• Keine Ergebnisse gefunden

3 Stand der Forschung

3.5 Bewegung als Bildungsbereich in der frühkindlichen Bildung

Die vorangegangenen Ausführungen zeigen auf, dass Bewegungsförderung im frühen Kindesalter nicht nur ein gesundheitspolitisches, sondern gleichermaßen ein bildungs-politisches Thema ist (Payr & Woll 2012, S. 215). Frühkindliche Bildung und Betreuung gewannen in den letzten Jahren, aufgrund internationaler Bildungsstudien4 sowie der rasanten Zunahme an neurowissenschaftlichen und entwicklungspsychologischen Erkenntnissen zu den Lernpotenzialen von Kindern, zunehmend an Aufmerksamkeit. Die Erkenntnisse belegen die hohe Bedeutung der ersten Lebensjahre für die menschliche Entwicklung (Zimmer 2009b). Bildung in der frühen Kindheit wird heute als Fundament des Bildungssystems wahrgenommen, da sie die Grundlage erfolgreicher Bildungsbiografien darstellt (Zimmer 2013b, S. 24).

Der Bildungsbegriff in der frühkindlichen Bildung ist aktuell durch zwei Diskussionslinien gekennzeichnet: den Ansatz der Selbstbildung und den Ansatz der Ko-Konstruktion. Der Selbstbildungansatz beinhaltet, dass Bildung nicht von außen (z.B. von Eltern, Päda-gog_innen) erzeugt, sondern nur durch das Kind eigenwillig und selbsständig verwirklicht werden kann (vgl. ausführlich Schäfer 2009, S. 34). Der Ansatz der Ko-Konstruktion versteht Bildung als sozialen Prozess, an dessen Gestaltung Kinder, Eltern und pädagogische Fachkräfte aktiv beteiligt sind (vgl. ausführlich Fthenakis 2003, S. 27). Den Bildungsansätzen ist gemeinsam, dass sich das Kind von Beginn seiner Entwicklung an aktiv mit seiner sozialen, kulturellen und natürlichen Umwelt auseinandersetzt. Das Kind wird als „aktiv lernendes, kompetent handelndes Wesen, das seine eigene Entwicklung vorantreibt und seine Umwelt erkundet“ wahrgenommen (Zimmer 2013a, S. 88).

4Zu nennen sind hierbei die PISA [Programme for International Student Assessment] -Studie der OECD [Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung] sowie die TIMSS [Trends in International Mathematics and Science Study] und die IGLU [Internationale Grundschul-Lese-Untersuchung)] -Studie der der IEA [International Association for the Evaluation of Educational Achievement].

Heim (2009) fasst zusammen, dass Bildung auch im Hinblick auf Bewegung, Spiel und Sport im Kindesalter „Selbstbildung im Rahmen sozialer Ko-Konstruktion“ ist. „Insbesondere im Hinblick auf die soziale Umwelt kann Bildung vor dem Hintergrund der Selbsttätigkeit nur als Prozess der Ko-Konstruktion verstanden werden (Heim 2009, S. 27).

Eine besondere Rolle im Rahmen von Bildungsprozessen spielen die körperlich-sinnlichen Erfahrungen des Kindes (Zimmer 2013a; Schäfer 2007). Bewegungserfahrungen eröffnen im Kindesalter eigene, unaustauschbare Bildungsprozesse (Heim 2009, S. 40). Bewegung ist dabei nicht nur Selbstzweck, sondern ermöglicht die Auseinandersetzung mit der räumlichen und materiellen Umwelt und die Interaktion mit Personen und Objekten. Das Kind erwirbt dadurch Kenntnisse über sich und andere. Über Bewegung können sich Kinder ein Bild von sich selbst machen, ihre eigenen Fähigkeiten einschätzen und sich die Welt aktiv aneignen (Heim 2009; Zimmer 2009b; Zimmer 2013a).

