Geldleistungen, son-dern bloss deren angemessene Kürzung nach sich. Der Kürzungssatz bestimmt sich ausschliesslich nach dem Verschulden des Versicherten (BGE 111 V 196 Erw. 5a = ZAK 1986 S. 528; BGE 104V 2 Erw. 2b = ZAK 1978S.

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417; BGE 97 V 229 Erw. lb = ZAK 1973 S. 47; s. auch BGE 106 V 23 Erw.

la mit Hinweisen = ZAK 1980 S. 536). Praxisgemäss lässt sich unter der Vor-aussetzung, dass die Invalidität einzig durch den Alkoholismus verursacht worden ist und der Versicherte den Alkoholismus voll zu verantworten hat, eine Kürzung von höchstens 50 Prozent rechtfertigen. Ist an der Invalidität ein zusätzlicher Gesundheitsschaden beteiligt, so ist das Verhältnis der die Invalidität bewirkenden Faktoren zueinander abzuklären und der Alkohol-missbrauch als Kausalitätsfaktor bei der Bemessung der Kürzung anteils-mässig festzusetzen (BGE 111 V 196 Erw. 5a = ZAK 1986 S. 528; ZAK 1990 S. 291f. Erw. 2b; Echenard, Les risques exclus de l'AVS/AI, in: IRAL, Col-loque de Lausanne 1989, Risques totalement ou partiellement exclus de l'assurance sociale [y compris la prevoyance professionnelle], S. 11).

3a. Laut Art. 32Ziff. 1 Bst. e des Übereinkommens Nr. 128 OIT über Lei-stungen bei Invalidität und Alter und an Hinterbliebene vom 29. Juni 1967, für die Schweiz in Kraft seit dem 13. September 1978 (AS 1978 11 1493), und Art. 68 Bst. f der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit (CESS) vom 16. April 1964, für unser Land in Kraft seit dem 17. September 1978 (AS 1978 II 1518), können die Sozialversicherungsleistungen, auf welche jemand Anspruch hätte, «ruhen», mit anderen Worten verweigert, gekürzt oder ent-zogen werden, wenn der Versicherungsfall «vorsätzlich durch eine grobe Verfehlung» verursacht wurde gemäss Übereinkommen Nr. 128 OIT oder

«wenn die betreffende Person den Fall vorsätzlich herbeigeführt hat» nach der CESS. Diese internationalen Bestimmungen zielen insbesondere auf die Versicherungsleistungen gemäss IVG (Teil II des Übereinkommens Nr. 128 OIT und Teil IX des CESS; vgl. RKUV 1989 Nr. U 63 S. 56, nicht publizierte Erw. 4c in BGE 114V 315).

Im Urteil C. vom 23. Oktober 1985 (BGE 111 V 201 = ZAK 1986 S.

239) hat das EVG entgegen der vorherrschenden Lehrmeinung (Villars, Le Code europeen de securite sociale et le Protocole additionnel, 1979, S. 16;

Berenstein, La Suisse et le developpement international de la securite socia-le, SZS 1981 S. 186; Greber, Droit suisse de la securite sociasocia-le, 1982, S. 228) entschieden, dass diese Staatsvertragsbestimmungen nicht direkt anwend-bar («self-executing») seien; sie stünden somit einer IV-Rentenkürzung bei grobfahrlässigem, nicht vorsätzlichem Handeln des Versicherten nicht ent-gegen. Wie bereits vor erster Instanz bestreitet der Beschwerdeführer die Stichhaltigkeit dieser Rechtsprechung; die einstimmige Ablehnung durch die Lehre sei ein hinreichender Grund, um davon abzukommen.

Das Urteil C. hat in der Tat zahlreiche Kommentare und Kritiken in der Lehre hervorgerufen. Als erster Autor dürfte sich Professor Maurer

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dazu geäussert haben. Schon früher hatte er seine Vorbehalte zur Recht-sprechung im Gebiet der IV-Rentenkürzung wegen grober Fahrlässigkeit, namentlich in den Fällen von Alkoholismus, angebracht (Fragwürdige Kür-zungen der Invalidenrenten wegen grober Fahrlässigkeit, SZS 1984, S. 65 ff., insbes. S. 87). In dem in der Neuen Zürcher Zeitung erschienenen Artikel vom 2. Juli 1986 befürwortet er Weisungen von seiten des BSV, um der Schweiz eine weitere Verletzung ihrer internationalen Verpflichtungen zu ersparen (s. auch ders. Autor, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, Ergänzungsband, 5.65, und Bundessozialversicherungsrecht, 1993, S. 21; der erwähnte Kommentar in der NZZ wurde von Fischli in seiner Jahreschro-nik über die Rechtsprechung ausführlich erläutert, in: ZBJV 123 [1987], S.

