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3 Die Gegenwart der Gerechtigkeit

3.3 Gerechtigkeit als universale Inklusion

Demgegenüber möchte die Diskursethik von Jürgen Habermas auf Nummer sicher gehen und beansprucht die Unabhängigkeit von historisch kontingenten oder kontextuell sedimentierten Sittlichkeitsgehalten.73 Bereits in seiner Theorie des kommunikativen Handelns betont er „jenes Moment der Unbedingtheit, welches mit den kritisierbaren Geltungsansprüchen in die Bedingungen des Konsensbildungsprozesses eingebaut ist – als Ansprüche transzendieren diese alle räumlichen und zeitlichen, alle provinziellen Beschränkungen des jeweiligen Kontextes.“74 Geltungsansprüche sind zwar in alltagssprachliche Kontexte eingelassen und auch nur dort zu finden, sie sind Sedimente und Ressourcen kommunikativer Rationalität, oder wenn man so will: je schon praktizierte Sittlichkeit – sie können jedoch im Scheitern lebensweltlicher Verständigungsprozesse, im Konfliktfall also, eigens thematisiert werden. In einer Art kritischen und rationalen Rekonstruktion75 werden Streitigkeiten oder Missverständnisse ihrer inhaltlichen Bindung benommen und dafür ihrer formalen Voraussetzungen durchsichtig. In rational-rekonstruktiver Sicht geht es deshalb um die „Form der Argumente“ bei der „Begründung normativer Sätze.“76 Jedes Sprachhandeln ist unkündbar mit Geltungsansprüchen verknüpft, und zwar unabhängig von dem spezifischen Inhalt der Sätze und den Absichten der Sprecher. Dabei machen sich

‘hinter ihrem Rücken’ und gleichwohl unter ihrer tätigen Mitwirkung drei Ansprüche geltend, nämlich 1. wahr, also sachbezogen und -angemessen zu sprechen, 2. richtig, also regelkonform zu handeln und 3. wahrhaftig, also unverstellt und ehrlich zu sein.

Entscheidend ist, dass in der diskursiven Praxis ohne solche Formen der Verbindlichkeit, etwa einklagbarer Wahrheitsansprüche, jedweder zwischenmenschliche Umgang zum Scheitern verurteilt wäre.

73 Vgl. dazu die ausführliche Kritik aus der diskursethischen Perspektive von Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt a.M.

1994, S. 227ff. u. 2243ff.

74 Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 589f.

75 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Rekonstruktive vs. verstehende Sozialwissenschaften“, in: ders., Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M.

76 Jürgen Habermas, „Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm“, in: ders., Moralbewußtsein..., a.a.O., S. 67.

Habermas will letztlich „zeigen, dass die Idee der [moralisch-normativ urteilenden]

Unparteilichkeit in den Strukturen der Argumentation selbst verwurzelt ist und nicht als ein zusätzlicher normativer Gehalt in sie hineingetragen zu werden braucht.“77 Dabei erweist sich der diskurstheoretische Ansatz von Habermas nicht nur als formal, sondern ebenso als prozedural. Denn er beansprucht nicht, Normen zu erzeugen, sondern nur, diese zu prüfen: „Praktische Diskurse müssen sich ihre Inhalte geben lassen“78 und bleiben insofern auf „Lebensformen“ angewiesen, „die in diesem Sinne universalistischen Moralen ‘entgegenkommen’“.79 Allerdings ist mit der ‘Moral’ ein Problem angesprochen: Wie soll ihr mit unbedingter Geltung das Attribut ‘universal’

zukommen? Habermas scheint bei seinem formalen Begründungs- und Rechtfertigungsverfahren nicht ohne material-semantische oder anthropologische Voraussetzungen auszukommen: „‘Moralisch’ möchte ich all die Intuitionen nennen, die uns darüber informieren, wie wir uns am besten verhalten sollen, um durch Schonung und Rücksichtnahme der extremen Verletzbarkeit von Personen entgegenzuwirken.

