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3 Stand der Forschung

3.4 Relevanz der Bewegungsförderung im Kindesalter

Aufgrund der großen Varianz im Bewegungsverhalten von Kindern im Vorschulalter in unterschiedlichen Studien, kann derzeit kein eindeutiges Bild hinsichtlich der Aktivitätslevel und Bewegungsmuster in dieser Population gezeichnet werden (vgl. Kapitel 3.2). Die Bewegungsempfehlungen von mindestens 60 Minuten MVPA erfüllen nach den Ergebnissen des Motorik-Moduls [MoMo] der Basiserhebung des Kinder- und Jugendgesundheitssurveys [KiGGS] knapp ein Drittel der vier bis fünfjährigen Kinder, bei den Jungen sind es 35,4 % und bei den Mädchen 28,4 %.

Mit zunehmendem Alter nimmt die Prävalenz körperlicher Aktivität ab, so erfüllen in der Altersgruppe der Sechs- bis Zehnjährigen nur 24,2 % der Jungen und 17,9 % der Mädchen die Aktivitätsempfehlungen von mindestens 60 Minuten körperlicher Aktivität täglich (Jekauc et al. 2012). Dabei lässt sich ein sozialer Gradient im Bewegungsverhalten beobachten. So weisen Kinder aus Familien mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status ein geringeres Aktivitätsniveau sowie schlechtere motorische Kompetenzen auf (RKI 2013) und sind häufiger übergewichtig bzw. adipös als Kinder aus Familien mit einem höheren Sozialstatus (Kurth & Schaffrath-Rosario 2007; Landsberg et al. 2009; Ketelhut et al. 2011).

Erste Auswertungen der KiGGS Welle 1 zeigen aktuell, dass nach Auskunft der Eltern von den drei- bis sechsjährigen Kindern lediglich zwei Drittel (66 %) sportlich aktiv sind, jedoch spielen in diesem Alter 82 % der Kinder fast täglich im Freien (RKI 2013). Dies kann positiv gewertet werden, da Kinder während der draußen verbrachten Zeit häufig aktiver sind als im Innenbereich. Internationale Studien bestätigen, dass die Mehrzahl der Kinder die aktuellen Aktivitätsempfehlungen nicht erreichen (Colley et al. 2011; Troiano et al. 2008; Tucker 2008;

Hnatiuk et al. 2014). Speziell für das Vorschulalter ermittelte Tucker (2008) in einem systematischen Review, dass nur knapp über die Hälfte (54 %) der Kinder (2 bis 6 Jahre) die Empfehlungen der NASPE (vgl. Tab. 2) erfüllt.

Studien zeigen zudem, dass bereits Vorschulkinder viel Zeit mit sitzenden Aktivitäten ver-bringen (Marshall et al. 2004; Vandewater et al. 2007; Taylor et al. 2009; Oliver et al. 2007;

Hnatuik 2014). Die mit sitzenden Tätigkeiten verbrachte Zeit bleibt dabei konsistenter über die Zeit bestehen als die aktive Zeit. Taylor et al. (2009) ermittelten in einer Längsschnitt-studie, dass die MVPA zwischen dem Alter von drei und vier bis fünf Jahren sowohl bei Jungen als auch bei Mädchen signifikant abnimmt. Dagegen nehmen institutionalisierte sportmotorische Aktivitäten, z.B. im Sportverein, im gleichen Alter zu. Insbesondere bei Jungen steigt die Anzahl der Mitglieder in den Altersklassen der Vier- bis Siebenjährigen kontinuierlich (Woll et al. 2009).

Zum Bewegungsverhalten von Kindern während des Besuchs der Kita (u.a. Nutzung freier Bewegungszeiten, Umfang von Alltagsbewegungen) gibt es national als auch international bisher keine umfassenden Daten (Pate et al. 2004; Payr & Woll 2012). Ein systematisches Review von Reilly (2010) zeigt, dass das objektiv gemessene Aktivitätsniveau von Kindern auch während der in der Kita verbrachten Zeit gering ist und die Kinder sehr viel Zeit mit sitzenden Tätigkeiten verbringen.

Pate et al. (2004) ermittelten, dass Kinder während des Kita-Besuchs durchschnittlich 7,7 Minuten pro Stunde in MVPA verbringen (ca. 13 % der beobachteten Zeit). Das bedeutet, dass ein Kind, das die Vorschule acht Stunden besucht, ca. eine Stunde in MVPA verbringt.

Damit werden die aktuellen Aktivitätsempfehlungen für den Kita-Bereich nicht erreicht (vgl.

Tab. 3).

Studien weisen darauf hin, dass das Bewegungsverhalten von Kindern in den letzten 20 Jahren sowohl objektiv als subjektiv stetig abgenommen hat (Graf et al. 2014). Die Abnahme von Bewegung umfasst dabei sowohl weniger Zeit in hoher Bewegungsintensität als auch mehr Zeit in Inaktivität (De Bock 2012). Dabei wird der Trend wahrgenommen, dass vor allem Aktivitäten, die draußen stattfinden, zurückgegangen sind, wie die aktive Fortbewegung und das unstrukturierte Spiel (Sturm 2005). Die Ursachen für die abnehmende körperliche Aktivität werden in einer sich im Wandel befindlichen Lebens- und damit auch Bewegungs-welt von Kindern, aufgrund von Veränderungen in der unmittelbaren Wohnumgebung und in der technischen und gesellschaftlichen Umwelt (z.B. zunehmende Technisierung und Motorisierung, Medienkonsum) aber auch der familiären und sozialen Umwelt, gesehen (vgl.