576 ff.). Ein weiterer diesem Entscheid gewidmeter Kommentar befasst sich ebenfalls mit der Weigerung des EVG, die Normen des internationalen Rechts anzuwenden; diese Haltung lässt nach der Meinung des Autors die von der Schweiz eingegangenen internationalen Verpflichtungen illusorisch werden (Despland, Droit des assurances sociales et conventions internatio-nales: A propos d'un arret du Tribunal federal des assurances, Journal de la Federation suisse des employes d'assurances sociales [FEAS] Nr. 3/1986, S.

4 ff.). In einem Artikel mit dem Titel «L'applicabilite directe des traites internationaux en Suisse: histoire d'un detour inutile» (SJIR, Bd. XLV [1989] S. 129 ff.) stellt Jacot-Guillarmod die Begründung des EVG dar und führt sodann aus, er halte diese für «beunruhigend», da sie absichtlich und zugunsten rechtspolitischer Überlegungen von einem klaren Wortlaut abweiche; er ist der Meinung, dass das EVG dem BSV, welches durch die Teilnahme an den Verhandlungen im vorliegenden Fall Richter und Partei zugleich gewesen sei, zuviel Gewicht beigemessen habe (a.a.O., S. 139). In einer weiteren Studie (Strasbourg, Luxembourg, Lausanne et Lucerne:

methodes d'interpretations comparees de la regle internationale conven-tionnelle, in: Les regles d'interpretation. Principes communement admis par les juridictions, Freiburg 1989, S. 109 ff.) wirft derselbe Autor — dieses Mal im Lichte der vom Wiener Übereinkommen anerkannten Auslegungs-grundsätze — dem EVG erneut vor, der Bestimmung des Landesrechts den Vorrang gegeben zu haben, obwohl die internationale Regel im vorliegen-den Fall alle Voraussetzungen der direkten Anwendbarkeit erfülle (a.a.O., S. 112 f.). Mehrere andere Autoren haben sich in ähnlichem Sinne geäussert oder sich diesen kritischen Ausführungen angeschlossen (Spira, L'applica-bilite du droit international de la securite sociale par le juge, in: Melanges Berenstein, Lausanne 1989, S. 475 ff.; Greber, Le principe de la legalite con-sidere en droit suisse de la securite sociale, in: Sozialversicherungsrecht im Wandel; Festschrift 75 Jahre Eidgenössisches Versicherungsgericht, S. 273 ff. ab Nr. 53; Berenstein, Le droit international de la securite sociale dans la

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jurisprudence du Tribunal fdd6ral des assurances, ebenfalls publiziert in der Festschrift 75 Jahre Eidgenössisches Versicherungsgericht, S.13 ff.; Meyer-Blaser, Die Bedeutung von Art. 4 BV für das Sozialversicherungsrecht, ZSR 111 [1992] II 446; Cattaneo, Les mesures pr6ventives et de r6adaptation de Passurance-chömage, Diss. Basel, 1992, S. 143 f.; Duc, Droit social europ6en. Quelques aspects, in: L'espace social europ6en. Colloque de Lau-sanne 1992, IRAL, 1993 S. 24; Agier, La r6duction des rentes d'invalidit6...

des toxicomanes, SZS 1988, S. 122 f.; s. auch die Bemerkungen von Scartaz-zini, in: Les rapports de causalit6 dans le droit suisse de la securit6 sociale, Diss. Genf, 1991, S. 252 f.).

