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Die Freiheit des Handelns: Zugang, Möglichkeit, Offenheit

5 Freiheit und Verantwortung

5.1 Die Freiheit des Handelns: Zugang, Möglichkeit, Offenheit

Für gewöhnlich wird beim Begriff der Freiheit zwischen negativer und positiver Freiheit unterschieden. Daraus ergeben sich prinzipiell zwei Varianten des Freiheitsverständnisses. Die eine, negative und eher liberal orientierte findet sich exemplarisch bei Isaiah Berlin. Er begreift das menschlichen Individuum, so wie es tatsächlich mit seinen Wünschen, Leidenschaften, Einstellungen und Werten existiert, als höchste Autorität, die es vor jeder externen Autorität – etwa dem Staat, der Gesellschaft, der Gemeinschaft oder anderen Menschen – zu schützen gilt. Dabei weist Berlin sogar die Idee der Autonomie zurück, weil er sie nur im Sinne einer positiven Freiheitskonzeption, nämlich als Selbstbestimmung und -verwirklichung verstehen will.

Die Autonomie, so Berlin weiter, legt einerseits eine Art innere Spaltung der Persönlichkeit nahe, nämlich die zwischen einem rationalen und kontrollierenden Selbst sowie einem empirischen und zumal affektiven Selbst; andererseits legt sie damit eine Art objektive und absolute Wahrheit nahe, die im Namen einer ‘höheren’ rationalen Einsicht das ‘niedrigere’ Selbst der Affekte als den Ort des Irrtums und der Illusionen denunziert. Mit anderen Worten, Berlin möchte das menschliche Individuum auch vor der inneren Unterdrückung bewahrt wissen. Für ihn bleiben schließlich nur zwei Prinzipien der Freiheit übrig, „erstens, daß keine Gewalt, sondern nur Rechte absolute Geltung haben dürfen, dergestalt daß alle Menschen, gleichgültig, welche Macht über sie herrscht, ein unbedingtes Recht haben, unmenschliches Handeln zu verweigern;

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zweitens, daß es Grenzen gibt, in denen Menschen unantastbar sind, Grenzen, die nicht künstlich gezogen werden, sondern sich aus Regeln ergeben, die seit so langer Zeit und so allgemein akzeptiert werden, daß [...] es unsinnig wäre zu sagen, irgendein Gericht oder eine souveräne Körperschaft könnte sie durch ein förmliches Verfahren außer Kraft setzen.“180

Für Berlin führen diese Prinzipien negativer Freiheit zu dem Schluss, die individuelle Freiheit nicht als das einzige Ziel des Menschen anzusetzen: „Das Ausmaß der Freiheit eines Menschen oder eines Volkes, so zu leben, wie sie wollen, muss gegen die Ansprüche vieler anderer Werte abgewogen werden, [...] weil der Respekt vor den Grundsätzen der Gerechtigkeit oder das Gefühl der Beschämung angesichts einer massiv ungleichen Behandlung für die Menschen ebenso fundamental ist wie ihr Wunsch nach Freiheit.“181 Das scheint in der Tat plausibel. Doch sind mit den beiden Prinzipien – der Achtung vor dem Recht und der Menschlichkeit – zugleich zwei externe Autoritäten benannt, die um der allgemeinen Freiheit willen der individuellen Verfügung entzogen bleiben müssen. Offen bleibt nun, wie diese unverzichtbaren Autoritäten ihrerseits Geltung gegenüber dem Individuum beanspruchen sollen. Insbesondere das Recht schöpft seine Legitimität nicht aus sich selbst, sondern muss Formen gelebter Sittlichkeit immer auch voraussetzen. In diesem Sinne hebt Charles Taylor die positive Seite der Freiheit heraus: In eher kommunitaristischer Orientierung betont er die konkreten Annerkennungsverhältnisse, in denen sich, und zwar in Abhängigkeit zu äußeren Autoritäten wie der Gemeinschaft oder der öffentlichen Vernunft, die Freiheit bereits verwirklicht hat; dabei kann das „Subjekt [...] in der Frage, ob es selbst frei ist, nicht die letzte Autorität sein, denn es kann nicht die oberste Autorität sein in der Frage, ob seine Bedürfnisse authentisch sind oder nicht“.182 Andere Menschen, ob Freunde, Feinde, Eltern, Lehrer oder auch völlig Fremde spielen eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung freier Subjektivität, und „dies prinzipiell auszuschließen“, so Taylor,

