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4 Gleichheit und Verbindlichkeit

4.2 Folgen der Gleichheit

Jemand anderem etwas zuzumuten und zu unterstellen, sich seinen Standpunkt anzueignen und sich schließlich in seine Lage hineinzuversetzen, mag so unvermeidlich sein wie auch mit den lautersten Absichten geschehen, aber es darf nicht wirklich, so lautet der entscheidende Vorbehalt, mit der konkreten Andersheit oder individuellen Besonderheit des Gegenübers rechnen. Darin liegt der blinde Fleck jeder Form praktizierter Gleichheit. Eine Zurückweisung, eine Enttäuschung oder Verletzung kann durchaus auf postkonventionellem Niveau verhandelt werden: Wenn in einer Wohngemeinschaft hinsichtlich der gerechten Verteilung der Haushaltspflichten ein

124 So Lutz Wingert, Gemeinsinn und Moral..., a.a.O., S. 266.

Streit entsteht, dann mögen alle Betroffenen in gleichberechtigter Weise die Gründe für diesen Missstand erörtern. Mit dem Erreichen dieses Niveaus wird nicht nur handlungs- und entscheidungsentlastet über alles geredet, sondern auch den damit verbundenen Zumutungen implizit zugestimmt, etwa mit dem rücksichtslosen Trittbrettfahrer zu reden, der sich die Vorteile des Zusammenlebens erschleicht, ohne dafür entsprechende Gegenleistungen erbringen zu wollen, oder die eigene Zeit auf Diskussionen zu verwenden, von denen nicht klar ist, ob sie jemals zu verbindlichen und auch tatsächlich eingehaltenen Zusagen führen, oder eine andere Verabredung ausfallen zu lassen, so dass sich möglicherweise ein anderer brüskiert fühlen muss etc. Während in wechselseitiger Rede und Gegenrede die verschiedenen Motive vorgebracht, geprüft und entweder als unbegründet verworfen oder als begründet zugelassen werden, bleiben alle ressentimentgeladenen Vorbehalte hintangestellt und können allenfalls in

‘konsensfähiger’ Kodifizierung eingebracht werden: Ein polemisches ‘Ich habe dich noch nie leiden können’ ist dann wenigstens in ein zivileres ‘Nie hast du den Abwasch gemacht’ zu verwandeln. Schließlich übernimmt man nach bestem Wissen und Gewissen die Standpunkte der anderen und versucht, sie in ihrer Besonderheit zu verstehen und sich eine möglichst umfassende Entscheidungsgrundlage zu verschaffen.

Was folgt aus dieser Deliberation? Habermas selbst gibt hier folgende Punkte zu bedenken.125 (a) Partikulare Wertgesichtpunkte wie ein ‘Ich kann dich nicht leiden’

oder ein ‘Ich habe einfach keine Lust’ fallen als nicht konsensfähig heraus; ohne Leidenschaft und Lust drohen allerdings auch, mögliche Motivationen zu verschwinden.

(b) Konventionelle Wertgesichtspunkte wie ein ‘Da wo ich herkomme, schmeißt man das Geschirr weg anstatt es abzuwaschen’ oder ‘Ich habe gelernt, dass, wer den Müll macht, ihn auch entsorgen muss’ werden relativiert; sie kandidieren allenfalls für Normen, die ein allgemeines Interesses zum Zuge bringen sollen – auch hier droht ein Motivationsverlust. (c) Praktische Wertgesichtspunkte wie die Frage, wem etwas zugemutet werden kann, was und wie es ihm zugemutet wird, können im Rahmen allgemeiner Wechselseitigkeit weder berücksichtigt noch entschieden werden; die Anwendung konsensuell ermittelter Übereinkünfte muss – ebenfalls nicht gerade motivationsfördernd – offen und insofern auf partikulare Fähigkeiten, lokale Herkünfte,

kontextuelle Verbindlichkeiten etc. angewiesen bleiben. Hier sind immerhin offene Lernprozesse möglich, weshalb (d) eine Reihe von Beschränkungen zu beachten sind:

