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Gerechtigkeit als Freiheit oder Das Faktum der Vernunft

2 Eine kurze Geschichte der Gerechtigkeit

2.4 Gerechtigkeit als Freiheit oder Das Faktum der Vernunft

Erst die Freiheit ermöglicht ein willentliches Entscheiden und Handeln; ohne sie gäbe es nur blinden Vollzug. Frei sein in diesem Sinne heißt schlicht: von selbst anfangen können. Unter diesem Vorbehalt steht Immanuel Kants Entwurf der Gerechtigkeit. In der Metaphysik der Sitten wird sie in der Form des Rechts zum „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“45 Freiheit wird hier zuerst als positive Freiheit im Sinne eines ungebundenen frei-seins-für mit der

‘Willkür’ gleichgesetzt. Doch in einem unbedenklicheren Sinne ist die Freiheit negativ zu verstehen, als frei-sein-von. Die Befreiung von der Natur und die Unabhängigkeit gegenüber der sinnlichen Erfahrung, dem unmittelbar Gegebenen, wirft den Menschen auf sich selbst zurück. Damit entgeht er insofern der Willkür, als seine Freiheit zur Autonomie wird, zur Selbstbestimmung und -verpflichtung des Willens. Auf dieser Grundlage positiviert sich die Freiheit in größtmöglicher Allgemeinheit, dem Gesetz, um die Freiheitsrechte und -pflichten der Menschen gleichermaßen zu regeln. Ist nun der Mensch das, was er an sich selbst ist, nur insofern er frei ist, dann ist er genau deswegen vernünftig zu nennen.46 Und wirkt in dieser Verbindung zwischen Vernunft und Freiheit die eigentümliche Tendenz aufs Allgemeine, dann folgt daraus der Kategorische Imperativ, das Handeln und seine Gründe auf Verallgemeinerungsfähigkeit hin zu prüfen. Solchermaßen artikuliert sich die praktische

in utilitaristischer Perspektive begründet statt nur abgeleitet werden kann, darf bezweifelt werden; vgl. dazu Ralph Schumacher, John Stuart Mill, Frankfurt a.M./New York 1994, S. 149ff.

45 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, in: Werke in zehn Bänden (hrsg. v. Wilhelm Weischedel), Bd. 7, AB 33.

46 Vgl. zur grundlegenden Bedeutung der Freiheit Kants Kritik der reinen Vernunft, in: Werke..., a.a.O., Bd. 4, B 581f/A553f: „Die Vernunft ist also die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen, unter denen der Mensch erscheint [...] In Ansehung des intelligiblen Charakters des Menschen [...] gilt kein Vorher, oder Nachher, und jede Handlung, unangesehen des Zeitverhältnisses, darin sie mit anderen Erscheinungen steht, ist die unmittelbare Wirkung des intelligiblen Charakters der reinen Vernunft, welche mithin frei handelt, ohne [durch ...] vorhergehende Gründe dynamisch bestimmt zu sein, und diese ihre Freiheit kann man nicht allein negativ als Unabhängigkeit von empirischen Bedingungen ansehen, [...] sondern auch positiv durch ein Vermögen bezeichnen, eine Reihe von Begebenheiten von selbst anzufangen“.

Freiheit als unbedingte Forderung: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip eines allgemeinen Gesetzes gelten könne.

Dabei ist festzuhalten, dass mit dem ‘allgemeinen Gesetz’ nicht einfach nur die widerspruchsfreie Verallgemeinerung irgendwelcher Handlungsmaximen gemeint ist, sondern die Allgemeinheit aufs engste mit der Freiheit verknüpft bleibt; erst sie gibt eine ethisch-moralische Valenz, mithin auch ein gerechtes Maß. In diesem Sinne wird Kant den Kategorischen Imperativ folgendermaßen variieren: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“47 In dieser Formulierung wird deutlich, dass weder die eigene Person noch der andere, begegnende Mensch zum bloßen Mittel verdinglicht werden sollen. Beide sind gleichermaßen Selbstzweck und als ‘Personen’ unterstehen sie dem Schutz des Gesetzes. Eben darin besteht ihre praktische Freiheit, die ihnen insofern Gerechtigkeit widerfahren lässt, als ihre Individualität geachtet und bewahrt wird. Umgekehrt sollen die durch das Gesetz geschützten und freien Individuen die entscheidende Instanz der Prüfung und gegebenenfalls Zustimmung sein, wenn es darum geht, die rechtmäßige und also gerechte Verfassung ihres Gesetzes zu legitimieren: „[D]as ist der Probierstein der Rechtmäßigkeit eines jeden öffentlichen Gesetzes. Ist es nämlich so beschaffen, dass ein ganzes Volk unmöglich dazu seine Einstimmung geben könnte [...,] so ist es nicht gerecht; ist es aber nur möglich, dass ein Volk dazu zusammen stimme, so ist es die Pflicht, das Gesetz für gerecht zu halten“.48 Das öffentliche Verfahren und die hier angeführte Möglichkeit respektive Unmöglichkeit der Zustimmung stehen, im Unterschied Humes Konzeption, für die Freiheit der Zustimmung; sie kann gewährt werden oder nicht, sie ist die entscheidende Instanz der Gerechtigkeit.