Im Rahmen des umfangreichen Verbundsprojektes „BiK – Bewegung in der frühen Kindheit“

der Universität Köln, Fachhochschule Dortmund, Hochschule Koblenz und Hochschule Niederrhein wurde eine umfassende Ist-Stand-Analyse hinsichtlich des Stellenwerts von Bewegung in frühkindlichen Bildungs- und Entwicklungsprozessen durchgeführt und vier Bedeutungsdimensionen von Bewegung herausgearbeitet, die den Stellenwert von Bewegung im Kontext frühkindlicher Bildungsprozesse unterstützen (Bahr et al. 2012; S. 99 ff.):

Bewegung als Lerngegenstand umfasst die „Erziehung zur Bewegung“, bei der die Ausbildung motorischer Grundfertigkeiten sowie konditioneller und koordinativer Fähig-keiten fokussiert wird. Dabei sollen als Grundvoraussetzungen für das Sporttreiben Grund-tätigkeiten des „Sich-Bewegens“ (z.B. greifen, gehen, laufen, springen, klettern, werfen) erlernt sowie eine sog. Mitgestaltungskompetenz (z.B. Kooperations- und Kommunikations-fähigkeit) entwickelt werden.

Bewegung als Medium der Gesundheitserziehung bezieht sich auf die Förderung physischer und psychischer Gesundheitsressourcen durch Bewegungsaktivitäten. Körperliche (z.B. Kraft und Ausdauer, Koordination und Haltung, Fitness), personale (z.B. kognitive, soziale, emotionale Kompetenzen) und soziale (z.B. Beziehungen, Erziehungs- und Familien-klima, soziale Unterstützung) Ressourcen und Risikofaktoren (z.B. Übergewicht, Bewegungs-mangel, veränderte Lebenswelten, Migration) beeinflussen sich wechselseitig. Bewegung unterstützt die Entwicklung und Erweiterung von Ressourcen zur Bewältigung von be-lastenden Lebensereignissen.

Bewegung als Medium des Lernens betrachtet die Zusammenhänge zwischen Bewegungs-aktivitäten und dem Aufbau von kognitiven Kompetenzen und der Wissensvermittlung.

Lernen in der frühen Kindheit umfasst vor allem Erfahrungslernen über die Erschließung der dinglichen und personalen Umwelt, das zur Entwicklung von basalen Kompetenzen (z.B.

Wahrnehmungsfähigkeit) als auch zum Erwerb von Wissen in unterschiedlichen Bildungs-bereichen (z.B. Ästhetik, Sprache, Mathematik) beiträgt.

Bewegung als Medium der Entwicklungsförderung bezieht sich auf die basale Bedeutung von Bewegung für die Gesamtheit der Entwicklungsbereiche (kognitiv, sozial, emotional und motorisch). Hierbei wird die gegenseitige Beeinflussung von Bewegung, Kognition und sozial-emotionaler Kompetenzen betrachtet und deren Nutzbarmachung für kindliche Bildungsprozesse und der Entwicklungsförderung erschlossen (Bahr et al. 2012, S. 99 ff.).

Körpererfahrungen übernehmen dabei eine wichtige identitätsbildende Funktion und sind Voraussetzung für die Entwicklung der Selbstständigkeit (Zimmer 2013).

Bewegung als ein Bereich frühkindlicher Bildung umfasst vor diesem Hintergrund mehr als die Bildung motorischer Bewegungsabläufe, sondern beinhaltet alle Dimensionen von

„menschlichen Welterfahrungen“: sinnliche, emotionale, soziale, kommunikative, materielle und kulturelle (Schäfer 2007, S. 41). Bewegung als Medium der Vermittlung grundlegender kognitiver, emotionaler und sozialer Lern- und Entwicklungsprozesse kann somit auch für andere Bildungsbereiche, wie z.B. der Sprachförderung oder der mathematisch-natur-wissenschaftlichen Bildung, Geltung haben, diese unterstützen und ergänzen (Zimmer 2009b;

Rethorst et al. 2009). Bildung des Körpers und seiner Bewegungen bietet vielfältige Gelegen-heiten für eine ganzheitliche Bildung und Erziehung. Ziel pädagogischer Arbeit sollte es sein, sowohl individuelle Selbstbildungsprozesse des Kindes zu fördern und zu unterstützen, als auch Anregungen und Herausforderungen zu geben und damit Erfahrungsmöglichkeiten zu eröffnen (Zimmer 2013b, S. 26). Dies kann nur durch die Bereitstellung optimaler kontextueller Rahmenbedingungen und stimulierender (Bildungs-) Gelegenheiten gelingen (Heim 2009; S. 27).