Um die Angemessenheit der Interpretation individueller Gesichtspunkte zu wahren, sollten auch ästhetische (‘Eine aufgeräumte Küche sieht schöner aus’) oder therapeutische (‘Ordentlich zu sein, ist viel besser für dein seelisches Befinden’) Aspekte berücksichtigt werden; weil Abwaschberge wachsen, Mülleimer überquellen oder Kühlschränke verwaisen, entsteht ein Entscheidungs- und Handlungsdruck, dem ohne Konflikte zu entsprechen kaum möglich ist; um schließlich keine flüchtige Episode zu bleiben, bedarf der einmal errungene Konsens einer Absicherung, eines (haushalts-)politischen Engagements und einer institutionalisierten Praxis (Mitbewohnerversammlungen, Putzpläne etc.).

Grundsätzlich, so Habermas, „gleichen praktische Diskurse, wie alle Argumentationen, den von Überschwemmung bedrohten Inseln im Meer einer Praxis, in dem das Muster der konsensuellen Beilegung von Handlungskonflikten keineswegs dominiert.“126 Angesichts dieser prekären Lage entsteht mit dem Erreichen des postkonventionellen Argumentationsniveaus nicht nur ein (diskursinternes) Begründungs-, sondern vor allem auch ein (dirskursexternes) Anwendungsproblem. Damit hat sich in zwei Problemdimensionen entzweit, was auf konventioneller Ebene noch eine Einheit bildet,

„weil hier die substantielle Sittlichkeit eines Traditionsmilieus noch nicht grundsätzlich in Frage gestellt ist; die konventionelle Sittlichkeit bildet einen Horizont, in dem die Mannigfaltigkeit konkreter Pflichten und Normen noch auf die zugehörigen typischen Rollen und Situationen verweist.“127 Sobald aber der postkonventionelle Einstellungswechsel vollzogen ist, fehlt die substantielle oder konventionelle Sittlichkeit und beschreibt jetzt nur noch eine kognitiv nicht mehr verfügbare Leerstelle;

eben deshalb wird der Gewinn normativer Stärke mit motivationaler und praktischer

125 Ich folge hier, wenn auch mit einem anderen inhaltlichen Bezug, den Überlegungen von Jürgen Habermas, „Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm“, in: ders. Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1983, S. 112ff.

126 Ebd., S. 116; wenn Habermas im direkten Anschluss sogar bemerkt, dass auch in lebensweltlichen Zusammenhängen die „Mittel der Verständigung [...] durch Instrumente der Gewalt immer wieder verdrängt“ werden und „sich ein Handeln, das sich an ethischen Gesichtspunkten orientiert, mit Imperativen ins Benehmen setzen [muß], die sich aus strategischen Zwängen ergeben“ (ebd.), dann wird es allerdings schwierig zu verstehen, wie eben diese Lebenswelten noch hinreichend „rationalisiert“ sein können, um „die kluge Applikation allgemeiner moralischer Absichten [zu] ermöglichen und Motivationen für die Umsetzung von Einsichten in moralisches Handeln [zu] fördern.“ (Ebd., S. 119).

127 Jürgen Habermas, „Gerechtigkeit und Solidarität...“, a.a.O., S. 75.

Schwäche bezahlt. Mit anderen Worten, Habermas hat die Diskrepanz im Selbst, von der Nagel spricht, nur zu einer Diskrepanz im Diskurs verschoben. Der perspektivische Gewinn dieser Operation ist beträchtlich: Während Nagel bei der stets konfliktären Vermittlung zwischen personen-relativen und personen-neutralen Gründen in Bezug auf das (immer auch konventionell bestimmte) ‘Selbst’ sowohl ein Begründungs- als auch Anwendungsproblem hat, braucht Habermas auf der Ebene des (ausschließlich postkonventionellen verstandenen) Diskurses nur noch ein ganz bestimmtes Problem zu sehen: Die „unparteiliche Anwendung gültiger Prinzipien und Regeln [ergibt sich] erst als ein Folgeproblem.“128 Der Verlust dieser Perspektive liegt, anders als noch bei Nagel, in einer konstitutiven Blindheit dafür, dass die Einführung und Rechtfertigung eines unpersönlichen Standpunktes bereits lange vor seiner Vollendung in allseitiger Zustimmung ein Anwendungsproblem darstellt, und zwar als unablässige Zumutung für die Betroffenen, dem seinerseits ein weiteres Anwendungsproblem vorausgegangen sein muss, nämlich der Verlust lebensweltlicher Vertrautheit.129

