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3 Die Gegenwart der Gerechtigkeit

3.1 Gerechtigkeit als liberales Prinzip

John Rawls versucht in seiner Theorie der Gerechtigkeit eine Neuformulierung der Naturrechts- und Vertragstheorie. Er entwirft eine fiktive Situation, einen

‘Naturzustand’ der Menschen, in dem niemand um seine gesellschaftliche Lage und um

seine individuellen Eigenschaften weiß; in diesem Zustand der Unwissenheit ist jeder aufgefordert, zu prüfen und zu urteilen, was für das gerechte Zusammenleben in einer liberal-bürgerlichen Gesellschaft notwendig sein soll.54 Hinter dem umfassenden ‘veil of ignorance’ ist nicht absehbar, so lautet die Pointe, welche Vor- oder Nachteile der Unwissende von seinen Entscheidungen zu erwarten hat; deshalb, weil er Schaden für sich befürchten muss, wird er nicht uneingeschränkt egoistisch entscheiden. Allerdings soll dieser Zustand eines durch Unwissenheit entschärften Eigennutzes erst einmal eingenommen werden, was nur aus bereits uneigennützigen Motiven geschehen kann.

Die Fiktion einer solchen Urszene gerechten Entscheidens birgt insofern die schon von Hobbes her vertrauten Probleme: Unerfindlich bleibt, warum und wie der ‘natürliche’

Zustand der Unwissenheit, der Nullpunkt aller gerechten Entscheidungen überhaupt erreicht werden kann; unklar bleibt, was die hier vorgefundene ‘Natur’ in ihrer Uneigennützigkeit und damit Antriebslosigkeit wiederum motivieren soll, über sich hinauszugehen und in die ‘Kultur’ zurückzukehren; unabsehbar bleibt schließlich, wohin sie sich an den kultur- oder gesellschaftskonstitutiven Eigennutz vermitteln soll, um überzeugend zu sein.

Angesichts dieser Probleme ist es nahe liegend, Rawls’ weitreichende Spekulation eher als Vorschlag zu verstehen, bei der Erörterung von Gerechtigkeitsprinzipien die spezifischen Lebensverhältnisse und Bedürfnisse weitestgehend unberücksichtigt zu lassen.55 Doch auch mit dieser Einschränkung geht es Rawls um konstitutive, die gesellschaftlichen Institutionen grundlegende Gerechtigkeitskriterien.56 Er formuliert deren zwei: „1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist. 2.

Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit

54 Vgl. dazu John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit (1971), Franfurt a.M. 1975, S. 28: „Die Entscheidung, die vernünftige Menschen in dieser theoretischen Situation der Freiheit und Gleichheit treffen würden, bestimmt die Grundsätze der Gerechtigkeit.“ Vgl. a. S. 140ff.

55 Die Literatur zu der angedeuteten Fehlschlüssigkeit und den Folgeproblemen sowie möglichen Lösungen ist zahlreich; ich verweise nur auf Otfried Höffe (Hg.), Über John Rawls Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1977, und neuerdings Wilfried Hinsch (Hg.), Zur Idee des politischen Liberalismus. John Rawls in der Diskussion, Frankfurt a.M. 1997.

56 Vgl. dazu John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, a.a.O., S. 23: „Für uns ist der erste Gegenstand der Gerechtigkeit die Grundstruktur der Gesellschaft, genauer: die Art, wie die wichtigsten gesellschaftlichen Institutionen Grundrechte und -pflichten und die Früchte der gesellschaftlichen Zusammenarbeit verteilen.“

Positionen und Ämtern verbunden sind, die jedem offen stehen.“57 Diese Kriterien kommen allerdings auch ohne naturrechtliche Begründung aus, denn insoweit sie uns plausibel erscheinen, können sie zum historisch gewachsenen Bestand unserer Gerechtigkeitsvorstellungen gezählt werden: sie haben sich hier und jetzt zu bewähren und müssen, falls nötig, in dieser Wirklichkeit durchgesetzt werden. Rawls kann also auf die naturrechtliche Letztbegründung verzichten, wodurch seine Konzeption der Gerechtigkeit eher regulativ und insbesondere pragmatisch wird.58 Gerechtigkeitsstandards mögen universal und sogar mit naturrechtlicher Dignität ausgestattet sein – sie gelten gleichwohl nur spezifisch, in historisch und sozial relativen Zusammenhängen. Mit dieser Einsicht droht Rawls nicht unbedingt ein Relativismus, denn auch historische Kontingenz enthebt nicht der Begründung oder Verteidigung von Prinzipien der Gerechtigkeit; im Gegenteil kommen sie dadurch, dass nicht alles vorentschieden ist, erst zur Geltung.

