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3 Die Gegenwart der Gerechtigkeit

3.4 Gerechtigkeit als Rechtsstaatlichkeit

Anders als die Diskursethik, vertraut Otfried Höffes Konzeption der Gerechtigkeit sehr viel mehr den Institutionen. Ihm geht es um die Begründung einer Staats- und

88 Vgl. dazu Albrecht Wellmer, Ethik und Dialog. Elemente des moralischen Urteils bei Kant und in der Diskursethik, Frankfurt a.M. 1986, S. 83 u. 93.

89 Herbert Schnädelbach, „Über Rationaltät und Begründung“, in: ders., Zur Rehabilitierung ..., a.a.O., S.

63. 90 Es darf hier auch der Grund für die so lang dauernde Debatte um die so genannte Postmoderne vermutet werden. Manche Uneinsichtigkeit in die eigenen – theoretischen – Voraussetzungen verschaffte diesem Inbegriff des Unübersichtlichen und Beliebigen eine allemal lang anhaltende Konjunktur. Kritische

Rechtsethik. Deswegen soll sich „die Philosophie ... nicht länger auf die Begründung höchster Prinzipien einschränken, sondern ihre normativ-kritische Kompetenz auch für den Bereich der konkreten Verwirklichung unter Beweis stellen; unter Voraussetzung einer Begriffsklärung und Prinzipienbegründung konzentriert sie sich auf die

‘Anwendung’ sittlicher Prinzipien.“91 Mit anderen Worten: Nicht im universalen Begriff des Menschen mit seinen Bedürfnissen und Anrechten, sondern darin, dass aus ihm Konsequenzen für die institutionelle Staats- und Rechtsverfassung gezogen werden, ist ein Fortschritt der Gerechtigkeit zu begründen. Modernität besteht in der Institutionalisierung der Menschenrechte; erst so wird, historisch betrachtet, die Abschaffung der Leibeigenschaft, der Folter, der Sklaverei und jedweder Form der Diskriminierung, nicht zuletzt die der Frauen möglich. Höffe schwebt für die konkrete Umsetzung eine ‘ethisch-politische Pragmatik’ vor, die sich auch in der Nähe

‘wissenschaftlicher Politikberatung’, also auch in der politischen Praxis entfalten muss.

Zur philosophischen Rückversicherung seines Unterfangens greift Höffe auf für ihn wesentliche aristotelische Einsichten zurück: 1. auf die für alle Ethik grundlegende Praxis, 2. auf den Ethos als je schon gelebte Sittlichkeit und Vernunft, und schließlich 3. auf die Reflexion dieses herkünftigen Zusammenhangs, um sich der Herkünftigkeit immer auch kritisch zu entziehen.92 Insbesondere das reflektierende Urteilen soll dazu führen, staatliche Institutionen und vornehmlich die Gesetze nicht substantiell im Sinne einer unvordenklichen Naturordnung hinzunehmen, sondern ihren Status hinsichtlich der historischen, kulturellen und individuellen Bedingungen zu prüfen.93 Gleichwohl bleiben die Gesetze und die in ihrer Anwendung geübte Gerechtigkeit allgemein gültig;

sie sind regulativ zu verstehen. Darüber hinaus beruft sich Höffe auch auf Kant, indem er nun die Idee der Unbedingtheit, des Kategorischen also, betont. Allerdings weist er

Theorie aber hätte unablässig nach ihren Voraussetzungen zu fragen: der ‘Teufel’ steckt nicht nur im Detail, sondern meist dort, wo man ihn nicht vermutet.

91 Otfried Höffe, Strategien der Humanität. Zur Ethik öffentlicher Entscheidungsprozesse, Frankfurt a.M.

1985, S. 323f.

92 Vgl. Otfried Höffe, Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme der praktischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1984, S. 57: „Die emanzipatorische Kraft der aristotelischen Ethik besteht nicht darin, sich gegen diese primäre, in Polis-Institutionen kondensierte Sittlichkeit, sich gegen ein Handeln im Rahmen des Ethos zu wenden, sondern einen verbleibenden, den formalen Zwangscharakter des Ethos aufzuheben.