Unter anthropologischen Gesichtspunkten lässt sich nämlich Moral als Schutzvorrichtung verstehen, die eine in soziokulturelle Lebensformen strukturell eingebaute Verletzbarkeit kompensiert.“80 Übrig bleibt ‘nur’ die Frage nach Herkunft und Entstehungsbedingungen von ‘moralischen Intuitionen’. Sind sie nicht viel eher historisch und kulturell sehr variable Werte? Haben sie nicht auch sehr unterschiedliche Funktionen und Bedeutungen in jeweils unterschiedlichen Situationen? Ist tatsächlich jede moralische Intuition geeignet oder findet nicht vielmehr eine auf das Verfahren zugeschnittene Vorauswahl statt?81

Alle Normen, Werte oder Tugenden, mithin auch das, was als ‘gerecht’ gelten soll, müssen sich der diskursiven Prüfung aussetzen. Dieses Verfahren bleibt größtmöglicher

77 Ebd., S. 86.

78 Ebd., S. 113.

79 Ebd., S. 119.

80 Jürgen Habermas, „Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu“, in: ders, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt a.M. 1991, S. 14.

81 Vgl. zu diesen Fragen nach den ‘Fundamenten’ moralischer, aber auch kritischer oder schlicht rationaler

‘Intuitionen’ (also Hypothesen) Herbert Schnädelbach, „Transformation der kritischen Theorie. Zu Jürgen Habermas’ ‘Theorie des Kommunikativen Handelns’“, in: ders., Vernunft und Geschichte. Vorträge und Abhandlungen, Frankfurt a.M. 1987, S. 259: „Daß in kommunikativem Handeln unbedingte Ansprüche erhoben werden, mag ja der Fall sein, aber dies qualifiziert sie noch nicht dazu, kritische Theorie zu fundieren; dazu müßten sie selbst kritisch beurteilbar sein, d.h. der Theoretiker müßte die unbedingten Maßstäbe seiner Kritik unbedingt schon mitbringen, und er wird sie niemals auf dem Wege der hypothetischen Regelrekonstruktion seinem Gegenstand entnehmen.“ Woher also nehmen und nicht ...?

Allgemeinheit verpflichtet: sei es in Gestalt größtmöglicher Beteiligung aller Betroffenen, sei es als bestmögliche Erfüllung von Voraussetzungen im Sinne eines umfänglichen, zuverlässigen und präzisen Wissens, einer differenzierten Wahrnehmung, moralischer Einstellung, Freiheit von unzulässiger Beeinflussung und Repression etc.82 Schließlich realisiert sich in der argumentativen, also nachvollziehbar erzielten, allgemeingültigen und -verpflichtenden Einigung nicht so sehr ein strategisches Kalkül, als vielmehr eine unbedingte, der Sprache eigene Tendenz zum Allgemeinen.83 Der auf diesem Wege erzielte Konsens kann insofern als gerecht gelten, als er die Ansprüche aller an ihm Beteiligten – idealtypisch sind alle an ihm beteiligt – allesamt umfasst; der Ausschluss ist ausgeschlossen. In einer letzten großen Anstrengung kann die hier generierte Moral sogar als ‘nachmetaphysisch’ gelten, weil sie alle traditionalen Moralbestände der Prüfung unterzogen und in sich ‘aufgehoben’ hat. An diesem höchsten Punkt seiner Argumentation jedoch bleibt Habermas bemerkenswert uneindeutig, so als wolle er sich nach den hehren Ansprüchen sogleich wieder in die Ermäßigung flüchten: „Das Moment Unbedingtheit, das in den Diskursbegriffen der fehlbaren Wahrheit und Moralität aufbewahrt ist, ist kein Absolutes, allenfalls ein zum kritischen Verfahren verflüssigtes Absolutes. Nur mit diesem Rest von Metaphysik kommen wir gegen die Verklärung der Welt durch metaphysische Wahrheiten an“.84 Mit anderen Worten: Nicht mehr die Tradition, dafür das Prozedere ist jetzt absolut.

Jedoch: Auch ein ‘verflüssigtes Absolutes’ bleibt ein Absolutes!