Der Verzicht auf metaphysische und substantielle Letztbegründung sowie die Rücksicht auf die kontingente und plurale Verfassung politischer Gemeinwesen führen zum Konzept des ‘übergreifenden Konsenses’. Er soll wie ein Gesellschaftsvertrag auf Zeit wirken, er ist vorläufig, immer wieder neu auszuhandeln und kann eben auch misslingen! Wie in einer Art realpolitischer Schnittmenge beinhaltet er divergierende und konkurrierende Doktrinen, verschiedenste Argumente zur Begründung sowie Methoden der Rechtfertigung. Insbesondere erhebt er keine Wahrheitsansprüche, sondern lebt parasitär aus den vielen Wahrheiten.59 Wichtig ist hier nur, dass die angeführten Gerechtigkeitsprinzipien unberührt bleiben: die Grundfreiheiten, also die Rede-, Versammlungs-, Gewissens- und Gedankenfreiheit, aber auch der Schutz des Eigentums, die Unversehrtheit der Person und Rechtsstaatlichkeit; die Hinnahme von materieller Ungleichheit, sofern sie dem Gemeinwohl, also letztlich allen dient; und schließlich die formale Chancengleichheit. Dieser Katalog trägt den Ausdifferenzierungen in die vielen partikularen gesellschaftlichen Sphären nicht nur Rechnung, so als ob es sich dabei um ein hinzunehmendes Übel handeln würde. Indem er metaphysischen Einheits- und Vereinheitlichungssehnsüchten konsequent entsagt,

57 Ebd., S. 81.

58 Vgl. dazu John Rawls, „Gerechtigkeit als Fairneß: politisch und nicht metaphysisch“ (1985), in: ders., Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978-1989, Frankfurt a.M. 1994.

vermag er die konfliktuöse Vielfalt als wesentliche Voraussetzung sozialer und politischer Gerechtigkeit zu begreifen. Eine gerechte Gesellschaft wird sich in ihrer staatlichen Verfassung nicht mehr aus dem einen Punkt metaphysischer Wahrheit oder philosophischer Moral verstehen können. In diesem Sinne gilt ein Vorrang der freiheitlichen Demokratie vor der Philosophie, insbesondere gilt aber auch, dass sich der mit allerlei Zwangs- und Gewaltmitteln bewehrte Staat ebenso wenig um die Beantwortung von letzten Fragen zu kümmern hat wie er sich auf letzte Antworten stützen darf; ansonsten drohen staatliche Willkür und Übergriffe, mithin die Diktatur.60

Rawls gewährt allenfalls der Freiheit als einem letzten metaphysischen oder naturrechtlichen Rest unbedingte Geltung.61 In diesem Zusammenhang gilt es, seinen Liberalismus vor einem Missverständnis zu bewahren, denn er unterscheidet sich deutlich von liberalen Theorien, wie sie etwa von James Buchanan oder Robert Nozick vertreten werden. Als beispielhaft mag hier Nozicks Abhandlung über Anarchie, Staat und Utopie gelten, in der seine kurze und bündigeVorstellung von Gerechtigkeit auf folgende Weise erläutert wird: (1.) Die Aneignung von Eigentum gilt, wie schon bei Locke gesehen, als gerecht, wenn es sich dabei um die Erstaneignung eines bis dahin besitzlosen Zustandes handelt; (2.) die Übertragung von Eigentum gilt als gerecht, wenn es sich hierbei um zuerst angeeigneten Besitz handelt; (3.) die marktförmige Verteilung von Eigentum schließlich „ist gerecht, wenn sie aus einer anderen gerechten Verteilung auf gerechte Weise entsteht.“62 Aus dieser Reihenfolge ergibt sich klar, dass die Verteilung von Gütern auf dem Markt genau dann gerecht ist, wenn es die Übertragung und die Aneignung zuvor waren. Klar ist aber auch, dass bereits die Aneignung durch schon etablierte Formen der Übertragung und Verteilung bedingt ist und deswegen keineswegs die Urszene gerechter, weil ‘unschuldiger’ und ‘unbelasteter’

