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5 Freiheit und Verantwortung

5.3 Die Freiheit des Verstehens: Frage, Antwort, Verantwortung

5.3.2 Regel und Freiheit

Das responsive Netzwerk kann allerdings auch reißen, und dann erscheint das Verstehen gestört oder unterbrochen; es hat dann seine bis dahin vertraute Umgebung verloren, ohne sie augenblicklich, jedenfalls nicht umstandslos wieder einholen zu können.

Sobald das Alltägliche, Gewöhnliche, Übliche oder Verlässliche seine Verbindlichkeit verliert und die Konventionalität nicht mehr in zureichender Weise den Sprachgebrauch trägt, ist das im gemeinsamen und regelmäßigen Gebrauch der Sprache verbürgte Bedeutungswissen fragwürdig geworden und bedarf einer Erneuerung. Insofern das Verstehen mehr oder weniger gut in der Lage ist, den Verlust einer bislang unproblematischen Gemeinsamkeit zu deuten, insofern es also grundsätzlich in der Lage

Fluchtpunkt der einen Wahrheit gibt, ‘Wahrheit’ insofern, als hier alle Aussagen und Überzeugungen, über die ein Streit mit Gründen möglich ist, ‘wahr’ oder ‘falsch’ genannt werden mögen.

266 Vgl. zu den ritualisierten Formen des Fragens und Antwortens Erving Goffman, Das Individuum im öffentlichen Austausch. Mikrostudien zur öffentlichen Ordnung (1971), Frankfurt a.M. 1974, insb. S. 97ff.

ist, das bereits Gesagte zu wiederholen und in anderen Worten wiederzugeben, tritt jetzt vor allem sein interpretativer Zug in den Vordergrund und erweitert sich in eine reflexiv-kognitive Dimension. Zumeist reicht zur Klärung einer unverständlichen Äußerung oder eines unverständlichen Äußerungskontextes eine Erläuterung; sie versucht eine erste Antwort auf den fragwürdig gewordenen Sprachgebrauch und verfährt noch weitestgehend kontextimmanent. Auf diese Weise wird ein möglichst direkter Anschluss an den bisherigen Gesprächs- und Handlungsverlauf wiederhergestellt. Bereits über den Gesprächskontext hinaus weist die Erklärung; sie antwortet auf den fraglichen Sprachgebrauch vor allem mit Herleitungen, Gründen und Regeln.267 Hält sich das Unverständnis auch dagegen hartnäckig, dann hilft hinsichtlich des Sprechers und seiner merkwürdigen Äußerung eine Vermutung weiter; sie betrifft zumeist sein faktisches Können, über das er in seiner Sprache eigentlich verfügen muss, wenn er verständlich sein soll, und artikuliert sich als Vorurteil, mitunter auch als wohlwollendes Entgegenkommen.268 Im Extrem führt dies zu dem Szenario der radikalen Interpretation, wie es Davidson entworfen hat: Hier wird ein ganz und gar fremder Sprachgebrauch, eine gewissermaßen ‘exotische’ Lebensform, als Gesamtheit ‘wahrer Überzeugungen’

gedeutet, um mit dieser kontexttranszendierenden Unterstellung die fremde Sprache als ein kohärentes, regelhaftes System von Bedeutungen und damit überhaupt als Sprache zu verstehen. Auf diese Weise kann die fremde Sprache in einer Art trial-and-error-Verfahren Schritt für Schritt in den eigenen Sprachgebrauch übersetzt werden.269

267 Vgl. zu ‘Erläuterungen’ und ‘Erklärungen’ Friedrich Kambartel, „Versuch über das Verstehen“, a.a.O.:

„Dialogisch-praktisch eingebettete hermeneutische Kommentare können wir mit Frege Erläuterungen nennen und sie dann von Erklärungen im Sinne der klassischen Definitionstheorie unterscheiden. [...]

Semantische Erläuterungen sind situationsimmanente Kommentare oder Hinweise; semantische Erklärungen versuchen den Sprachgebrauch situationsübergreifend zu bestimmen.“

268 Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, in: Gesammelte Werke Bd. 1, Tübingen 61990; Gadamer begreift das Vorurteil in einem transzendentalen Sinne als „Bedingung des Verstehens“ (S. 281). Dabei sind allerdings die ‘wahren’ von den ‘falschen’

Vorurteilen nicht von vornherein zu unterscheiden; vielmehr bedarf es einer „Dialektik von Frage und Antwort“, insofern sie das Verstehen „als ein Wechselverhältnis von der Art des Gesprächs erscheinen“

lässt und sich allmählich einem angemessenen und anschlussfähigen Verständnis annähert, einer

„Verschmelzung des Horizonte des Verstehens“ (S. 383).