Allerdings ist mit der Freiheit auch ein Problem verbunden. Einer Unterscheidung Kants folgend, phänomenalisiert sich die Freiheit, und mit ihr die Gerechtigkeit, gesetzesförmig, sie selbst jedoch bleibt noumenal. Deshalb bezeichnet die Freiheit immer auch die unbedingte, nicht einholbare Voraussetzung allen menschlichen Handelns. Sie geht dem menschlichen Handeln voraus und wird doch nur in ihm wirklich; sie besteht nur in dieser Spannung zwischen Voraussetzung und

47 Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Werke..., a.a.O., Bd. 6, BA 66f.

48 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, in: Werke..., a.a.O., Bd. 9, A 250.

Verwirklichung. Eben das beschreibt ihre schwer fassbare Eigenart. Kant wird also versuchen müssen, die flüchtige Freiheit durch den Nachweis ihrer manifesten Existenz einzufangen. In der Kritik der praktischen Vernunft gibt er für die immer schon praktizierte Freiheit, mit anderen Worten: für das ‘Faktum der Vernunft’, ein ganz alltägliches Beispiel: Wer lügt, um sich selbst schadlos zu halten, aber wissentlich einem anderen dadurch Schaden zufügt, tut dies unvermeidlich im Bewusstsein, ethisch-moralisch ungerecht zu handeln. Er missachtet den mit der Vernunft innig verbundenen Freiheitsanspruch des anderen, letztlich auch seinen eigenen, und er weiß darum.49 Das hier aufgewiesene Faktum mag unbestritten scheinen, wenigstens wahrscheinlich, also erwartungsgemäß sein. Jedoch bleibt eine grundsätzliche Unwägbarkeit, weil es immer auch anders sein könnte. Die im Namen von Vernunft und Freiheit erhobene Forderung nach Gerechtigkeit bleibt somit auf die Eventualität der sie bestätigenden und bestärkenden Erfahrung, auf gelebte Formen der Sittlichkeit angewiesen. Mögen also eine ethisch-moralische Einstellung, eine Idee der Rücksicht, eine Regung des Mitgefühls oder gar ein Wollen des Guten und Gerechten notwendigerweise vermutet werden, zu beweisen sind diese ‘inneren Zustände’ nicht. Und selbst wenn sie es wären, so wäre aus einem solchen sittlichen Sein noch kein allgemein-gesetzliches Sollen zu erschließen.

Wenn nun ein allgemeines Gesetz insofern gerecht und damit auch gültig sein soll, insofern es die praktizierte Freiheit als Faktum der Sittlichkeit sowohl voraussetzen muss als auch erst hervorbringen will, dann läuft dieses Vorhaben auf eine petitio principii hinaus.50 Mithin droht paradoxerweise gerade im Namen der Freiheit ein totalisierender Selbstabschluss; die Freiheit, die es zu verwirklichen gilt, wäre dann immer schon bei sich oder sich selbst einholende Voraussetzung. Die menschliche Praxis kann durchaus, wie es bei Kant geschieht, unterschieden werden: Einerseits in den Bereich der ’moralisch-praktischen’ Prinzipien, in das Reich des Sollens, der absoluten Forderungen und der Gesetze des Sittlichen; anderseits in den Bereich der

‘technisch-praktischen’ Prinzipien, in das Reich des Seins, des faktischen Könnens und den Gesetzen der Natur. Diese Unterscheidung zwischen idealem Sollen und realem Können darf aber nicht zur abstrakten Trennung führen, die somit auch die konkrete

49 Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Werke..., a.a.O., Bd. 6, A 54.

50 Vgl. dazu Karl-Heinz Ilting, „Der naturalistische Fehlschluss bei Kant“, in: ders., Grundfragen der praktischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1994.