4. Das Urteil C. stellt die ständige Rechtsprechung des EVG, welche dem Staatsvertragsrecht im Bereich der Sozialen Sicherheit den Vorrang vor dem Landesrecht einräumt, nicht in Frage (Erw. 2b S. 202 = ZAK 1986 S. 239;

s. auch die neuere Rechtsprechung: BGE 118 V 79; BGE 117 V 268 = ZAK 1992 S. 411; BGE 115 V 16; in demselben Sinne: J.-F. Aubert, Un droit so-cial encadr6, ZSR 110 [1991] I 162 Nr. 18; Greber, S6curit6 soso-ciale, in: Le droit suisse et le droit communautaire: convergences et divergences, Zürich 1990, S. 630 f.). Schliesslich ist der Grundsatz des Vorranges des internatio-nalen Rechts heute ganz allgemein kaum mehr bestritten, insbesondere wenn es sich um die Anwendung von Art. 113 Abs. 3 und 114bis Abs. 3 BV handelt (BGE 118 Ib 281 Erw. 3b, 117 Ib 372 Erw. 2e mit Hinweisen; gemein-same Publikation des Bundesamtes für Justiz und der Direktion für Völker-recht vom 26. April 1989, «Das Verhältnis zwischen VölkerVölker-recht und Lan-desrecht im Rahmen der schweizerischen Rechtsordnung», VPB 53/IV [1989] Nr. 54, S. 417 f. ad § 13b; Kraft, Quelques observations sur l'attitude de la Suisse ä P6gard du droit international, in: M6langes Grossen, S. 429 ff., insbesondere S. 433; s. auch Art. 26 und 27 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969, für die Schweiz in Kraft seit dem 6. Juni 1990 [SR 0.111; AS 1990 1112]; dagegen, aber in starker Min-derheit: Seiler, Das völkerrechtswidrige Bundesgesetz; Artikel 113 Absatz 3 BV im Verhältnis zu Völkerrecht, EG und EWR, SJZ 1992, S. 377 ff.). Eini-ge Autoren haben anderseits im Entscheid C. eine Bestätigung des Urteils Sch. gesehen (BGE 99 Ib 39, insbes. S. 44 Erw. 4), gemäss welchem eine Aus-nahme vom Vorrang des internationalen Rechts gegeben ist, wenn der Gesetzgeber durch den Erlass einer völkerrrechtswidrigen Norm bewusst von der internationalen Norm abweichen wollte (BGE 118 Ib 281 Erw. 3b).

Die Meinung dieser Autoren (z.B.: Caflisch, SJIR 1986 S. 43; Zimmermann, Le contröle prejudiciel en droit f6deral et dans les cantons suisses, Diss.

Genf, 1987, S. 102) ist jedoch nicht gerechtfertigt, da das Gericht ausdrück-lich anerkannte (S. 204), dass sich im vorliegenden Fall — im Gegensatz zur

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Situation im Entscheid Sch. — aus den Gesetzesmaterialien kein entschlos-sener Wille des Gesetzgebers ableiten lasse, trotz der internationalen Ver-pflichtungen der Schweiz dem Landesrecht den Vorrang einzuräumen.

Demnach sind Staatsvertragsbestimmungen, welche als direkt anwendbar erscheinen, geeignet, Rechte und Pflichten nicht nur für Behörden, sondern auch für Einzelne festzulegen. Voraussetzung dafür ist, dass diese inhaltlich hinreichend bestimmt und klar sind, um als Grundlage eines Entscheides im Einzelfall dienen zu können. Umgekehrt muss die direkte Anwendbarkeit denjenigen Normen abgesprochen werden, welche sich darauf beschränken, die Regelung eines Rechtsgebietes lediglich anzudeuten oder ein erhebli-ches Ermessen einzuräumen; solche Normen richten sich in erster Linie an den nationalen Gesetzgeber (BGE 118 la 117, 116 Ib 303, 112 Ib 184 mit Hinweisen auf die Lehre; Kälin, Das Verfahren der staatsrechtlichen Be-schwerde, S. 119 f.; Jacot-Guillarmod, L'applicabilite directe..., S. 132 ff.;