Sie setzt in dem Sinne frei, daß aufgrund der Reflexion die bestehenden Gesetze, Sitten und Gewohnheiten als bloß Bestehendes aufgelöst“ werden, „wodurch ein bislang mehr naturwüchsig, weil fraglos vollzogenes Leben im Ethos in ein durch die eigene Vernunft mitgeleitetes transformiert wird.“

die personale Verengung dessen, was ‘ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden’ zurück. Es gilt nicht mehr nur der individuelle ‘gute Wille’, sondern die Öffentlichkeit, die je schon praktizierte Sittlichkeit eines rechtlich und staatlich verfassten Gemeinwesens.94 Dadurch schiebt sich der ‘öffentliche Gebrauch der Vernunft’ und insofern auch die diskursive Prüfung bloß subjektiver Maximen in den Vordergrund. Höffe überlässt den Einzelwillen der Überprüfung durch den Kategorischen Imperativ: dies führt zur Moralität. Der allgemein und öffentlich bekundete Wille hingegen bindet sich im Vertrag: dies begründet die politische Gerechtigkeit als „distributiv vorteilhafte Freiheitskoexistenz.“95 Die vertragliche Bindung bedeutet einen gegenseitigen Freiheitsverzicht und ist durch ein aufgeklärtes Selbstinteresse motiviert, nämlich nicht bloß Täter willkürlicher Handlungen sein zu können, sondern auch deren Opfer.

In diesem minimalen Sinne der einsichtigen Verträglichkeit ist die Staatlichkeit begründet. Allerdings ist ihre gesetzliche Verfassung nicht nur vernunftrechtlich, durch vernünftige Einsicht begründet (Kant), sondern hängt ebenso von den kulturellen, ökonomischen und politischen Kontexten (Aristoteles) ab. Zur Aufrechterhaltung der Spannung zwischen Vernünftigem und Herkünftigen konzipiert Höffe ein vermittelndes Minimum rationalen Eigeninteresses oder zweckorientierter Rationalität. Sie soll die drei Wirklichkeitsbedingungen der Gerechtigkeit begründen: (1.) die grundlegenden Freiheitsrechte und -pflichten; (2.) den staatlichen Zwang, wenn er zum Vorteil aller ist, also dem Erhalt oder Ausbau der gemeinschaftlichen Freiheit dient; (3.) die dauerhafte und zuverlässige Institutionalisierung des Staates mit seinen Zwangs- und Gewaltbefugnissen.96 Damit hat Höffe auch den normativen Rahmen seiner

„Neuvermessung des Gerechtigkeitsdiskurses“ gesteckt: „Die Rechts- und Staatsverhältnisse werden nicht abgeurteilt und verworfen, vielmehr nach Umfang und Grenzen ihrer Legitimität vermessen; die philosophische Kritik intendiert eine

93 Mit dieser Betonung der kritischen und distanzierenden Reflexion unterscheidet sich Höffe durchaus von anderen (Neo)Aristotelikern. Vgl. dazu Herbert Schnädelbach, „Was ist Neoaristotelismus?“, in:

ders., Zur Rehabilitierung ..., a.a.O., S. 219ff.

94 Vgl. Otfried Höffe, „Recht und Moral: ein kantischer Problemaufriß“, in: Neue Hefte für Philosophie, Heft 17, 1979, S, 9ff.

95 Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit. Grundlegung einer kritischen Philosophie von Recht und Staat, Frankfurt a.M. 1987, S. 382.

96 Vgl. ebd., S. 428ff.

Legitimation und Limitation des Staates.“97 Höffes Vorstellung von einem „Staat der Gerechtigkeit“ versucht sich an der Lösung „der legitimationstheoretisch schwierigen Aufgabe, den Staat aus nicht schon moralischen Subjekten aufzubauen.“98 Selbst einem

‘Volk von Teufeln’, wie er im Rekurs auf Kant sagt, soll der Staatsaufbau möglich sein – wenn sie nur Verstand haben.99 Nun wird sich diese Rationalitätsprämisse durchaus als wahrscheinlich erweisen; der Fall eines nicht zweckrational gedämpften, uneigennützigen und radikalen Bösen – und das wäre freilich mehr als das sonst so beliebte Beispiel des Trittbrettfahrers, der sich auf Kosten anderer Vorteile erschleicht – kann dagegen als unwahrscheinlich gelten. Ausgeschlossen ist die reine Bösartigkeit jedoch nicht, sie kann immer möglich sein.100