128 Ebd. – Das Problem der Begründung glaubt Habermas („Diskursethik...“, a.a.O., S. 86ff.) mit dem Verweis auf die in den ‘Strukturen der Argumentation bereits verwurzelte Idee der Unparteilichkeit’

erledigt zu haben. Wenn das richtig wäre, dann dürfte es nicht nur in Angelegenheiten der Begründung, sondern auch in Angelegenheiten der Anwendung kein größeres Problem der Unparteilichkeit geben: Die strukturell vorausgesetzte Unparteilichkeit beim Argumentieren müsste ‘nur’ noch aktualisiert werden.

Dagegen ist festzuhalten, dass sich (a) sprachliche Interaktion durch alles mögliche auszeichnet, unter anderem auch durch den Spezialfall der unparteilichen Argumentation; weil das so ist, entsteht bereits zu Beginn das Problem, sich auf diesen speziellen Sprach-Modus erst einmal einigen zu können und zu wollen. Überdies stellt sich (b) auch die von Habermas zwar nicht begründbare, aber doch anvisierte zwingende „Alternativlosigkeit“(ebd.) des unparteilichen Argumentationreglements nur unter der (zirkelhaften) Voraussetzung ein, dass ein entsprechendes Argumentationsniveau bereits erreicht ist; weil das so ist und weil Habermas zudem (mit guten Gründen) auf Letztbegründungsansprüche verzichtet (ebd., S. 107f), bleibt ihm schließlich nur das kontingente Faktum, daß man sich bereits – irgendwie – in unparteilicher Argumentation befinden muß. Deshalb können sich (c) die vermeintlich unvermeidlichen Voraussetzungen des (unparteilichen) Argumentierens, wie Habermas schließlich selber einräumt (ebd., S.

105), noch lange nicht als Begründung der Unparteilichkeit erweisen; weil das so ist, bleibt statt des anvisierten normativen Konses bezüglich dieser Voraussetzungen allenfalls ein faktischer Konsens übrig.

129 Zu beachten ist vor allem, dass Vertrauen weder beliebig ersetzt werden kann noch beliebig ersetzt werden sollte, etwa durch Kontrolle, Zwang, Gewalt etc.; insofern stellt es eine soziale Ressource allerersten Ranges dar, ohne die eine ganze Reihe basaler Interaktionsformen gar nicht möglich wären.

Vertrauen entsteht in konkreten und konventionell bestimmten Nahebereichen (Familie, Freundschaft etc.) und bedeutet hier die einseitige Angewiesenheit auf das Wohlwollen oder die Fürsorge anderer und, damit einhergehend, die hochgradige Verletzbarkeit durch andere: Die Verletzung des Vertrauens, etwa durch Illoyalität, staatliche Willkür, rassistische oder sexistische Attacken, führt in der Regel zu einem generalisierten Misstrauen (gegenüber dem Sexismus aller Männer, dem Rassismus aller Deutschen, der Treulosigkeit aller Menschen etc.). Die Erfahrung des Wertes eigener Leistungen oder Lebensformen weckt zumeist das Vertrauen und führt mitunter zu einem generellen Weltvertrauen, einer Offenheit, die sich auch auf das Fremde ausdehnen kann. Entscheidend für die Heranbildung des Vertrauens ist nun die Spannung zwischen singulärer Nähe und genereller Offenheit; das ‘Vertrauen in das Vertrauen’ oder das

‘Selbstvertrauen’ entsteht nur mit der Angewiesenheit auf konkrete andere und der erfolgreichen Bewältigung von Verletzungen. Dieser Zusammenhang bildet auch den konventionellen Hintergrund jeder postkonventionellen Einstellung, denn er bewahrt ihr überhaupt den Sinn für das Problem der Anwendung, nämlich die Rückgewinnung des (Welt)Vertrauens, und die Einsicht in die Möglichkeit zur