„heißt prinzipiell auszuschließen, daß das Subjekt sich jemals über das, was es wirklich will, irren kann.“183 Dieser Einwand scheint nun auch plausibel, doch lässt er seinerseits

180 Isaiah Berlin, „Zwei Freiheitsbegriffe“, in: ders., Freiheit. Vier Versuche (1969), Frankfurt a.M. 1995, S. 248f.

181 Ebd., S. 253.

182 Charles Taylor, „Der Irrtum der negativen Freiheit“, in: ders., Negative Freiheit? Zur Kritik des neuzeitlichen Individualismus (1985), Frankfurt a.M. 1988, S. 125.

183 Ebd., S. 135.

unberücksichtigt, dass andere Menschen zwar das Individuum maßgeblich bestimmen, vielleicht sogar erst entstehen lassen, aber bei der Beurteilung seiner Bedürfnisse nicht über das Individuum hinausgehen können.

Die Unterscheidung zwischen dem negativen und dem positiven Begriff der Freiheit wirft also die Frage auf, ob dem menschlichen Individuum die höchste oder letzte Autorität zukommt oder eben nicht. Bei näherem Hinsehen stellt sich allerdings heraus, dass sich, um diese Frage zu beantworten, die genannte Unterscheidung zwischen den beiden Begriffen der Freiheit als wenig hilfreich erweist. Beide Begriffe setzen einander voraus: Entweder setzt das negative Freisein von äußeren wie inneren Hindernissen ein positives Verständnis der Freiheit voraus, um die Hindernisse überhaupt als Beeinträchtigung der eigenen Wirklichkeit begreifen zu können; oder das positive Freisein zur Selbstbestimmung und -verwirklichung setzt ein negatives Verständnis der Freiheit voraus, um das Selbst als ein zu erhaltendes Ziel von anderen überhaupt abgrenzen zu können.184 Vor diesem Hintergrund mag deutlich werden, dass es eines Vorverständnisses der Freiheit bedarf, um sie dann in einem negativen wie positiven Sinne näher zu bestimmen. Ohne diese, vielleicht auch nur vage Intuition geriete eine weiterführende Konzeption der Freiheit allemal haltlos. Vor allem wäre eine Freiheit des nur Positiven oder nur Negativen dem Bereich der von jedem selbst zu übernehmenden Verantwortung oder der verantwortlichen Übernahme eines fremden Anspruchs längst enthoben, so als ob sie im positiven wie im negativen Sinne beliebig darüber verfügen könnte. Die Freiheit ist jedoch kein reiner oder entleerter Dezisionismus. Sie besteht weder nur in der entscheidungs- oder handlungsenthobenen Einsicht noch in der beliebigen oder erhabenen Willkür. Sie ist aber auch nicht als

‘Tatsache des Bewusstseins’ zu verstehen, deren ursprünglich negative Bestimmung sie aller Sach- oder Naturzwänge enthoben hat und nur auf sich selbst besinnen lässt, um sich dann, warum auch immer, Schritt für Schritt in zunehmender Selbstbestimmung und -verpflichtung zur Autonomie in allgemeinverträglicher Absicht zu positivieren.

Es ist keineswegs zu bestreiten, dass es in einem negativen Sinne die Freiheit von der Lebenswelt, der gemeinschaftlichen Enge oder den gesellschaftlichen Zwängen gibt;

genauso wenig kann bezweifelt werden, dass es die positive Freiheit zur eigensinnigen Entscheidung, zur willkürlichen Tat oder auch zur verantwortlichen Handlung gibt.