Dupuy, Droit international public, Pr6cis Dalloz, Paris 1992, S. 297 ff.). Im vorliegenden Fall enthalten das Übereinkommen Nr. 128 OIT und die Europäische Ordnung der Sozialen Sicherheit sowohl Bestimmungen, wel-che lediglich Richtlinien im Bereich der Sozialen Siwel-cherheit festlegen, als auch direkt anwendbare («self-executing») Regeln (Berenstein, Le droit international de la s6curit6 sociale..., S. 17). Beinahe alle Schweizer Auto-ren, die sich zu diesem Thema geäussert haben — insbesondere diejenigen, welche den Entscheid C. kommentiert haben — vertreten die Ansicht, dass Art. 32 Ziff. 1 Bst. e des Übereinkommens Nr. 128 OIT und Art. 68 Bst. f der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit unter diese zweite Kate-gorie von Bestimmungen fallen (z.B.: Berenstein, ibidem; Greber, Le princi- pe de la S. 274 Nr. 55; Spira, a.a.O., S. 475). Ihre Meinung überzeugt Gemäss den Staatsvertragsbestimmungen erlaubt ein grobfahr-lässiges, nicht vorsätzliches Verschulden kein «Ruhen» (und somit im konkreten Fall keine Kürzung) von Versicherungsleistungen. Diese Bestim-mungen erfordern keinen Erlass konkretisierender Ausführungsbestim-mungen durch den nationalen Gesetzgeber; sie sind im Gegenteil unmittel-bar als solche anwendunmittel-bar und können die Grundlage eines Entscheides im Einzelfall bilden. Somit kann die kritisierte Rechtsprechung nicht mehr auf-rechterhalten werden. Die Bestimmungen des internationalen Rechts sind im vorliegenden Fall direkt anwendbar. Sie gehen Art. 7 Abs. 1 IVG inso-fern vor, als diese Norm des Bundesrechts die Kürzung von Leistungen bei grober Fahrlässigkeit erlaubt.

c. Im Urteil C. hat das EVG im Grunde die genannten Staatsvertragsbe-stimmungen nicht als unbestimmt oder zu wenig klar betrachtet. Das Gericht begründete seinen Entscheid hauptsächlich damit, dass der Bun-

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desgesetzgeber — ohne sich bewusst zu weigern, die internationalen Ver-pflichtungen der Schweiz zu respektieren (s. oben Bst. a) — im neuen UVG das Prinzip der Kürzung von Geldleistungen für die Fälle der grobfahrlässi-gen Herbeiführung eines Unfalles (Art. 37 Abs. 2 UVG) aufrechterhielt und ausserdem anlässlich der zweiten laufenden IVG-Revision keine Ände-rung von Art. 7 Abs. 1 IVG vorsah (die Bestimmungen des revidierten Gesetzes sind in Kraft getreten, die meisten von ihnen am 1. Januar 1988);

besonderes Gewicht legte das EVG auf die Tatsache, dass die Kürzung wegen grober Fahrlässigkeit einen tief verankerten Grundsatz im Bundesso-zialversicherungsrecht darstelle. Diese Begründung hat jedoch ihre Recht-fertigung verloren. Der Gesetzesentwurf zum Allgemeinen Teil des Sozial-versicherungsrechts, welcher vom Ständerat im Laufe seiner Herbstsession 1991 genehmigt wurde (Amtl.Bull.StR 1991 II 773 ff.), sieht — eben gerade im Sinne der diesbezüglichen Staatsvertragsbestimmungen (BB1 1991 II 255) — die Verweigerung oder Kürzung von Leistungen für diejenigen Fälle vor, in denen der Versicherungsfall absichtlich oder bei Ausübung eines Ver-brechens oder Vergehens herbeigeführt oder verschlimmert wurde (Art. 27;

BB1 1991 II 193). Aus demselben Grund enthält das neue Bundesgesetz über die Militärversicherung vom 19. Juni 1992 (BB1 1992 III 910 ff.), wel-ches demnächst in Kraft treten wird, eine ähnliche Einschränkung in Art. 65 (siehe Botschaft des Bundesrats, BB1 1990 III 247 f.).

d. Es ist nicht Sache des Gerichts, die Auswirkungen der vorliegenden Praxisänderung auf andere Sozialversicherungszweige zu prüfen. Vielmehr ist eine Überprüfung von Fall zu Fall vorzunehmen. An dieser Stelle soll lediglich daran erinnert werden, dass im Bereich der Unfallversicherung die neue Rechtsprechung kein Hindernis für die Vornahme von Leistungskür-zung-en wegen grober Fahrlässigkeit bei Nichtberufsunfällen darstellt. Die im Bereich der Unfallversicherung anwendbaren internationalen Bestim-mungen beziehen sich tatsächlich nur auf die Berufsunfälle und haben somit keine Gültigkeit für die Nichtberufsunfälle (Art. 31 des Übereinkommens Nr. 102 OIT und Art. 31 der Europäischen Ordnung der Sozialen Sicherheit;

BGE 118 V 309 Erw. 4).