269 Vgl. Donald Davidson, „Radikale Interpretation“, in: ders: Wahrheit und Interpretation, a.a.O., Wenn Davidson allerdings behauptet, „die radikale Interpretation ist immer beteiligt, wenn man die Äußerungs eines anderen Sprechers versteht“ (S. 183), dann ist dies irreführend. In diesem Zusammenhang macht Albrecht Wellmer, „Verstehen und Interpretieren“, a.a.O., S. 401, zu Recht darauf aufmerksam, dass es beim gewöhnlichen oder ‘automatischen’ Verstehen „nicht mehr nur oder in erster Linie darum [geht], die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke (so wie sie der Sprecher verwendet) richtig zu erfassen, sondern vor allem darum, auf der Grundlage einer bereits (mehr oder weniger) gemeinsamen Sprache die kommunikativen Intentionen anderer Sprecher zu erfassen, und zwar gerade auch dort, wo die Bedeutung der verwendeten Worte und Sätze gar nicht in Frage steht.“ Die radikale Interpretation bleibt also ultima ratio des Verstehens; dazu und zu den Ähnlichkeiten zwischen Davidson und Gadamer vgl. Wolfgang

Nur auf der Grundlage einer wie auch immer hergestellten oder vorliegenden Verständlichkeit kann es zu einem Dissens oder gar zu einem ernsthaften Konflikt kommen: Irgendein Verständnis muss bereits da sein, um ein Ereignis überhaupt als streitfähigen Anlass deuten zu können. Eine solche Interpretation eröffnet dann verschiedene Züge, etwa die Richtigstellung, die Bitte um Verzeihung oder das Versprechen zur Besserung, aber auch verletzende Polemik, boshafte Kommentare etc.

In schwerwiegenderen und vertrackteren Fällen bedarf es mitunter eines eingehenderen und aufwendigen Verfahrens. Vorausgesetzt also, Störungen und Unterbrechungen sind (a) innerhalb des responsiven Netzwerks überhaupt bemerkbar, sie werden (b) im Sinne eines Problems, Dissenses oder Konflikts gedeutet, es gibt (c) einen Invarianzbedarf, also einen Bedarf, sie zu beseitigen und zu vermeiden, und es steht (d) ein performatives und interpretatives Können zur Verfügung: Dann kann in Distanz und im Kontrast zum üblichen Sprachgebrauch ein kritisches Verständnis vom Regelmäßigen als Regel entstehen. Das Bedeutungswissen kann kontexttranszendierend zu einem ausdrücklichen Regelwissen erweitert und der dadurch mögliche Regelgebrauch sogar in einen kritischen Diskurs überführt werden, in eine Prozedur oder Rede-Folge, in einen gemeinsam unternommenen Versuch des schrittweisen sprachlichen Durchlaufens eines (selbst) auferlegten Prüfungsreglements mit dem Ziel der Wiedergewinnung des Gesprächs- und Handlungsanschlusses, der Wiederherstellung von Verlässlichkeit und Eindeutigkeit, der Sicherung oder Steigerung von Akzeptanz. Wird darüber hinaus gezeigt, dass der eingehend überprüfte und erneuerte Sprachgebrauch gegenüber jedermann Gültigkeit beanspruchen kann, dass also eine Behauptung gegenüber allen begründbar oder eine Aufforderung entsprechend rechtfertigbar ist, dann mag sie sogar – bis auf weiteres – als absolut-begründet respektive absolut-gerechtfertigt gelten.270

Weitestgehende Invarianz stellt sich insbesondere bei anonym-universalen Regel-Postulaten ein, etwa bei naturwissenschaftlichen Gesetzen oder kodifizierten Menschenrechten, insofern sie nicht nur postuliert werden, sondern ihrerseits begründet

Künne, „Prinzipien der wohlwollenden Interpretation“, in: Intentionalität und Verstehen, (hrsg. v. Forum für Philosophie Bad Homburg), Frankfurt a.M. 1990.