Schmidt 2003; Payr & Woll 2013; Zimmer 2013a; Opper & Wagner 2009; Bringolf-Isler 2014). Angenommen wird, dass diese Veränderungen sich bereits im frühen Kindesalter auf die Alltagsgestaltung auswirken und den natürlichen Bewegungsdrang von Kindern ein-schränken (Payr & Woll 2012; Opper et al. 2005).

Der zunehmende Bewegungsmangel wird auch als Erklärung für Veränderungen des Krankheitspanoramas im Kindesalter herangezogen (Payr & Woll 2012). So scheint sich die zunehmende Inaktivität auf die motorische Leistungsfähigkeit im Kindesalter auszuwirken, für die im Vergleich zu früheren Generationen ebenfalls ein Rückgang beobachtet wird (Bös et al. 2009; Williams et al. 2008). Nach einer Sekundäranalyse von Bös et al. (2009) wird angenommen, dass die körperliche Fitness von Kindern und Jugendlichen in den letzten 30 Jahren im Durchschnitt um ca. 10 % abgenommen hat, die Daten beziehen sich jedoch auf Querschnittuntersuchungen. Zudem wird die Abnahme von Bewegung insbesondere in Zu-sammenhang mit dem epidemischen Anstieg der Prävalenzraten von Übergewicht und Adipositas gebracht (Payr & Woll 2012; Landsberg et al. 2009; Bünemann 2009).

Bewegungsförderung im frühen Kindesalter ist aus Public Health-Perspektive jedoch nicht nur relevant, um Übergewicht und Adipositas zu prävenieren und chronische Gesundheits-probleme zu vermeiden, sondern für die Förderung der gesamten kindlichen Entwicklung (Timmons et al. 2007; De Bock 2012; Zimmer 2009b, 2013). Bewegung wird insbesondere in

den ersten Lebensjahren als ein Grundbedürfnis von Kindern angesehen. „Der allen Kindern innewohnende Selbstwirksamkeits- und Erforschertrieb mündet in Bewegung, die den Kindern wiederum Körperkompetenz ermöglicht“ (De Bock 2012, S. 133).

Aus entwicklungspsychologischer Perspektive hat Bewegung, insbesondere im Kontext von kindlichem Spiel, eine hohe Relevanz für das kognitive, gesundheitliche, physische, psychische, soziale und emotionale Wohlbefinden von Kindern (Burdette & Whitaker 2005;

Ginsburg 2007; Timmons et al. 2007; Pellegrini & Smith 1998; De Bock 2012). Bewegung beinhaltet sowohl sofortige als auch nachhaltige funktionale Vorteile für das Kind (Pellegrini

& Smith 1998; Timmons et al. 2007). Viele der Entwicklungsmöglichkeiten werden durch körperlich aktives Spielen gefördert (Pellegrini & Smith 1998). Seit Piaget wird die Rolle von körperlicher Aktivität als Exploration und Bereitstellung konkreter Erfahrungen im Spiel akzeptiert. Bewegung ermöglicht die Entdeckung neuer Räume und Spielerfahrungen und geht mit sozialen und psychologischen Lerneffekten einher (De Bock 2012, S. 133). Körper-lich aktives Spielen ist damit sowohl aus psychologischer als auch sozialer Perspektive bedeutsam (Pellegrini & Smith 1998; Timmons et al. 2007).

Zu den angenommenen Mechanismen, durch die Spiel zur kindlichen Entwicklung beiträgt, gehören: die Formation neuronaler Strukturen, die für zukünftige Aktivitäten notwendig sind (Synapsen und Verbindungen) sowie die Einübung von Fähigkeiten, wie Sprache, Kommunikation, Motorik, Kreativität und soziale Verhandlungsgeschicke (z.B. mentale und emotionale Kontrolle, Kooperation, Problemlösungs- und Leitungsfähigkeiten) (Eaton et al.

2001; Timmons et al. 2007; Ginsburg 2007). Zudem spielt Bewegung insbesondere im frühen Kindesalter eine wichtige Rolle für den Ausdruck von Emotionen, da jüngere Kinder eher auf den physischen als auf den kognitiven Ausdruck von Emotionen vertrauen müssen (Eaton et al. 2001). Dementsprechend sind die vorsprachlichen, insbesondere die körper- und bewe-gungsbezogenen Bildungsvorgänge, gleichermaßen wie die sprachlichen und symbolischen Kompetenzen, bedeutsam (Heim 2009, S. 40). Mit höherem Alter kommt dem Spiel mit anderen Kindern eine zunehmende Bedeutung zu (De Bock 2012).

Fehlende Stimulation der Betreuungspersonen (z.B. passive Bewegungen oder mangelnde Initiierung von Aktivitäten) und umweltbezogene Beschränkungen der natürlichen Bewegung (eingeschränkter Platz zum Spielen) können die Stereotype und Übungsspiele unterdrücken (Timmons et al. 2007; De Bock et al. 2012). Werden die umweltbezogenen Einschränkungen entfernt, zeigen Kinder kompensatorische Bewegung. Daher scheint Spiel bzw. Bewegung

eine zentrale Funktion in der kindlichen Entwicklung zu übernehmen und kann nicht von dieser getrennt werden (Timmons et al. 2007; Pellegrini & Smith 1998; De Bock 2012).

Hurrelmann (2004) bezeichnet Bewegung in der Kindheit als „das wichtigste Medium der körperlichen und psychischen Entwicklung, es ermöglicht die Erkundung und Aneignung der sozialen und physikalischen Umwelt, sorgt für die Koordination aller Sinneserfahrungen und ist der Motor für die gesamte körperliche, psychische und soziale Entwicklung eines Kindes“

(S. 29).