Streng genommen ist innerhalb der postkonventionellen Einstellung nur dann ein Deliberationsverfahren möglich und sinnvoll, wenn sie zuvor und währenddessen von irgendeinem (externen) Anwendungsproblem ‘betroffen’ ist. Warum und wem gegenüber sollte sie ansonsten etwas (intern) prüfen und begründen wollen? Des weiteren kann sie nur dann ein Folgeproblem in Fragen der Anwendung allgemein gültiger Prinzipien und Regeln haben, wenn sie angesichts des Verlustes lebensweltlicher Vertrautheit überhaupt einen ‘Sinn’ für die Bedeutung von Anwendungsproblemen entwickeln konnte und wenn sie sich dementsprechend von Beginn an als ein Anwendungsproblem versteht. Sobald Handlungs- und Gesprächsanschlüsse gestört oder gar unterbrochen sind, wird eine postkonventionelle Einstellung das Problem der Anwendung von Anfang bis Ende mit sich führen, und das heißt: immer wieder sich erinnerlich und in sich ‘lebendig’ halten müssen. Vergisst oder verdrängt sie aber diese, ihre eigene Herkünftigkeit, dann muss sie zum dekontextualisierten Selbstzweck geraten oder gar im demotivierten Stillstand verenden – sie käme wahrscheinlich nicht einmal über ihren Anfang hinaus.130 Kurzum: Findet das Anwendungsproblem keinen (grundlegenden) Eingang in die postkonventionelle Einstellung, dann ist praktisch nicht all zuviel von ihr zu erwarten; hat sie einmal das Anwendungsproblem in sich aufgenommen, dann kann nicht mehr von einer (rein) postkonventionellen Einstellung die Rede sein. Soll also die postkonventionell genannte Einstellung nicht wie in einem frei flottierenden Sprachspiel zur totalen Kontingenz in der Begründungs- und Anwendungsperspektive führen, dann bleibt sie durchgehend auf konventionelle, kontextuelle, partikulare oder lokale Instanzen angewiesen, die sie nicht nur wie einen motivationalen ‘Treibstoff’ in der Allgemeinheit wechselseitiger Anerkennung wird ‘verfeuern’ können; dann bleibt sie mithin von konkreten sowie geschichtlichen Personen- und Situationsindizes abhängig, die sie nicht nur wie ein kontingentes ‘Rohmaterial’ in den anonymen Deliberationsreglements wird ‘opfern’

dürfen.

Wiederherstellung von (Handlungs-)Anschlüssen. – Vgl. dazu die Studie von Niklas Luhmann, Vertrauen.

Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Stuttgart 31989.

130 Indirekt räumt dies Habermas (freilich in seiner Kritik an Rawls) auch ein; vgl. dazu Jürgen Habermas,

„Versöhnung durch öffentlichen Vernunftgebrauch“, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, Frankfurt a.M. 1996, S. 89ff.

In praktischen Diskursen gibt es keine reine oder ideale Form, nicht einmal eine diesbezügliche letzte Gewissheit. Das gilt insbesondere auch für die Formen praktizierter Gleichheit, ob sie nun auf den unpersönlichen Standpunkt, die reziproke Anerkennung oder die postkonventionelle Einstellung zurückgehen. Ein idealer Maßstab der Gleichheit, so formuliert es Albrecht Wellmer deutlich, kann – „wenn er denn ein Maßstab ist – nicht von außen, sondern nur aus der performativen Einstellung von Kommunikationsteilnehmern,“ also aus der personen-relativen Sicht der 1. Person und von daher nur „unter Rückgriff auf die jeweils in spezifischen Kontexten verfügbaren Kriterien, Rationalitätsmaßstäbe und Regeln angewendet werden [...]; der Begriff der idealen Sprechersituation kann daher keine zusätzlichen, kontextunabhängigen Maßstäbe der Kriterien der Wahrheit, Gerechtigkeit oder Vernünftigkeit liefern. Bürdet man ihm diese Rolle auf, so wird er zu einem metaphysischen Begriff [...]. Das Problem liegt hier in der Idealisierungsoperation selbst: der Begriff einer idealen Rationalität oder einer idealen Verständigungsstruktur bedeutet, wie sich zeigen läßt, die Negation der realen Bedingungen, unter denen sprachliche Verständigung sinnvoll und notwendig ist; implizit also eine Negation der Bedingungen der Geschichtlichkeit.“131 Mit anderen Worten und frei nach einer Art

