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Urteil des EVG vom 4. August 1993 i. Sa. H. S.

Art. 1 Abs. 1 Bst. a und b AHVG; Art. 3 Abs. 1, Art. 4 und 9 AHVG;

Art. 5 Abs. 1 des Sozialversicherungsabkommens der Schweiz mit der Bundesrepublik Deutschland vom 25.2.1964. Beitragspflicht auf Ein-künften aus Erfindertätigkeit im zwischenstaatlichen Verhältnis. Die Frage der Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 1 Abs.

1 Bst. b AHVG einerseits und von Art. 1 Abs. 1 Bst. a AHVG in Ver-bindung mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 sowie 9 AHVG anderseits ist nicht gleich zu beantworten (Erw. 6b).

Art. 4 und 9 AHVG. «Gewerbsmässig» oder «berufsmässig», wie sie die Praxis bei den Abgrenzungen des Erwerbseinkommens zum Kapi-talertrag im Zusammenhang mit einzelnen Tätigkeiten verwendet, bedeuten «erwerblich» im Sinne von Art. 4 und 9 AHVG (Erw. 3).

Der deutsche Staatsangehörige H. S. war Inhaber eines Konstruktionsbüros in R. (Deutschland) und als «freier Erfinder» tätig. Im Mai 1985 verlegte er seinen Wohnsitz in die Schweiz, und auf den 1. Juli 1987 verkaufte er seine Betriebsstätte an die P. AG, welche mit dem Erwerb der Verwertung und der Veräusserung von Patenten usw. befasst ist. Seit Juli 1991 ist er Verwal-tungsrat dieser Gesellschaft und seit Mai 1992 führt er Einzelunterschrift.

Im Juni und November 1991 meldete die kantonale Steuerbehörde der Ausgleichskasse die von H. S. in den Jahren 1986 bzw. 1988 erzielten Ein-kommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit. Die Steuerbehörde stützte sich dabei auf die Steuererklärungen 1987/88 und 1989/90. Mit Verfügungen vom 16. Dezember 1991 verpflichtete die Ausgleichskasse H. S. zur Zahlung von persönlichen Beiträgen in Höhe von Fr. 9779.— (1986) und Fr. 8983.20 (1988). Die hiegegen erhobene Beschwerde wies die kantonale Rekurs-behörde mit Entscheid vom 10. September 1992 ab. Die dem EVG einge-reichte Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird mit folgender Begründung teilweise gutgeheissen:

2.a) Obligatorisch versichert nach Art. 1 Abs. 1 AHVG sind unter ande-rem die natürlichen Personen, die in der Schweiz ihren zivilrechtlichen Wohnsitz haben (Bst. a) oder die in der Schweiz eine Erwerbstätigkeit aus-üben (Bst. b). Die so Versicherten sind landesrechtlich beitragspflichtig, solange sie eine Erwerbstätigkeit ausüben (Art. 3 Abs. 1 Satz 1 AHVG).

b) Die Beiträge der erwerbstätigen Versicherten werden in Prozenten des Einkommens aus unselbständiger und selbständiger Erwerbstätigkeit

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festgesetzt (Art. 4 Abs. 1 AHVG). Von der Beitragserhebung ausgenom-men ist u.a. das Erwerbseinkomausgenom-men, das Personen mit Wohnsitz in der Schweiz zufliesst als Inhaber oder Teilhaber von Betrieben oder von Betriebsstätten im Ausland (Art. 6ter Bst. a AHVV in Verbindung mit Art.

4 Abs. 2 Bst. a AHVG).

c) Als beitragspflichtiges Einkommen aus selbständiger Erwerbstätig-keit im Sinne von Art. 9 Abs. 1 AHVG gilt nach Art. 17 AHVV das in selb-ständiger Stellung erzielte Einkommen aus Land- und Forstwirtschaft, Han-del, Gewerbe, Industrie und freien Berufen, einschliesslich Kapitalgewinne von zur Führung kaufmännischer Bücher verpflichteten Unternehmungen (Bst. d). Vom reinen Kapitalertrag schulden Versicherte keine Beiträge, weil die blosse Verwaltung des persönlichen Vermögens nicht Erwerbs-tätigkeit im Sinne des AHVG ist (ZAK 1987 S. 296 Erw. 2a mit Hinweisen;

vgl. auch BGE 111 V 83 = ZAK 1985 S. 455 Erw. 2b).

Verlangt ist immer eine relevante kausale Beziehung zwischen einer erwerblichen Tätigkeit und dadurch erzielten, die wirtschaftliche Lei-stungsfähigkeit erhöhenden Einkünften. In welchem Zeitpunkt diese Ein-künfte zufliessen, spielt für die Einkommensart an sich keine Rolle. Ver-langt ist einzig, dass die Einkünfte dem Beitragspflichtigen nicht zufliessen würden, hätte er früher keine erwerbliche Tätigkeit ausgeübt.