Insbesondere die kritische Diskussion der Studie der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung [OECD] (2011) „Starting Strong: Early Childhood Education and Care“ führte dazu, dass die frühkindliche Bildung, Erziehung und Betreuung national und international vermehrt politische Aufmerksamkeit erhielt. Ziel sollte es sein, für alle Kinder eine qualitativ hochwertige Erziehung und Bildung als Grundlage für

Chancengleichheit und lebenslanges Lernen bereit zu stellen (Zimmer 2009b; National Institute for Health and Clinical Excellence [NICE] 2012).

In Deutschland sollte mit der Herausgabe von Bildungs- bzw. Erziehungs- oder Orientierungsplänen für den Elementarbereich in den einzelnen Bundesländern der grund-legende Bildungsauftrag von Kitas hervorgehoben und verbindlich beschrieben werden, mit dem Ziel, eine hohe fachliche und pädädagogische Qualität in den Bildungsinstitutionen zu gewährleisten (Zimmer 2009a; Zimmer 2013b). Zu den gemeinsamen Zielen der Bildungs-pläne gehören die Schaffung optimaler Bildungsvoraussetzungen, die Stärkung grundlegender Ressourcen und Kompetenzen der Kinder und die Unterstützung des lebenslangen Lernens (Zimmer 2013b, S. 25). Die Bildungspläne unterstützen auch die Bedeutung und den Stellenwert von Gesundheit, genauer Bewegung, in der frühkindlichen Bildung.

Auf der Konferenz der Kultusminister der Länder der Bundesrepublik Deutschland (KMK) wurde im Jahr 2004 mit dem „Gemeinsamen Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen“ der Bereich „Körper, Bewegung, Gesundheit“ als einer von sechs Bildungsbereichen festgelegt. Eine Analyse von Zimmer (2009b) auf Länderebene macht deutlich, dass in allen Bildungsplänen der einzelnen Bundesländer Bewegung meist im Kontext von Gesundheit als eigenständiger Bildungsbereich aufgeführt wird, neun von 16 Bildungsplänen verbinden die Bereiche „Körper, Bewegung, Gesundheit“. Der Umfang und Stellenwert von Bewegung unterscheidet sich zwischen den Bildungsplänen jedoch deutlich, wobei die Relation zum Gesamtumfang des jeweiligen Bildungsplans beachtet werden muss.

Der 60 Seiten umfassende niedersächsische Orientierungsplan für Bildung und Erziehung widmet dem Thema „Körper, Bewegung, Gesundheit“ nur knapp zwei Seiten (Niedersächsisches Kultusministerium 2005).

In den letzten Jahren wurden unterschiedliche Konzepte der Bewegungserziehung in Kitas entwickelt, die sich anhand ihrer jeweiligen Zielvorstellungen voneinander unterscheiden lassen (Zimmer 2013a; Ungerer-Röhrich 2012; Krombholz et al. 2005). Deutlich wird jedoch, dass aktuelle gesundheitsfördernde Konzepte (Ungerer-Röhrich 2012) die gleichen all-gemeinen Konzepte und Ressourcen der Kinder fokussieren wie aktuelle Bildungskonzepte (Fthenakis 2003; Payr & Woll 2012, S. 215). Im Sinne der salutogenetischen Perspektive der Gesundheitsförderung überwiegt in den Bildungsplänen eine ressoucenorientuerte Sichtweise, die vor allem Bedingungen beschreibt, die eine gesunde Entwicklung begünstigen, und weniger die Krankheitsrisiken im frühen Kindesalter:

Wird der Blick auf die Stärkung der Ressourcen von Kindern gelegt, mit Stress und Belastungsfaktoren (die z.T. unumgänglich sind) umzugehen, einen aktiven Lebensstil zu entwickeln und ein positives Bild von der eigenen Person aufzubauen, sind es vor allem die Bewegungserfahrungen, die hierzu einen wesentlichen Beitrag liefern können (Zimmer 2009a, S. 148).

Bewegungserziehung und -förderung gehören damit zu den Querschnittaufgaben der Institutionen des Elementarbereichs und können einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung ihres Auftrags zur frühkindlichen Bildung und Erziehung leisten (Zimmer 2013a, 2009b). Dennoch findet der Bildungsbereich Bewegung in der aktuellen Diskussion um frühkindliche Bildung und Erziehung bisher wenig Beachtung, da eher sprachliche, kognitive und lernmethodische Kompetenzen im Vordergrund stehen. Zudem erfolgt eine Verbindung des Bildungsbereichs Bewegung mit anderen Lernfeldern und Bildungsbereichen nur unzureichend (Zimmer 2009b; Zimmer 2009a).