‘Dialektik der Aufklärung’: Will man gegen den relativistischen Effet lebensweltlicher Partikularität und Kontextualität mit starken, also partikularresistenten und kontextinvarianten Begründungsansprüchen zu Felde ziehen, dann dürfen diese nicht zu stark, also zu situationsunabhängig sein, weil sie ansonsten Gefahr laufen, aufgrund ihrer für alle Beteiligten gleichen Geltung (a) keine personen-relativen Unterscheidungen mehr zuzulassen, (b) keine Entscheidungen mehr anzuleiten und schließlich (c) in einem frei flottierenden Sprachspiel selbst dem Relativismus anheim zufallen.132 Übrig bliebe, was doch eigentlich beseitigt werden sollte, nämlich eine Art universaler Relativismus: Alles ist für jeden gleich-gültig.

131 Albrecht Wellmer, „Konsens als Telos der sprachlichen Kommunikation?“, in: Hans-Joachim Giegel (Hg.), Kommunikation und Konsens in modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1992, S. 29. – Vgl.

ansonsten die Einwände von Dieter Henrich, „Was ist Metaphysik – was Moderne? Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas“, in: ders., Kontexte. Essays zur Philosophie in der Zeit, Frankfurt a.M. 1987. Auf die Debatte zwischen Habermas und Henrich gehe ich nicht weiter ein; vgl. dazu das treffende Resümee von Volker Gerhardt, „Metaphysik und ihre Kritik. Zur Metaphysikdebatte zwischen Jürgen Habermas und Dieter Henrich“, in: Zeitschrift für Philosophische Forschung, Bd. 42, Meisenheim/Glan 1988

132 Vgl zu diesem Problem die Unterscheidung zwischen ‘Kontextvergessenheit’ und

‘Kontextversessenheit’ bei Rainer Forst, Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt a.M. 1994, S. 18.

Wenn und insoweit die Gleichheit als ein korrektives oder regulatives Prinzip der Gerechtigkeit eingeführt und durchgesetzt werden soll, bedarf es immer schon komplementärer Formen sozialer Praxis, der Einseitigkeit, der Zumutung, des Vertrauens und damit all der (motivationalen) Verbindlichkeiten, Zugehörigkeiten oder Vorleistungen, die eine Lebensform praktisch auszeichnen. Dabei werden von Beginn an Kollisionen oder Konflikte unvermeidlich sein: Zwar funktioniert der gegenseitige Vergleich als unverzichtbare Vermittlungsagentur des Besonderen und Verschiedenen, doch was der vergleichenden und insbesondere gleichsetzenden Praxis verloren gehen muss, ist die unendliche Besonderheit ihrer jeweiligen Adressaten, ihrer jeweiligen Umstände, ihrer personen-relativen Gründe, ihrer mitunter eigentümlichen Sprache etc.

Um den Verweis auf die Unverzichtbarkeit des Partikularen und Kontextuellen richtig zu verstehen: Es geht hier nicht um die romantische Feier unerschöpflicher Einzigartigkeit; derlei muss in egalisierender Weise immer auch untergeordnet oder verdrängt werden, damit überhaupt eine Entscheidung und ein Handeln möglich wird.

Doch weckt dieser Vorgang zugleich den Bedarf nach einer komplementären Gerechtigkeit, wenn angesichts der zu achtenden Verschiedenheiten und Besonderheiten das Ungleichheitsgebot verletzt wird. Und nicht genug damit: Die Verletzung des Ungleichheitsgebots führt geradewegs zu einer Forderung nach Gerechtigkeit, die sich kaum anders als in der Sprache artikuliert, in dessen Namen, des Vergleichs und der Gleichheit nämlich, das Komplementäre abermals eine Verletzung hinzunehmen hat.