Habermas scheint den normativen Kräften faktischer Sprachentfaltung, sprich: kritisch-rekonstruktiver Diskursivierung, allerhand zuzutrauen. Die Diskursteilnehmer werden zu Schöpfern ihrer normativen Welt – ohne weitere institutionelle Bindung als die des regelhaften Sprachgeschehens. Diesem „diskursethisch beseelten Rousseauismus“ 85 korrespondiert ein beständiges Misstrauen, mindestens aber eine eigentümliche

82 Vgl. zu diesem Programm universaler Inklusion die Problematisierung des Ausschlusses bei Seyla Benhabib, Kritik, Norm und Utopie: Die normativen Grundlagen der kritischen Theorie, Frankfurt a.M.

1992, S, 187ff, bes.190 u. 217.

83 Dies berührt die ‘unhintergehbare’ Grundvoraussetzung der Habermasschen (aber auch Apelschen) Diskursethik: Ein Verstoß gegen diese sprachlich implementierte Allgemeinheit (vulgo: Lügen, Betrügen, alles in Zweifel ziehen) kann in dieser Perspektive nur zu selbstzerstörerischer Vereinzelung führen; vgl.

dazu Jürgen Habermas, „Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm“, a.a.O., S. 109f.

84 Jürgen Habermas, „Die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen“, in: ders., Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a.M. 1991, S. 184.

85 So Wolfgang Kersting, Die politischen Philosophie des Gesellschaftsvertrags, Darmstadt 1996, S. 260 (in Fn. 1).

Geringschätzung gegenüber den Institutionen. Noch in seiner Diskurstheorie des Rechts und des Rechtsstaats will Habermas die Ebene „einer politikwissenschaftlichen Institutionenlehre“ ganz schlicht und ohne weitere Begründung „überspringen.“86 Sind hier nur Verhärtungen, Verdinglichungen, ‘Verstetigungen’ und damit Hindernisse des diskursethischen Fluidums zu erwarten? Wie auch immer: Ohne weiterreichende institutionelle Rückbindung kommt es immer dann, wenn sich alle über alles Fragliche geeinigt, wenn sie sich in höchster Allgemeinheit zusammengefunden haben, kurzum:

wenn alle sich ihrer komplexen ‘Bedürfnisnatur’ durchsichtig geworden sind und nichts mehr zu klären ist, kommt es unvermeidlich zum Anwendungsproblem: Wie sich ans Hiesige vermitteln? Habermas findet hier zur „praktischen Klugheit“ zurück, „die der diskursethisch ausgelegten praktischen Vernunft vorgeordnet ist, jedenfalls nicht ihrerseits Diskursregeln untersteht.“87 Mit diesem Zugeständnis an den konkreten Einzelfall verliert die diskursethisch ausgelegte Gerechtigkeit einiges von ihrem normativen Effet; sie geht insbesondere ihrer fundamentalen, also konstitutiven Bedeutung verlustig. Zwar mögen die praktische Klugheit und Urteilskraft an der Allgemeinheit orientiert, durch sie als ein Gebot der Verallgemeinerungsfähigkeit

86 Jürgen Habermas, Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1992, S. 350. Zwar begreift Habermas hier „die Prinzipien des Rechtsstaates als konsequente Antwort auf die Frage, wie die anspruchsvollen Kommunikationsformen einer demokratischen Meinungs- und Willensbildung institutionalisiert werden können. Die Diskurstheorie macht das Gedeihen deliberativer Politik nicht von einer kollektiven handlungsfähigen Bürgerschaft abhängig, sondern von der Institutionalisierung entsprechender Verfahren und Kommunikationsvoraussetzungen, sowie vom Zusammenspiel der institutionalisierten Beratungen mit informell gebildeten öffentlichen Meinungen.“ Trotz der Institutionengarantie hält Habermas an der Gegenüberstellung zu einer prinzipiell nicht institutionalisierbaren ‘kommunikativen Macht’ fast;