Wie aus den Akten hervorgeht und im übrigen unbestritten ist, war der Beschwerdeführer in seiner Konstruktionsfirma jahrzehntelang als Erfinder tätig. Er war fraglos ein gewerbsmässiger Erfinder. Zur Klarstellung ist hier anzumerken, dass mit den Adjektiven gewerbsmässig oder berufsmässig, wie sie die Praxis bei den oft heiklen beitragsrechtlichen Abgrenzungen des Erwerbseinkommens zum Kapitalertrag im Zusammenhang mit einzelnen Tätigkeiten verwendet (vgl. ZAK 1988 S. 515f. Erw. 4c: gewerbsmässiger Liegenschaftenhandel; ZAK 1988 S. 289 Erw. 2c, 3a: berufsmässige Erfin-dertätigkeit), nichts anderes gemeint ist als erwerblich im Sinne von Art. 4 und 9 AHVG.

Nach dem Gesagten ergibt sich für den vorliegenden Fall ohne weite-res, dass die fraglichen Einkünfte («Vermittlungsprovision Schweiz»,

«Lizenzeinnahmen») beitragspflichtiges Einkommen aus (selbständiger) Erwerbstätigkeit darstellen: wenn und solange der Beschwerdeführer sei-nen Beruf als Erfinder fortsetzt oder wenn und solange er Entgelte bezieht, die eindeutig in engem Zusammenhang (ZAK 1988 S. 290 Erw. 3a) mit sei-ner früheren berufsmässigen Erfindertätigkeit stehen. Es ist daher usei-nerheb- unerheb-lich, ob, wovon das BSV vorliegend ausgeht, die Kriterien für die Annahme von Erwerbstätigkeit im Falle des Gelegenheitserfinders erfüllt sind oder

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nicht («Diese bestehen darin, dass sich der Erfinder und Lizenzgeber von seinem Erzeugnis gänzlich gelöst und auf die Auswertung und Weiterent-wicklung keinen Einfluss mehr hat», vgl. ZAK 1988 S. 290 Erw. 3a). Ein berufsmässiger Erfinder wie der Beschwerdeführer (Erw. 3), erzielt nicht nur Erwerbseinkommen (im Sinne der Art. 4 und 9 AHG) in Zeiten, da er die Erfindertätigkeit ausübt, sondern auch noch nachher, wenn, sofern und soweit ihm Einkünfte zufliessen, welche aus dieser zurückliegenden, zwi-schenzeitlich vielleicht eingeschränkten oder allenfalls sogar aufgegebenen, Erfindertätigkeit herrühren. In diesem Sinn muss dem Beschwerdeführer widersprochen werden, wenn er einwendet, die Entgegennahme solcher Zahlungen könne sowenig wie der Empfang von Zinsen eine beitrags-pflichtige Erwerbstätigkeit darstellen. Ist der kausale Zusammenhang zwi-schen dem Zufluss der Einkünfte und der früheren beruflichen Betätigung ausgewiesen — das ist nach der eigenen Darstellung des Beschwerdeführers hier klarerweise der Fall —, dann gelten die später eingeheimsten Früchte der berufsmässigen Erfindertätigkeit als Erwerbseinkommen und nicht als Kapitalertrag, weil sie die Gewinnrealisierung aus früherer Unternehmer-tätigkeit darstellen (vgl. ZAK 1988 S. 290 Erw. 2c in fine mit Hinweisen).

Der Beschwerdeführer beruft sich auf den Beitragsbefreiungsgrund des als Inhaber einer im Ausland gelegenen Betriebsstätte erzielten Ein-kommens (Art. 61er Bst. a AHVV). Obwohl das Konstruktionsbüro in R. als Betriebsstätte im AHV-rechtlichen Sinne gelten könnte (vgl. B GE 110V 80 f. = ZAK 1984 S. 558 Erw. 5a, b), dringt das Argument nicht durch. Denn es steht fest, dass der Beschwerdeführer die fraglichen Einkünfte ungeachtet des Umstandes bezog, ob die Betriebsstätte im Ausland noch existiert oder nicht. Auf Art. 6ter Bst. a AHVV kann sich jedoch nur berufen, wer unmit-telbar aus einer im Ausland gelegenen Betriebsstätte Einkommen erwirt-schaftet.

Im weitern bezieht sich der Beschwerdeführer auf Art. 5 des Sozial-versicherungsabkommens der Schweiz mit der Bundesrepublik Deutsch-land vom 25. Februar 1964. Nach dieser Bestimmung wird die Versiche-rungs- und Beitragspflicht zwischen den Vertragsstaaten danach aufgeteilt, in wessen Gebiet eine Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt wird (Abs. 1 Satz; Erwerbsortsprinzip). Es stellt sich also die Frage, ob jene Tatsachen, welche landesrechtlich den Schluss auf beitragspflichtige Erwerbstätigkeit in den Jahren 1986 und 1988 zulassen (Erw. 2-5), staatsvertraglich gesehen eine in Deutschland oder in der Schweiz ausgeübte Tätigkeit darstellen. Das ist gleichbedeutend mit der Rechtsfrage, was als Erwerbsort im Sinne von Art.