270 Vgl. dazu in kritischer Abgrenzung zu Habermas, Apel et al.: Christoph Lumer, Praktische Argumentationstheorie. Theoretische Grundlagen, praktische Begründung und Regeln wichtiger Argumentation, Braunschweig 1990, S. 294f, und Carl Friedrich Gethmann, „Letztbegründung vs.

lebensweltliche Fundierung des Wissens und Handelns“, a.a.O., S. 272ff.

oder gerechtfertigt sind. Sie bleiben allerdings auf universale Lebensformen angewiesen, um überhaupt verständlich, also anschluss- und gebrauchsfähig zu sein.271 Auf diese Verständlichkeit kommt es unabhängig von der beanspruchten Reichweite und Gültigkeit und unabhängig von der Art und Weise der Interpretationsanstrengung immer an: Kontexttranszendenz hat in allen ihren Erscheinungsformen die Kontexttransparenz zu ihrer Voraussetzung und erstreckt sich grundsätzlich nicht weiter als diese.272 Anders gesagt, die erfolgreiche Bewältigung von Störungen und Unterbrechungen des Verstehens verläuft in der unerlässlichen Spannung zwischen Kontextimmanenz und Kontexttranszendenz, zwischen Bedeutungswissen und Regelwissen. Das bedeutet:

Ohne die Veränderung, Abweichung, Ausnahme oder irgendeine andere, den gewöhnlichen Sprachgebrauch transzendierende In-Frage-Stellung gäbe es weder ein weiterreichendes interpretatives Engagement noch einen Begriff des (bislang) Regelmäßigen als (normative) Regel; umgekehrt gäbe es ohne den alltäglichen und regelmäßigen Umgang in der Sprache weder eine erkennbare Verlässlichkeit noch einen deutlichen Hintergrund, vor dem ein sprachliches Ereignis (jetzt) als (faktisch) deutungsbedürftiger und vor allem -fähiger Anlass erscheint. Tendiert das Verstehen mangels größerer Anforderungen mehr zum blinden Regelfolgen, dann verschwindet nicht nur der Begriff der Regel, sondern überhaupt das Wissen um Regelmäßigkeit;

tendiert es dagegen in die andere Richtung, dann wird ihm das Regelmäßige als Regel ausdrücklich und bestimmt erschlossen. Im Extrem bedeutet dies zur einen Seite den ganz und gar involvierten Teilnehmer an einem Sprachspiel, der sprichwörtlich den

‘Wald vor lauter Bäumen nicht sieht’, oder zur anderen Seite den ganz und gar distanzierten Beobachter, der sprichwörtlich nur noch ‘Bahnhof versteht’.

Innerhalb dieses Spannungsfeldes, zwischen Involviertheit und Distanziertheit, entfaltet sich das Verstehen als ein mehr oder weniger gelungener Vollzug. Sein Regelbezug bedeutet allerdings keine apriorische oder kognitive Gewissheit, denn eine Regel existiert, wie Schwemmer zu Recht betont, „nicht als Erzeugungsregel schon vor unserem Handeln und unabhängig von diesem, sondern entsteht erst mit dem

271 Darauf verweist Friedrich Kambartel, „Universalität als Lebensform. Zu den (unlösbaren) Schwierigkeiten, das gute und vernünftige Leben über formale Kriterien zu bestimmen“, in: ders., Philosophie der humanen Welt, Frankfurt a.M. 1989.

272 Vgl. Sebastian Knell, „Dreifache Kontexttranszendenz. Variationen über ein universalistisches Motiv“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 46/4, Berlin 1998, S. 581.

Handeln.“273 Die Bedeutung der Regel kann also nicht bestimmter sein als der jeweilige Verwendungszusammenhang, als der jeweilige Sprachgebrauch. In einer etwas groben Unterscheidung ergeben sich hier drei Bedeutungsfelder. In einem (a) basalen oder fundierenden Sinne bedeutet die Regel das Gewöhnliche, Übliche, Alltägliche; dabei ist, was ‘in der Regel’ geschieht, meist nicht weiter der Rede wert und findet einfach statt.

In einem (b) kritischen oder kontrastierenden Sinne bedeutet die Regel die Wiederholung irgendeines Ereignisses innerhalb eines zeitlich und räumlich begrenzten Abstandes, der freilich genauso wie das Ereignis mehr oder weniger genau bestimmt sein kann; zur Wiederholung gehört der Unterschied wie zur Regel die Ausnahme. In einem (c) interpretativen oder distanzierenden Sinne schließlich bedeutet die Regel soviel wie Richtlinie, Vorschrift oder Ordnung; das kann in einem dynamischen Sinne als ‘Regulierung’ verstanden werden, durch die für den gleichmäßigen Ablauf eines Verfahrens gesorgt wird, oder in einem statischen Sinne als ‘Regulativ’, das unveränderlich wie ein Prinzip oder ein Gesetz dasteht. Entscheidend für den Begriff der Regel, sei es zur Seite des Gewöhnlichen oder zur Seite des Gesetzes, ist sein kontrastiver Sinn, das Verhältnis von einander bestätigender Regel und Ausnahme.