5. Kommt man zum Schluss, dass gemäss den beiden einschränkenden Staatsvertragsbestimmungen die Kürzung des dem Beschwerdeführer zukommenden Teils der Ehepaarrente gemäss Art. 7 Abs. 1 IVG einzig bei Vorliegen eines groben und vorsätzlichen Verschuldens zulässig ist, so stellt sich die Frage, ob diese doppelte Voraussetzung im vorliegenden Fall erfüllt ist. Die Umstände, die dazu führten, dass der Beschwerdeführer ein chroni-scher Alkoholiker wurde, werden im Gutachten von Professor X. vom 2. Dezember 1991 dargelegt. Gemäss dem Sachverständigen handelt es sich

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um einen klassischen Fall von «Berufsalkoholismus bei einem Wirt, welcher die berufliche Tätigkeit im Jahre 1970 aufnahm und ab 1980 den Beruf ändern musste. Aus den Akten kann nicht darauf geschlossen werden, dass sich der Beschwerdeführer willentlich und wissentlich (Schaer, Das Ver-schulden als Zurechnungskriterium, in: Schaer/Duc/Keller, Das VerVer-schulden im Wandel des Privatversicherungs-, Sozialversicherungs- und Haftpflicht-rechts, Base11992, S. 23 ff.) dem Alkoholgenuss in einem Masse hingab, wel-ches geeignet gewesen wäre, einen Krankheitszustand von derartiger Schwere hervorzurufen. Man kann sich überhaupt fragen, ob es in Fällen von chronischem Alkoholismus oder Tabakmissbrauch möglich ist, den Sachverhalt des Vorsatzes zu verwirklichen. Die Rechtsprechung jedenfalls hat bis heute die Fälle von Leistungskürzungen bei Alkoholismus oder Tabakmissbrauch immer nur unter dem Gesichtswinkel der groben Fahr-lässigkeit geprüft (siehe z.B. BGE 111 V 189 Erw. 2c = ZAK 1986 S. 528;

BGE 104V 1 Erw. 2a = ZAK 1978 S. 417; BGE 98V 31 Erw. 1 = ZAK 1972 S. 595; BGE 97 V 229 Erw. lb = ZAK 1973 S. 47; vgl. auch Maurer, Frag-würdige Kürzungen..., S. 74 ff., sowie Schön, Juristische Aspekte der Kür-zung von Krankenkassenleistungen bei Grobfahrlässigkeit, Zeitschrift für öffentliche Fürsorge, 1990, S. 173 f.). Wie dem auch sei, auch wenn — in Anbetracht der Dauer des missbräuchlichen Alkoholkonsums und des Miss-erfolges aller Entzugsbehandlungen (in den Akten bestätigt) — anzunehmen ist, dass das Verhalten des Beschwerdeführers, als Ganzes betrachtet, von einem groben Verschulden herrührt, so kann dieses Verschulden dennoch nicht als vorsätzlich, nicht einmal als eventualvorsätzlich betrachtet werden.

Ausserdem geht aus den Akten klar hervor, dass sich der psychische Zustand des Beschwerdeführers im Laufe der letzten Jahre stark ver-schlechtert hat und dass jener bei seinen letzten Rückfällen bezüglich seiner Trinkgewohnheiten sehr wahrscheinlich nicht mehr urteilsfähig war.

6. Daraus folgt, dass die Kürzung der dem Beschwerdeführer zugespro-chenen halben Ehepaarrente nicht mehr statthaft ist. Das angefochtene Urteil ist demnach aufzuheben und die streitige Verwaltungsverfügung in dem Sinne abzuändern, als der Versicherte Anspruch auf die ungekürzte Hälfte einer Ehepaarrente hat. (I 272/92)

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