Einheit des Handelns verloren hätte. Mit einen solchen Verlust würde sich die Praxis in die (willkürliche) Freiheit und die (naturgesetzliche) Kausalität zersplittern, um dann einseitig von der Freiheit her wieder verbunden zu werden: Die „unübersehbare Kluft“

soll überwunden werden, indem „der Freiheitsbegriff [...] den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich [macht], und die Natur muss folglich auch so gedacht werden können, dass die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.“51

Doch wird die Einheit von Freiheit und Natur nicht in der ’Einheit des Übersinnlichen’

gefunden, sondern muss bereits praktisch erfahren worden sein. Wäre dagegen keine solche Erfahrung, dann bliebe fürwahr nur „eine göttliche Kunst“, die das, was das Freiheitsideal „vorschreibt, vermittels ihrer auch völlig auszuführen, und die Idee davon ins Werk zu richten.“52 Unter dieser tätigen Mithilfe Gottes allerdings, mit seiner allumfassenden und alles durchdringenden Kraft, hätte alle Praxis ihre Offenheit verloren; unter den Bedingungen der ‘universellen Vermittlung’ gäbe es für das Handeln keinen Spielraum mehr und damit auch keinen (Richtungs-)Sinn der Freiheit, mag er

‘Sollen’, ‘Pflicht’ oder ‘Gesetz’ heißen. Dann nämlich wäre, mit einem Wort, alles schon beschlossene Sache. Doch ist die Freiheit nie vollkommen wirklich und das Wirkliche nie vollkommen frei, stets sollen wir mehr, als wir können, stets können wir aber auch mehr, als wir sollen. Zwischen Sein und Sollen bleibt eine unaufhebbare Differenz, sie macht letztlich die nicht zu parierende Freiheit des Menschen aus. Kant hat dies in seiner Abhandlung Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis durchaus bemerkt. Das ‘Faktum der Vernunft’, die

„reine moralische Gesinnung“, so führt er dort aus, mag zwar „mit der gröbsten und leserlichsten Schrift in die Seele des Menschen geschrieben“ sein, doch komme es darauf an, „daß der Mensch sich bewußt ist, er könne dieses, weil er es soll: das eröffnet in ihm eine Tiefe göttlicher Anlagen, die ihm gleichsam einen heiligen Schauer über die Größe und Erhabenheit seiner wahren Bestimmung fühlen läßt. [...] Wenn es im Privat- und öffentlichen Unterricht Grundsatz würde, davon beständig Gebrauch zu machen [...]

so müßte es mit der Sittlichkeit der Menschen bald besser stehen. Daß die

51 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke..., a.a.O., Bd. 8, B XIX.

52 Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, a.a.O., BA 13.

Geschichtserfahrung bisher noch nicht den guten Erfolg der Tugendlehren hat beweisen wollen, daran sind wohl die falschen Voraussetzungen schuld“, nämlich die Würde der reinen Pflicht aus Freiheit noch nicht zu Bewußtsein gebracht zu haben.53

Es bedarf also der Erziehung oder, mit anderen Worten, der Aufklärung. Nur so schafft sich die Freiheit und mit ihr die Vernunft die Voraussetzungen ihrer eigen Wirklichkeit.

Doch indem sich die Freiheit im (vernünftigen) Handeln verwirklicht, aber selbst immer auch Unverfügbares, Unberechenbares und nicht Erzwingbares im Schilde führt, verhindert sie, dass die Vernunft, der Kategorische Imperativ und nicht zuletzt das Gesetz zu selbstgenügsamen Totalitäten entraten. In dieser praktischen Hinsicht gründet die Freiheit, anders als beim Naturrecht und keineswegs als ‘Tatsache des Bewusstseins’, nicht wie ein Prinzip in einem unvordenklichen oder vorgängigen Jenseits, aus dem sie, wie auch immer, über sich selbst hinauswachsen muss, nur um zu sich selbst zu kommen; zugleich ist sie nicht nur diesseitig im Sinne eines universalen Nutzens angelegt oder aufgehoben. Die Freiheit macht sich in der Erfahrung des Handelns immer auch als unwillkürlicher Entzug bemerkbar. Bleibt also die Frage, als was oder besser noch, als wer sie sich entzieht. Folgt ihrer Flucht irgendein Vernehmen, auch dies eine Bedeutung von Vernunft, und was könnte da Unerhörtes gehört werden?

53 Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch..., a.a.O., A 292f; kurs. von mir, C.S.