Dadurch erst tritt die Regel als Regel in Erscheinung und gibt sich, ganz in Wittgensteins Sinne, als ‘Wegweiser’ zu verstehen.274

Die so verstandenen ‘Wegweiser’ begleiten den Umgang und vor allem den Zugang innerhalb einer Lebensform. Dabei liegen sie im tatsächlichen Sprachgebrauch bereits als konstituiert vor, doch sind sie niemals vollständig oder lückenlos konstituiert. Ein Sprachspiel kann sogar hochspezialisiert sein und über ein komplexes Regelwerk verfügen, es ist dennoch nicht prinzipiell abgeschlossen und fertig, sondern allenfalls mehr oder weniger schwer zu erlernen. Innerhalb einer vorgefunden Situation ist die Verwendung einer Sprache, so Wittgenstein, „nicht überall von Regeln begrenzt; aber es gibt ja auch keine Regel dafür z.B., wie hoch man im Tennis den Ball werfen darf, oder wie stark, aber Tennis ist doch ein Spiel und es hat auch Regeln.“275 Weder der gegenwärtige noch der zukünftige Sprachgebrauch ist in seiner Gesamtheit durch die

273 Oswald Schwemmer, Handlung und Struktur..., a.a.O., S. 77. – Vgl. auch Friedrich Kambartel u.

Pirmin Stekeler-Weithofer, „Ist der Gebrauch der Sprache ein durch ein Regelsystem geleitetes Handeln?“, in: A.v. Stechios und M.T. Schepping (Hg.), Fortschritte in der Semantik, Weinheim 1988.

274 Vgl. dazu und zu Wittgensteins zunehmendem Interesse an dem Verhältnis zwischen ‘Normalität und Anormalität’ die Ausführungen von Stanley Cavell, The Claim of Reason. Wittgenstein, Scepticism, Morality and Tragedy, Oxford 1979, insb. S. 110ff.

Regel ein für allemal festgelegt. Die Regel zeigt sich vielmehr als konkrete Möglichkeit des Verstehens. In ihrer relativen Unbestimmtheit ist sie dem Verstehen aufgrund seines gekonnten Vollzuges bereits erschlossen, und zwar als tatsächlich zu ergreifende, aber nicht unbedingt zwingende Möglichkeit: ‘Wegweiser’ setzen zwar voraus, dass man ihnen zu folgen in der Lage ist, doch weder erzwingen sie noch schreiben sie eineindeutig vor, wie ihnen zu folgen sei.276 Zudem gibt es niemals nur einen

‘Wegweiser’, zeigen die verschiedenen ‘Wegweiser’ niemals nur in eine Richtung und wird von ihnen niemals nur einmal Gebrauch gemacht. Der Gebrauch einer Sprache zeichnet sich nicht trotz, sondern wegen seines Regelbezugs als Offenheit einer gemeinsam geteilten Lebensform aus.

Dem Verstehen sind nur insoweit Regeln erschlossen, als es ein Sprechen und ein Hören, ein Teilnehmen und ein Beobachten ist. Nur indem sich beide Perspektiven überschneiden, werden Regeln als Zugänge, konkrete Möglichkeiten oder Offenheit einer Lebensform auch verstanden und in Anspruch genommen. Eine solche Lebensform, ein Sprachspiel oder eine Situation besteht, in jeweils unterschiedlichen Gewichtungen, sowohl aus dem faktischen Können seiner Sprecher als auch aus der situativen Aufforderung, insofern sie zu einer Deutung seitens der Hörer führt.277 Dabei geriert sich das Verstehen weder willkürlich noch willfährig. Es verfügt keineswegs beliebig über sein faktisches Können und führt ebenso wenig die situative Aufforderung einfach herbei; das Verstehen bleibt stets gefährdet, ist zudem vielfältigen Überraschungen ausgesetzt und kann eben auch scheitern. Umgekehrt ist das Verstehen auch nicht einfach den Reglements unterworfen, so als ob es in sie ganz eingeschlossen

275 Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 68., S. 279; vgl. auch § 84.