Demgegenüber zeigen sich jedoch auch andere, ergänzende und grundlegendere Bedeutungen der Freiheit, die weder als negative Abgrenzung noch als positiver Entwurf zu verstehen sind. Zu nennen wäre hier (a) die situierte Freiheit in ..., die in einem Gemeinwesen vorgefunden wird, um sich selbst zu bestimmen und zu erhalten ; dieser Begriff der Freiheit verweist darauf, dass es Unwählbarkeiten oder Unverfügbarkeiten gibt, ohne die wir nicht sein könnten, was wir sind, mit denen wir aber, im Unterschied zur abstrakt-individualistischen Freiheit, unsere Handlungsmöglichkeiten nicht nur vervielfältigen oder verfeinern, sondern auch institutionalisieren. In diese Richtung weist auch (b) die autorisierende Freiheit durch ..., die uns durch ein Gemeinwesen, durch eine Institution, aber auch durch einen anderen Menschen zugestanden wird; dieser Begriff der Freiheit verweist darauf, dass es Grenzen und Bedingungen gibt, ohne die wir überhaupt nicht handeln könnten, mit denen wir uns aber nicht nur von der abstrakten Unendlichkeit der Möglichen entlasten, sondern auch auf die Umstände verlassen. Zu erinnern ist schließlich an (c) die soziale Freiheit mit ..., die uns zusammen mit anderen verbindet; dieser Begriff der Freiheit verweist darauf, dass Menschen nur in der Vielfalt des Miteinanders frei sind. Ohne die gemeinschaftliche Pluralität des Für- und Gegeneinanderseins wären nicht nur keine

‘freien Assoziationen’, mithin auch keine Überraschungen oder irgendein Neues möglich, sondern stände der vereinzelte Mensch vor seinen abstrakt-unendlichen Möglichkeiten, ohne zu wissen, was er damit eigentlich anfangen soll.

Hinsichtlich der drei zuletzt genannten Begriffe der Freiheit gibt es auch einige etymologische Hinweise. In der griechischen Antike hatte die Freiheit (eleutheria) die Bedeutung des Heimischsein. Im Zusammenhang der Versklavung und Verschleppung von Kriegsgefangenen durch die siegreichen Eroberer galten die Sklaven insofern als unfrei, als sie gezwungen waren, in der Fremde und also fern der Heimat zu leben; frei in diesem Sinne ist, wer vollberechtigt in der Heimat leben kann.185 Zur Etymologie der Freiheit gehören ferner ‘schützen’, ‘schonen’, ‘gern haben’, ‘lieben’, ‘beistehen’ und

184 Vgl. Maeve Cooke, „Negative Freiheit? Zum Problem eines postmetaphysischen Freiheitsbegriffs“, in:

Christoph Menke u. Martin Seel (Hg.), Zur Verteidigung der Vernunft gegen ihre Liebhaber, Frankfurt a.M. 1993, S. 295f.

185 Vgl. dazu Dieter Nestle, Eleutheria. Teil 1: Die Griechen, Tübingen 1967, S. 135f.

‘günstig sein’.186 Insbesondere die situierte Freiheit gehört in einen heimatschaftlichen Lebensraum, der mit dem ‘günstig sein’ und ‘sich auskennen’, aber auch dem

‘freundschaftlich’ gewogen, ‘geborgen’ oder ‘lieb’ sein näher beschrieben werden kann.

Das verweist wiederum auf die autorisierende Freiheit durch einen ‘Schutzherren’, einen Familienzusammenhang, eine Gemeinschaft oder, etwas moderner, eine Staats- und Rechtsordnung, aber auch auf die ‘emanzipierende’ Selbstbestimmung des Individuums; diese antiautoritäre Bedeutung der Freiheit geht auf die aus-der-Hand-gebende Entlassung eines jungen Mannes durch seinen Vater zurück und führt zur negativen Freiheit der individuellen Ungebundenheit, Unbelastetheit, Unbeengtheit oder Unabhängigkeit. Der Zusammenhang zwischen situierter, autorisierender und negativer Freiheit beschreibt einen Komplex, in dem sich die Freiheit schließlich zu einer gehaltvollen, herkünftig bezogenen Selbstbestimmung oder -verwirklichung positiviert.

Dies wird freilich nur unter sozialen Bedingungen, also unter den vorgefundenen Bedingungen sozialer Freiheit gelingen.