‘institutionelle Phantasie’ oder die Pluralisierung der Institutionen (z.B. Bürgerinitiativen, Frauenbewegung, Non-Government-Organizations) scheinen hier nicht vorgesehen zu sein, weshalb mit der Institutionen- auch eine Legitimitätslücke entstehen muss. Vgl. zu dieser Vakanz auch Herbert Schnädelbach, „Was ist Neoaristotelismus?“, in: ders., Zur Rehabilitierung des animal rationale. Vorträge und Abhandlungen 2, Frankfurt a.M. 1992, S. 227f.: „Die Diskursethiker freilich seien an dieser Stelle aufgefordert, das Thema ‘Institutionen’ nicht den „Institutionalisten“ zu überlassen und ihr Konzept endlich um eine entsprechende Institutionenethik zu ergänzen; dies wird nur möglich sein, wenn unter ihnen nicht mehr bloß von Moralität und Sittlichkeit, sondern auch von Legalität die Rede ist.“

(‘Institutionenethik’ kurs. v. mir, C.S.)

87 Jürgen Habermas, „Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm“, a.a.O., S. 114. – Habermas scheint überhaupt vorsichtiger geworden zu sein; in seinem Buch, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M. 1996, möchte er zwar an den mit dem Eintritt in das diskursive Geschehen verbundenen Geltungsansprüchen mitsamt ihrer auf Universalität und Konsens zielenden Unbedingtheit festhalten, doch gibt „es in praktischen Fragen keine ‘letzten’ Evidenzen und keine ‘schlagenden’ Argumente“ (S. 342) mehr. Der Universalisierungsgrundsatz ist hier „vorerst nicht mehr als ein abduktiv gewonnener Vorschlag“ (S. 60), für den mit ‘Argumenten der Plausibilität’

geworben werden muss (vgl. S. 63). Mit der ‘Plausibilität’ sind weiterreichende Voraussetzungen als die diskursethischen angesprochen; die gemeinschaftlich eingespielte Praxis wird aufgewertet – ein aristotelischer Einschlag bei Habermas? Mindestens aber meldet sich hier der von ihm lange Zeit vernachlässigte Aspekt der ‘Verständlichkeit’, mit anderen Worten: das (situative) Verstehen, in seiner grundlegenden Bedeutung zurück.

einzelner Maximen reguliert sein. Doch sind sie nicht mehr in einer wie auch immer diskursiv entstandenen Unbedingtheit fundiert.

Die Gerechtigkeit, verstanden als universales Inklusionsprinzip, hat sich schlicht und einfach im Konkreten zu bewähren, sie muss pragmatisch werden. Wie weit sie hier kommt, hängt nicht von ihr allein ab; gefordert ist auch die nicht weiter begründbare Tugend der Einmischung und des Eintretens in ganz diesseitige Diskurse mit all ihren Widrigkeiten, Missverständnissen, Eitelkeiten, Machtspielen etc. Die Diskursethik lockt mit dem Versprechen, sich und insofern auch die Forderung nach gerechteren Verhältnissen in einem finalen Stillstand absoluter Einigung zum Verschwinden zu bringen.88 Doch ungeachtet dessen bleiben die vielen Widerstreite, das Unversöhnliche, der Ausschluss und die Gewalt. Dies mag sogar als das geringere Übel scheinen, denn eine gewissermaßen avantgardistische, je schon in das Jenseits ‘kontrafaktischer Idealisierung’ vorpreschende Gerechtigkeit würde sich angesichts der unentrinnbar endlichen Bedingungen, unter denen sie sich zu realisieren hätte, kaum durch ihre universale Selbstvollendung ‘abschaffen’ können, sondern viel eher in ihren dann unvermeidlich autoritären und destruktiven Zügen. Mindestens aber verführt sie dazu,

„alles solange für irrational zu halten, wie es nicht vollständig argumentativ und diskursiv eingelöst ist, und damit wäre das Feld des Irrationalen ins geradezu Gigantische ausgeweitet.“89 Mit anderen Worten: Ein ausschließlich argumentativ-diskursiv generierter Universalismus droht, perspektivisch genau die

‘Unübersichtlichkeit’ oder Unverbindlichkeit zu erzeugen, gegen die er anzutreten vorgibt.90