Angesichts der stets gegenwärtigen Möglichkeit eines extraordinäreren Bösen bleibt die politische Gerechtigkeit auf eine moralisierende Einschränkung angewiesen, wie gering auch immer. In der ganz und gar zweckrational ausgerichteten Argumentation muss sich mit der Rationalitätsprämisse auch ein Rest von Moral eingeschlichen haben, der nicht nur aus Zweckhaftigkeit und Eigennutz abzuleiten ist, wenn er denn von Bestand sein soll. Reicht für den Fortbestand eines politisches Gemeinwesen nun die Wahrscheinlichkeit aus, wird es als statistisches Rechenexempel oder Wette auf die Zukunft bestehen und das Vertrauen seiner Mitglieder wecken können? Diese Frage verweist auf ein grundsätzliches Problem, wie sich insbesondere in Höffes semantischer Untersuchung des Gerechtigkeitsbegriffs zeigt: Die „Semantik der politischen Gerechtigkeit beginnt mit einer deskriptiven Semantik und geht dann zu jener Semantik in legitimatorischer Absicht über, in der nicht länger die tatsächliche Verwendung des Gerechtigkeitsbegriffs, sondern die Legitimität dieser Verwendung untersucht wird.“101 Eben hier, an dem entscheidenden Übergang von Sein zum Sollen, bleibt Höffe die Antwort schuldig, auf welche Weise normativ gehaltvolle Gerechtigkeits-Semantiken, wie etwa die ‘objektive Gültigkeit’, der ‘Vorrang’ gegenüber funktionalen,

97 Ebd., S. 11.

98 Otfried Höffe, „Erwiderung“, in: Wolfgang Kersting (Hg.), Gerechtigkeit als Tausch?

Auseinandersetzung mit der politischen Philosophie Otfried Höffes, Frankfurt a.M. 1997, S. 356.

99 Vgl. Otfried Höffe, Den Staat braucht selbst ein Volk von Teufeln. Philosophische Versuche zur Rechts- und Staatsethik, Stuttgart 1988.

100 Vgl. dazu Niklas Lumann, „Politik und Moral. Zum Beitrag von Otfried Höffe“, in: Politische Vierteljahresschrift Nr. 32, 1991, Heft 3, S. 498; und zuletzt die Monographie von Rüdiger Safranski, Das Böse oder das Drama der Freiheit, München/Wien 1997. Zur Unvermeidlichkeit, aber auch Unverzichtbarkeit des Parasitären vgl. Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt a.M. 1981.

101 Otfried Höffe, Politische Gerechtigkeit..., a.a.O., S. 50.

pragmatischen oder auch moralischen Bewertungen, ‘Zwangsbefugnisse’ des Staates – wie solche Bedeutungen und Ansprüche legitimiert sein sollen.102 Wie soll die politische Gerechtigkeit, also die bloß zweckrational motivierte, distributiv vorteilhafte Freiheitskoexistenz, mit gerechtigkeitsexterner Legitimität ausgestattet sein?

Ohne einen normativ-legitimen Hintergrund sind der Geltungsanspruch, irgendein Vorrang oder Zwang nichts weiter als willkürlich – Naturereignisse. Die politische Gerechtigkeit mag ganz und gar zweckrational die damit verbundenen Freiheitsverluste mit den -gewinnen verrechnen; der hier statthabende ‘transzendentale Tausch’ zwischen bloßer Willkür und Sicherheit durch Ordnung, Regeln oder Verteilung der Freiheit mag sogar zustimmungsfähig sein: „Einer für sich vorteilhaften Praxis kann man frei zustimmen. Mit dem Gerechtigkeitsprinzip des distributiven Vorteils wird daher die Zustimmungsfähigkeit eines jeden zum Legitimationsprinzip erhoben.“103 Doch warum soll diese im Eigennutz begründete, gleichwohl allgemeine Zustimmungsfähigkeit, warum soll der allgemeine Vorteil der Vergesellschaftung – eine Frage, die sich schon bei Hobbes, Hume oder Rawls stellte – gerecht sein? Ist es die unaufhebbare Konfliktnatur des Menschen, die sich durch staatlichen Zwang vor sich selber schützt?

Wird, was in der Summe zum Wohle aller ist, auch dem Einzelnen gerecht? Gibt es überhaupt noch irgendein Recht für ihn? Ob nun anthropologisch oder moralisch-ethisch, die politische Gerechtigkeit als gegenseitig bevorteilender, vertraglicher und also verbindlicher Freiheitsverzicht bedarf der vorvertraglichen Kontexte, der je schon praktizierten Sittlichkeit, der Gewohnheiten oder schlicht des Herkünftigen. Die allgemeine Zustimmung kann nur hier entstehen und darf keineswegs zur totalisierenden Homogenisierung der allemal heterogenen Interessen entraten, wodurch alle Motivationen, auch die sittlichen, zerstört würden.