Damit sind allerdings nur erste Hinweise auf die Bedeutung der Freiheit gegeben. Etwas weiter mag die Erfahrung führen, dass es unter den modernen, also säkularen, pluralen und kontingenten Bedingungen unserer lebensweltlichen Praxis zu einer mehrfachen Wiedereinführung der Notwendigkeit, einer Notwendigkeit aus Freiheit kommt. So besteht (a) für jede Handlungsabsicht angesichts der verschiedenen Möglichkeiten ein Zwang zur Wahl; unsere Entscheidungen haben, in welcher Weise auch immer, auf die sich bietenden Möglichkeiten oder Ansprüche zu antworten, und sie sind gerade nicht frei, diese ganz aus der Welt zu schaffen. Jede Entscheidung, mag sie auch mündig und aufgeklärt sein, droht (b) von der schieren Fülle der sich ihr bietenden Möglichkeiten paralysiert zu werden; mitunter ist unser individuelles Können der Vielzahl der Wahlerfordernisse kaum gewachsen und daher angehalten, Präferenzen zu bilden, Prioritäten zu bilden, günstige Momente abzuwarten und Grenzen der Zuständigkeit zu ziehen, wenn sich seine Wahlakte nicht gegenseitig aufheben sollen. Um sich (c) tatsächlich zu vollziehen, kann das Handeln immer nur eine Möglichkeit realisieren; es trifft angesichts der verlockenden Angebote eine Festlegung und schränkt insofern auch seine Wahlfreiheit ein, zumindest muss es sich weitere Optionen ‘für später’ aufheben.

186 Vgl. dazu den Duden. Etymologie: Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, Bd. 7, Mannheim/Wien/Zürich 1963, S. 184.

Zugleich eröffnet das Handeln (d) weiterführende und neue Chancen, denen es sich wiederum nicht gänzlich wird entziehen können; zwar entlastet das Neue von den bloß abstrakten Möglichkeiten, jedoch bleibt eine gewisse Aufforderung zum

‘Weitermachen’ ebenso bestehen wie der Konflikt mit den zuvor aufgehobenen,

‘mitgeschleppten’ und ‘vertrösteten’ Möglichkeiten unvermeidlich. Schließlich zieht das Handeln (e) auch Folgen nach sich, die nicht unbedingt in der Handlungsabsicht liegen, sondern unabsehbar sind; die unbeabsichtigten Auswirkungen können zwar auch den

‘Horizont erweitern’ und im guten wie im schlechten Sinne als Erfahrung nützlich sein, jedoch unterlaufen oder schwächen sie auch die anfängliche Absicht.

In der praktischen Verschränkung von bloßer Möglichkeit und Notwendigkeit, so lässt sich schlussfolgern, realisiert sich die Freiheit. Sie steht unaufhebbar unter den endlichen Bedingungen des Handelns. Darin kann durchaus eine negative Einschränkung gesehen oder gar beklagt werden, jedoch zeigt sich in pragmatischer Perspektive das Handeln geradezu als positive Bedingung der Freiheit. So lässt die innige Verbindung zwischen dem Vollzug einer Handlung und ihrer Freiheit eine wichtige Unterscheidung zu, bei der allerdings nicht nur die eine Seite zu betonen ist, dass nämlich eine menschliche Regung deshalb ein Handeln und kein bloßer Vorgang genannt wird, weil sie in Freiheit geschieht. Denn zum anderen gilt genauso, dass von der Freiheit allein deshalb die Rede sein kann, weil sie im Handeln wirklich ist. Nicht nur ist also das Handeln ohne die Freiheit fiktiv, sondern auch die Freiheit ohne das Handeln irreal. Diese Unterscheidung müsste nun dilemmatisch erscheinen, weil sie das Handeln und die Freiheit als einander bedingend, als gegenseitig voraussetzend beschreibt, ohne das eine wie das andere auch nur im Ansatz erklären zu können. Ein personales ‘ich handle, weil ich frei bin’ und ein adverbiales ‘Ich bin frei, weil ich handle’ besagt in seiner Unvermitteltheit nicht allzu viel; es klingt, wenn nicht gezwungen, so doch etwas zögerlich und zaudernd, als ob der Sprung in die Welt noch bevorstehen würde. Dabei enthält die adverbiale Seite der Unterscheidung bereits den entscheidenden Hinweis: Dass sich die Freiheit nur handelnd verwirklicht, bedeutet nichts anderes, als dass sie immer dann in und mit einer handelnd erschlossenen Umgebung wirklich ist, wenn diese sich als zugänglich erweist.