Die komplementär orientierte Gerechtigkeit geht insofern dem Gebot der Gleichheit, seiner prozeduralen oder auch institutionialisierten Form nicht einfach voraus; sie verweist keineswegs nur auf die herkünftige, lebensweltliche, sittliche, ethisch-moralische etc. Sinnressource des egalitär Gebotenen, von der es zwar parasitär lebt, dessen Partikularität es aber zunehmend nivelliert. Vielmehr erweist sich das Komplementäre als notwendige Voraussetzung und unvermeidliche Folge des egalitären Prinzips.

Dieser Zusammenhang hat nun mehrere Konsequenzen für das Gleichheitsgebot und seine Verwendung. Wie schon angedeutet, besteht die am nächsten liegende darin, dass ein Postulat der Gleichheit den Unterschied zwischen dem voraussetzt, was es in Beziehung setzt; gäbe es hingegen keinen Unterschied, dann wäre schlicht nichts zu vergleichen, die Gleichheit mithin ohne jeden Sinn und alles in unterschiedslose

Selbigkeit gehüllt. Ein solcher sinnkritischer Vorbehalt gegen die unbedingte Gleichheit mag noch trivial erscheinen. Des weiteren und etwas schwerwiegender ist die Konsequenz, dass, um eines mit dem anderen zu vergleichen oder gleichzusetzen, es einer bestimmenden Hinsicht bedarf; nicht alles ist mit allem gleich, sondern wird erst dadurch vergleichbar, dass besondere Merkmale ausgewählt werden. Diese Auswahl bedeutet immer auch einen Ausschluss, insofern das Vergleichen vieles unberücksichtigt oder gar unbemerkt lassen muss; es fällt schlicht weg, gilt nicht so viel und wird als ungleich ausgewiesen. Somit ist bereits die nur rationale Einsicht oder auch kognitive Dimension der Gleichheit mit dem Vorgang des Ausschlusses und dem Ergebnis der Ungleichheit verbunden. Dem praktischen Engagement stehen um so mehr die Bedeutung und Durchsetzung der Gleichheit in Frage, weil es ein begründetes Maß für den Ausschluss finden muss; dies wird ihm nicht zuletzt aufgrund seiner Einbindung in konkrete, dabei begrenzende Lebensformen unvermeidlich sein. Die im Namen der Gleichheit praktizierte Gerechtigkeit fällt in einem gewissen Sinne ständig hinter ihren guten Vorsatz der Gleichbehandlung oder -berechtigung zurück, und zwar unübersehbar dann, wenn es endlich zur Entscheidung in einer konkreten Situation kommt: Ein situations- und personen-relativ bestimmter Kontext kann weder als ganzer Zusammenhang noch in seiner jeweiligen Besonderheit vollständig berücksichtigt werden. Wenn es aber gleichfalls eine Forderung der Gerechtigkeit ist, dass es überhaupt zu einer Entscheidung und einem entsprechenden Handeln kommt, dann wird, vielleicht nur stillschweigend, immer auch der Ausschluss und die Ungleichheit in Kauf genommen.

Diese Überlegungen, wenn sie denn richtig sind, führen in den Worten Niklas Luhmanns „zu dem Schluß: mehr Gleichheit heißt mehr Ungleichheit. Man kann das eine nicht ohne das andere haben. Man mag allen Arbeitenden den gleichen Lohn zahlen – und vergrößert in entsprechendem Umfang die Differenz zwischen Arbeitenden und Nichtarbeitenden. Und wenn es gelänge, alle Menschen in jeder Hinsicht gleich zu behandeln? Dann würde die Ungleichheit im Verhältnis von Mensch und Nichtmensch entsprechend zunehmen; und praktisch würde jede die Gesellschaft differenzierende Beziehung zwischen dem Gesellschaftssystem und seiner Umwelt abreißen.“133

133 Niklas Luhmann, „Der Gleichheitssatz als Form und als Norm“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Bd. 77, Stuttgart 1991, S. 437.