Natürlichkeit darstellt. Weiterhin entstehen dem bereits etablierten Marktgeschehen

59 Vgl. John Rawls, „Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses“ (1987), in: ders., Die Idee des poli-tischen Liberalismus..., a.a.O.

60 Vgl. dazu auch Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität (1989), Frankfurt a.M. 1992, S.

127ff.

61 Aus dem ‘Vorrang der Freiheit’ wäre für Rawls, Eine Thoerie der Gerechtigkeit, a.a.O., S. 587ff., ein Widerstandsrecht abzuleiten; vgl dazu die vorsichtigen Ausführungen zum ‘zivilen Ungehorsam’ gegen eine zwar rechtmäßige, aber ungerechte Staatsgewalt: „Ich beginne mit der Definition des zivilen Ungehorsams als einer öffentlichen, gewaltlosen, gewissensbestimmten, aber politisch gesetzwidrigen Handlung, die gewöhnlich eine Änderung der Gesetze oder der Regierungspolitik herbeiführen soll.“ (S.

401).

62 Robert Nozick, Anarchie, Staat, Utopie (1974), München 1981, S. 144.

diesseits der staatlichen oder rechtlichen ‘Bevormundungen’, gegen die sich Nozick immerzu verwahrt, erhebliche Beeinträchtigungen, etwa in so ‘naturwüchsiger’ Gestalt wie dem Diebstahl, dem Betrug, der Erpressung, dem Kartell oder dem Monopol, dem Lobbyismus und allerlei anderen Machenschaften.

Nozick beurteilt die gerechte Verteilung allein nach ihrem historischen Zustandekommen, dem ursprünglichen Erwerb. Dieser aber ist nirgends, weder an der Wall Street noch in irgendeiner wüsten Einöde, ohne soziale und kulturelle Voraussetzungen möglich. Die Idee vom ursprünglichen Erwerb muss insofern als Mythologie einer entfesselten Weltökonomie. Freiheit, um die es hier vorrangig gehen soll, wird gänzlich abstrakt, bloß formal verstanden und damit auch missverstanden; als Freiheit ohne allzu große Rücksichten verfehlt sie die strukturellen Bedingungen der gerechten Verteilung von Gütern. Nozicks Vorstellung von Freiheit und Gerechtigkeit formuliert ein schlichtes Privileg derjenigen, die sich etwas bereits – immer schon, seit je her – angeeignet haben. Er nimmt insofern die Unfreiheit anderer mit geringeren oder keinen Chancen, schlechterer oder keiner Ausbildung, weniger oder keinem Besitz nicht etwa nur in Kauf; dann nämlich müsste er sich zu dem Ausschluss sowie seinen sozialen und politischen Folgekosten wie auch immer anerkennend verhalten. Freiheit, wie sie Nozick versteht, hält derlei nicht einmal mehr der Rede wert. Sozialstaatlichkeit, mindestens aber Chancengleichheit, wie sie die Gerechtigkeitsprinzipien von Rawls nahe legen, tauchen bei Nozick nicht mehr auf. Schlimmer noch, droht die Gerechtigkeit in der alleinigen Orientierung auf den individuellen Besitz ganz zu verschwinden, weil ihre institutionelle und konkrete Basis, das staatliche genauso wie das soziale Gefüge erodieren.63 Soll die Freiheit und in Maßen auch die Gleichheit, soll mithin auch die Gerechtigkeit von Bedeutung sein, dann bedarf es einer eingeübten und gemeinschaftlichen Praxis.