Zugänglichkeit ist die vielleicht grundlegendste, alltäglichste Bedeutung von ‘frei’, etwa wenn wir davon sprechen, dass ein Platz, ein Weg, ein Stuhl, kurzum: irgendein Ort frei ist.187 Dabei vollzieht sich das Handeln in einem Zugang, insofern seine Umgebung oder Umwelt als bereits konstituierte, aber nicht vollständig konstituierte erschlossen wird.

Ganz im Sinne der von Maurice Merleau-Ponty in der Phänomenologie der Wahrnehmung vorgeschlagenen Unterscheidung findet die Freiheit ihren ‘Ort’ zwischen dem bereits Fertigen und dem noch Offenen einer Welt: „In der ersten Hinsicht sind wir von ihr in Anspruch genommen, in der zweiten offen für unendliche Möglichkeiten.

Doch diese Analyse bleibt noch abstrakt, denn wir existieren in beiden Verhältnissen in eins und zumal. Nie herrscht der Determinismus und nie die absolute Wahl, niemals bin ich bloß Ding und niemals nacktes Bewusstsein. Sogar noch unsere Initiativen, sogar noch von uns selbst gewählte Situationen tragen uns, einmal übernommen, in den Stand der Gnade. Der Entscheidung kommt die Allgemeinheit der ‘Rolle’ und der Situation zur Hilfe, und in diesem Austausch zwischen der Situation und dem, der sie übernimmt, sind der ‘Anteil der Situation’ und der ‘Anteil der Freiheit’ unmöglich voneinander abzugrenzen.“188 In dieser relativen Unbestimmtheit nimmt das Handeln nicht nur Anteil an der Welt, sondern hat die Welt ebenso Anteil an ihm. Als ein mit der Welt vertrautes und als ein in der Welt besondertes, als welthaltiges und zugleich innerweltliches verläuft das Handeln in einem Dazwischen, es wandelt innerhalb einer Differenz und füllt den Spielraum einer In-Differenz aus.

Für Merleau-Ponty bewegt sich jede Handlung in einem spannungsvollen Verhältnis.

Zum einen ist die Welt von den Gesetzen des Sozialen oder der Natur nicht so determiniert, dass sie in einem Akt der ‘Einsicht in die Notwendigkeit’ nur noch erlitten

187 Vgl. dazu Günter Figal, „Versuch über die Freiheit. Ontologische Überlegungen in praktischer Absicht“, in: ders., Für eine Philosophie von Freiheit und Streit. Politik – Ästhetik – Metaphysik, Stuttgart/Weimar 1994, S. 25ff.

188 Maurice Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung (1945), Berlin 1966, S. 514f. Merleau-Ponty fährt mit einem erläuternden Beispiel fort: „Man foltert einen Menschen, um ihn zum Sprechen zu bringen. Weigert er sich, die Namen und Adressen anzugeben, die man ihm entreißen will, so nicht allein auf Grund eines einsamen Entschlusses ohne jede Stütze; er fühlt sich immer noch verbunden mit seinen Kameraden und, noch stets engagiert in ihrem gemeinsamen Kampf, ist er wie unfähig, zu sprechen; oder er hat seit Wochen oder Jahren schon sich in Gedanken auf diese Prüfung vorbereitet und auf sie sein ganzes Sein gesetzt; oder endlich er will, indem er sie besteht, durch die Tat beweisen, was er seit jeher über die Freiheit gedacht und gesagt hat. Dergleichen Motive heben die Freiheit nicht auf, doch bewirken sie wenigstens, daß die Freiheit im Sein nicht ohne Stützpunkt bleibt.“ – Vgl. zu dem Verhältnis zwischen Freiheit und Determinismus auch Matthias Lederer, Was heißt es, eine Person zu sein?, Paderborn 1999.

Lederer gelangt in seiner eher an der analytischen Philosophie orientierten Arbeit zu einem Resümee, das

werden müssten; die Welt bietet sich dem handelnden Menschen nicht wie ein von ewig her bestehendes Bollwerk aus Regeln und Zwängen dar, sie überragt ihn nicht einfach wie eine erhabene Prinzipienarchitektur – und zwar aus dem Grund, dass er zuerst ein Teil dieser, seiner und der einen Welt ist. Nur in diesem umfassenden Vertrautsein-mit erfährt das menschliche Handeln angesichts der vielfältigen Hinsichten, Ansprüche, Gebote und Gesetze seine Welt wenn schon nicht als einheitlich, so doch zumindest als zusammenhängend. Der welthaltig-vertraute Umgang bildet den Horizont des Handelns.