Immerhin, so wendet Luhmann selbst ein, eine solche Schlussfolgerung kann „für jede Unterscheidung, für jede Zwei-Seiten-Form angestellt werden. [...] Der Gleichheitssatz hatte jedoch im Kontext der Gerechtigkeitslehre der Tradition eine bestimmte Prominenz, eine ausgezeichnete Stellung erhalten. Es handelt sich offenbar nicht um irgendeine Form, sondern um eine Form mit besonderen Eigenschaften.“134 In Luhmanns Perspektive fungiert die besondere Form der Gleichheit als Norm, die ein soziales System von innen her stabilisiert, indem sie dessen Geltungsbereich, wie umfänglich er auch sein mag, begrenzt: Die Präferenz für die Gleichheit eröffnet und trägt die Unterscheidung zwischen gleich und ungleich. Praktisch wird sie dadurch zu einem Prinzip der Inklusion und zu einem Prinzip der Exklusion.

Hinsichtlich der Inklusion ist die Gleichheit als Norm auf alles anwendbar, auch auf sich selbst. In dieser Hinsicht gewinnt sie die besondere Eigenschaft der Universalität: Als Schema der Selbstanwendung zwingt die Gleichheit, ausnahmslos alles einer Prüfung auszusetzen. Dabei erfüllt sie eine doppelte Funktion. Einerseits muss sie Kriterien ausbilden, um – etwa im Falle der Ressourcengleichheit, der Rechtsgleichheit, der Chancengleichheit oder der Wohlfahrtsgleichheit – die Gleichheit des Zugangs zu regeln. Diese Zugangsregeln erlauben, zwischen gleich und ungleich, also zwischen zugangsberechtigt und nicht zugangsberechtigt zu unterscheiden. Anderseits werden diese Regeln, sobald sie sich als ungeeignet erweisen, als zu grob oder zu fein, im Zuge der Selbstanwendung des Gleichheitsprinzips verändert. Auf der Grundlage seiner nach wie vor gültigen Form wird dann mit anders differenzierten Inhalten, also mit anderen Regeln und Semantiken des Zugangs, auch weiterhin zwischen gleich und ungleich unterschieden. Wichtig ist, dass es hierbei immer auch um die Erzeugung, Zulassung und Begründung von Ungleichheit geht. Dies bedeutet hinsichtlich der Exklusion, dass die Gleichheit nur die Innenseite, die Ungleichheit hingegen die Außenseite einer sozialen Praxis beschreibt. Je nach Geltungsbereich gibt es Arbeitende und

Hinsichtlich der Inklusion ist die Gleichheit als Norm auf alles anwendbar, auch auf sich selbst. In dieser Hinsicht gewinnt sie die besondere Eigenschaft der Universalität: Als Schema der Selbstanwendung zwingt die Gleichheit, ausnahmslos alles einer Prüfung auszusetzen. Dabei erfüllt sie eine doppelte Funktion. Einerseits muss sie Kriterien ausbilden, um – etwa im Falle der Ressourcengleichheit, der Rechtsgleichheit, der Chancengleichheit oder der Wohlfahrtsgleichheit – die Gleichheit des Zugangs zu regeln. Diese Zugangsregeln erlauben, zwischen gleich und ungleich, also zwischen zugangsberechtigt und nicht zugangsberechtigt zu unterscheiden. Anderseits werden diese Regeln, sobald sie sich als ungeeignet erweisen, als zu grob oder zu fein, im Zuge der Selbstanwendung des Gleichheitsprinzips verändert. Auf der Grundlage seiner nach wie vor gültigen Form wird dann mit anders differenzierten Inhalten, also mit anderen Regeln und Semantiken des Zugangs, auch weiterhin zwischen gleich und ungleich unterschieden. Wichtig ist, dass es hierbei immer auch um die Erzeugung, Zulassung und Begründung von Ungleichheit geht. Dies bedeutet hinsichtlich der Exklusion, dass die Gleichheit nur die Innenseite, die Ungleichheit hingegen die Außenseite einer sozialen Praxis beschreibt. Je nach Geltungsbereich gibt es Arbeitende und