Ein Vertrag ergeht nicht wie das einmal beschlossene und dann immerfort gültige Gottesurteil, sondern wird nur mit dem Wissen geschlossen, dass er anfechtbar bleibt;

ohne diese ihm stets gegenwärtige Möglichkeit der Anfechtung hätte er keinen Sinn.

Verträglichkeit und mehr noch allgemeine Zustimmung können allenfalls zu einem strategischen, eben pragmatischen Konsens führen. Konsens ist immer möglich –

102 Vgl. zu diesen Beispielen ebd., S. 50ff.

103 Ebd., S. 85.

wenigstens als ‘kontrafaktische Idealisierung’ denkbar –, doch warum er in einem gehaltvollen, nicht nur funktionalen oder pragmatischen Sinne gerecht sein soll, ist damit nicht gesagt: „Das Kriterium des distributiven Vorteils ist viel zu schwach, um in einem normativ kontextfreien Zustand, um im rein deskriptiv-konfliktanthropologisch verfassten primären Naturzustand ein Rechtsverteilungsergebnis des negativen Freiheitstausches zu sichern.“104 Darüber hinaus macht die hier angeführte distributive oder auch Tauschgerechtigkeit eine weitere Voraussetzung, dass es nämlich überhaupt etwas zu tauschen gibt, also die Beteiligten über ein Bündel von Gütern und Rechten bereits verfügen, und dass Güter und Rechte im Vorhinein vergleichbar sind, was immer das heißen mag: Ein Starker und ein Schwacher werden sich jedenfalls nie auf ein fifty-fifty einigen, nicht einmal auf einen zwar ungleich verteilenden, aber beiden zum Vorteil gereichenden Modus – auch wenn es um die vermeintlich bestverteilte, allen gleichermaßen zukommende Sache: die Freiheit geht.

Die offenkundige Begründungsschwäche von Höffes politischer Gerechtigkeit verdankt sich letztendlich einer von ihm selbst initiierten Trennung, der von individueller Moralität und politischer Gerechtigkeit. Die hierfür verantwortliche Furcht vor einer Moralisierung des Politischen oder des Rechts mag in der Tat berechtigt sein. Doch auch die Politik und mit ihr die politische Gerechtigkeit bleibt auf ‘Ressourcen’

angewiesen, auch sie ist in irgendeiner Weise wertgeleitet. Wie schon bei Habermas gesehen, ist die Moral nicht ohne erheblicher Zusatzannahmen vernünftig zu begründen;

ebenso erweist sich Höffes minimale Rationalitätspräsupposition als ungeeignet, Gerechtigkeit hervorzubringen. Sollten Prinzipien der Gerechtigkeit vormals die unhintergehbaren Voraussetzungen kommunikativer Beratungs- oder Entscheidungsprozesse beschreiben, also in konstitutiver Funktion wirken, so finden sie sich auch nur wieder an spezifische Kontexte verwiesen, in denen sie sich pragmatisch zu bewähren haben. Höffes Projekt der wissenschaftlichen und vor allem philosophischen Politikberatung bleibt eigentümlich unpolitisch, weil sie kaum berücksichtigt, in welchem Maße die Politik mit ihren Fraktionierungen und Polarisierungen auch ‘externe’ Beratungsgremien erfassen kann: Hier ist guter Rat nicht etwa teuer, sondern eine Meinung unter vielen. Zudem bedarf es mehr als irgendwelcher

104 Wolfgang Kersting, „Herrschaftlegitimation, politische Gerechtigkeit und transzendentaler Tausch.

Eine kritische Einführung in das politische Denken Otfried Höffes“, in: ders, Gerechtigkeit als Tausch?...,

Prinzipien, es bedarf derjenigen, die sie, aus welchen Gründen auch immer, geltend machen: „Die politische Gesellschaft ist eine Zusammenhang, den man wollen können muß, auch wenn man ihn faktisch immer schon vorfindet.“105

a.a.O., S. 54.

105 Volker Gerhardt, „Das wiedergewonnene Paradigma. Otfried Höffes moderne Metaphysik der Politik.

Nebst einem Nachtrag von 1995: Ohne Selbstbegriff“, in: Wolfgang Kersting (Hg.), Gerechtigkeit als Tausch?..., a.a.O., S, 86.