276 Vgl. ebd., § 85. – Zur relativen Unbestimmtheit der Regel vgl. außerdem Charles Travis, The Uses of Sense. Wittgenstein’s Philosophy of Language, Oxford 1989, S. 15f. Die Absicht Wittgensteins, die Vorstellung von der Regel als einer ein für allemal fixierten Instanz, der gemäß sich das Verstehen wie auf

‘Schienengleisen’ bewegt, aufzugeben, erläutert auch schon John McDowell, „Non-Cognitivism and Rule-following“, in: Steven H. Holtzman u. Christopher M. Leich (Ed.), Wittgenstein. To Follow a rule, London/Boston/Henley 1981, S. 145f.

277 Aufgrund dieses Zusammenhangs kann es auch kein Privileg des Sprechers und seines faktischen Könnens geben. Dieser hat in seinem Sprachgebrauch zwar immer schon verstanden, was andernorts und zu anderer Zeit erst noch gedeutet werden muss, jedoch ist sein Privileg nicht mit dem Privileg eines insgeheimen, verborgenen und letztlich ‘privaten’ Wissens oder einer bewusstseinsanalogen Innerlichkeit zu verwechseln. So formuliert Wittgenstein paradigmatisch: „Wenn man aber sagt: ‘Wie soll ich wissen, was er meint, ich sehe ja nur seine Zeichen’, so sage ich: ‘Wie soll er wissen, was er meint, er hat ja auch nur seine Zeichen.’“ (Philosophische Untersuchungen, a.a.O., § 504., S. 434) Mit anderen Worten: Weder ein Sprecher noch irgendeine Sprachgemeinschaft hat Teil an der unmittelbaren Präsenz eines idealen Sinns und wird deswegen nicht umhinkommen, auch das Privateste oder Eigenste noch zu interpretieren, also, wie eingeschränkt und kryptisch auch immer, zu veröffentlichen.

wäre, und ebenso wenig der schieren Kontingenz anheimgegeben; vielmehr eröffnet es immer auch Zugänge zu weiterführenden Möglichkeiten und insofern auch einen Spielraum des Verstehens. Etwas emphatischer: Erst der performative und der interpretative Zug des Verstehens haben welterschließende Kraft. Dabei werden die Regeln in Hinsicht auf ihre Bedeutung als Zugänge, Möglichkeiten oder Offenheit einer Lebensformen erschlossen und erweisen sich, analog zur weiter oben ausgeführten Freiheitskonzeption Merleau-Pontys, als Objektivationen oder Repräsentationen der Freiheit.

Vor diesem Hintergrund schließlich kann das Verstehen als ein Sprachhandeln bezeichnet werden, das im Spannungsfeld des Regelfolgens und des Regeldeutens, also in Bezug auf Regeln, einen Spielraum möglicher Bedeutungen immer schon erschlossen hat. In dem weiten Spannungsbogen vom schlicht Regelmäßigen bis zur ehernen Gesetzmäßigkeit sind die Regeln der Ausdruck praktizierter Freiheit; sie verweisen auf den mehr oder weniger gekonnten Umgang innerhalb einer Lebensform; sie bedeuten, insofern man ihnen folgt, eine Zugehörigkeit und, insofern man sie deutet, einen Abstand zum Konventionellen. In dem einen Sinne lässt sich mit Brandom festhalten, dass soziale Regeln, also Normen, als Formen der Beschreibung des vertrauten und verlässlichen Umgangs in einer Lebensform, als Ausdruck praktizierter Zugehörigkeit und faktischen Gelingens zu begreifen sind: „We treat someone as free insofar as we consider him subject to the norms inherent in the social practices conformity to which is the criterion of membership in our community. He is free insofar as he is one of us. [...]

On this view, then, man is not objectivly free.“278 In dem anderen Sinne betont Ernst Tugendhat nicht so sehr den selbstverständlichen, sondern den möglichen und deutenden Umgang mit der Regel, nämlich, „daß die Regel wie ein Imperativ eine Handlung ‘fordert’: sprachlich drückt sich das in einem Soll-Satz aus und im Verhalten dadurch, daß der Handelnde wie auf einen Imperativ mit ‘Ja’ oder ‘Nein’ reagieren kann, und das heißt frei ist, die Regel zu befolgen oder nicht, und daß das eine Freiheit in dem starken Sinne ist, [...] zeigt sich daran, daß der Handelnde, wie er aus Gründen

278 Robert Brandom, „Freedom and Constraint by Norms“ (1979), in: Robert Hollinger (Hg.), Hermeneutics and Praxis, a.a.O., S. 182.

einem Imperativ befolgt oder nicht befolgt, so auch aus Gründen die Regel befolgt oder nicht befolgt.“279