5 Abs. 1 des Sozialversicherungsabkommens mit der Bundesrepublik Deutschland zu verstehen ist.

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Diese Frage hat das EVG in ZAK 1981 S. 517 Erw. lb wie folgt beant-wortet: Die Begriffe «Ausübung einer Beschäftigung oder Tätigkeit» wer-den weder im Abkommen selbst noch im Schlussprotokoll und in wer-den spä-teren staatsvertraglichen und verwaltungsvereinbarlichen Abkommen näher umschrieben. Der bundesrätlichen Botschaft lässt sich ebenfalls nichts entnehmen. Es fehlen somit Anhaltspunkte dafür, dass das Abkom-men eine von der innerstaatlichen Gesetzgebung abweichende Regelung treffen wollte. Ein Abgehen von den Grundsätzen des innerstaatlichen Rechts liesse sich aber nur rechtfertigen, wenn hiefür eine eindeutige staats-vertragliche Rechtsgrundlage gegeben wäre. An einer solchen Grundlage fehlt es mit Bezug auf die vorliegende Rechtsfrage. Ob die Beschwerdefüh-rer eine Beschäftigung oder Tätigkeit in der Schweiz gemäss Art. 5 des So-zialversicherungsabkommens ausüben, beurteilt sich somit aufgrund der Vorschriften des AHV-Rechts. Diese Rechtsprechung (vgl. ZAK 1990 S. 338f. Erw. 2a mit Hinweisen) gilt auch im Hinblick auf das Inkrafttreten der Wiener Konvention zum Vertragsrecht vom 23. Mai 1969 (SR 0:111), insbesondere der Art. 31ff. betreffend allgemeine Grundsätze der Staats-vertragsauslegung einerseits und die Entwicklung der Rechtsprechung zur Auslegung staatsvertraglicher Bestimmungen (vgl. BGE 117 V 269 = ZAK 1992 S. 411 Erw. 3b mit Hinweisen; unveröffentlichtes Urteil G. vom 11.

Februar 1993 Erw. 3a) anderseits.

Nach schweizerischem Recht ist, wie in Erw. 3 und 4 dargelegt, eine beitragspflichtige Erwerbstätigkeit auch dann noch anzunehmen, wenn, soweit und solange ein berufsmässiger Erfinder Einkommen aus seiner (früheren) Erfindertätigkeit bezieht. Aus staatsvertraglicher Sicht jedoch muss sich der Beschwerdeführer diese innerstaatliche Begriffsbildung vor dem Verkauf seines Betriebes in R. auf den 1. Juli 1987 nicht entgegenhal-ten lassen. Denn bis zu diesem Zeitpunkt konnte er sich über einen prio-ritären staatsvertraglichen Erwerbsort in Deutschland ausweisen. Mit Bezug auf die bis dahin realisierten Einkünfte aus seiner Erfindertätigkeit besteht daher, ungeachtet der Wohnsitznahme in der Schweiz, welche lan-desrechtlich die Versicherteneigenschaft begründet, keine Beitragspflicht.

Anders liegen die Dinge nach dem 1. Juli 1987. Denn mit der Aufgabe des Erwerbsortes in Deutschland besteht kein vorrangiger Anknüpfungspunkt mehr, welcher die schweizerische Versicherungs- und Beitragserhebungszu-ständigkeit kraft vorrangigem Staatsvertrag zurückdrängen würde. Wenn weiters im schon erwähnten Urteil G. gesagt wird, für die Annahme einer Erwerbstätigkeit in der Schweiz sei nicht der Wohnsitz oder Aufenthalt ent-scheidend, sondern der Ort, wo sich der Mittelpunkt des wirtschaftlichen Sachverhaltes befinde, der dieser Tätigkeit erwerblichen Charakter verlei-

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he, ist zu beachten, dass diese Erwägungen Art. 1 Abs. 1 Bst. b AHVG, d.h.

die die Versicherungspflicht begründende Erwerbstätigkeit (Erw. 2a) betreffen. Im vorliegenden Fall jedoch ist die Versicherungspflicht auf der Grundlage des Wohnsitzes nach Art. 1 Abs. 1 Bst. a AHVG (Erw. 2a) unstreitig bereits gegeben. Im Rahmen dieser kraft Wohnsitz begründeten Versicherungspflicht stellt sich die Frage der (selbständigen) Erwerbsein-kommenserzielung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 AHVG in Verbindung mit Art. 4 und 9 AHVG. Mit anderen Worten ist die Frage der Ausübung einer Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Bst. b AHVG einerseits, Art. 1 Bst. a AHVG in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 und Art. 4 sowie 9 AHVG anderseits nicht gleich zu beantworten.

7. Daraus ergibt sich vorliegend, dass die Lizenzeinnahmen 1986 kein beitragspflichtiges Erwerbseinkommen darstellen. Demgegenüber sind die 1988 realisierten Lizenzeinnahmen als beitragspflichtiges Einkommen aus selbständiger Erwerbstätigkeit zu qualifizieren. (H 280/92)