Nicht weiter hinterfragt besteht er in der Sicherheit, der Gewandtheit und der Verlässlichkeit, kurzum: in dem faktischen Können, als das sich das Handeln vollzieht.189 In actu zeichnet sich das Handeln immer durch ein solches Können aus, nur dadurch ist es zureichend in der Welt verankert und vermag tatsächlich etwas zu bewirken. Bei allzu großer Vertrautheit droht das Handeln allerdings zu verschwinden, übrig bleiben dann Automatismen, Standards oder Routinen. Zumeist werden solche Verhaltensmuster trotzdem noch als Handlungen bezeichnet, weil sie auf Überlegungen, Absichten und Entscheidungen zurückgehen, die nun aber das ‘Handeln’ nicht mehr begleiten. Mehr noch erlernen wir zahlreiche Bewegungsabläufe – das gesamte kulturelle Set vom Essen, Sprechen und Gehen über das Schwimmen, Tanzen oder miteinander Umgehen bis zum Lesen oder, nun ja, Autofahren – so zu verinnerlichen, dass sie uns in ‘Fleisch und Blut’ übergehen und sich ohne weitere Überlegung ‘wie von selbst’ ergeben.190

Das Handeln ist also welthaltig, jedoch erschöpft es sich nicht darin, ein Können zu sein. Denn zum anderen wählt die Welt auch den Handelnden, und zwar auf eine Weise, die weder vorhersehbar noch erzwingbar ist. Etwas muss zum Handeln einladen oder auffordern: So mag das Wetter günstig sein, um spazieren zu gehen, das Lächeln eines anderen Menschen zum Kennenlernen verlocken, das unordentliche Zimmer ans

dem phänomenologischen Ansatz Merleau-Pontys durchaus entgegenkommt; vgl. dazu insb. die Ausführungen zu Peter Strawson und Ulrich Pothast auf S. 246f.

189 Vgl. auch Ernst Tugendhat, „Der Begriff der Willensfreiheit“, in: Konrad Cramer et al. (Hg.), Theorie der Subjektivität, Frankfurt a.M. 1990, S. 384; im Anschluss an Aristoteles und George Edward Moore macht Tugendhat darauf aufmerksam, „daß es einen Sinn von ‘können’ gibt, der nicht im Gegensatz zu Notwendigkeit, sondern im Gegensatz zu Unfähigkeit steht. Wir müssen dasjenige Können, das wir in der Rede von Freiheit meinen, aus dem Zusammenhang mit diesem Können verstehen, das sich auf Fähigkeit bezieht.“

190 Selbst das Denken, in welchem Sinne auch immer eine Handlung, gewiss aber eine Aktivität, muss man auf eine Weise können, über die man gedanklich niemals vollständig verfügt. Vgl. dazu die Ausführungen von Gilbert Ryle, Der Begriff des Geistes (1949), Stuttgart 1997, S. 32f.

Aufräumen mahnen oder die günstige Gelegenheit Diebe machen. Mehr oder weniger besondere Ereignisse lenken die Aufmerksamkeit auf sich, dazu gehören die unerwartete Ablehnung oder gar Feindschaft ebenso wie die überraschende Freundlichkeit;

Situationen verändern sich mitunter von einem Augenblick zum nächsten und verlangen nach einer steten Neuorientierung; oder sie gestalten sich so vielfältig und wechselhaft, dass schließlich nur noch Reflexe, Panik oder Resignation übrig bleiben – was auch passiert und wie es auch kommt, fordern die Umstände des Handelns immer auch eine

Situationen verändern sich mitunter von einem Augenblick zum nächsten und verlangen nach einer steten Neuorientierung; oder sie gestalten sich so vielfältig und wechselhaft, dass schließlich nur noch Reflexe, Panik oder Resignation übrig bleiben – was auch passiert und wie es auch kommt, fordern die Umstände des Handelns immer auch eine